«Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden»

Man kann es nur mit Scham und Trauer feststellen, dass Antisemitismus und Judenfeindlichkeit aus unserem Kulturkreis keineswegs verbannt sind. Im Gegenteil: die Zahl der Angriffe auf jüdische Mitbürgerinnen und -bürger und rechtsextremistische Straftaten nehmen zu. Sich dagegen zu wenden und dagegen zu kämpfen, ist eine Herausforderung für alle, besonders auch für die Christen in Deutschland. Eine Form der Auseinandersetzung ist die detaillierte Erinnerung, die schmerzhaft ist. In diesem Zusammenhang ist die hier (wiedergelesene) Untersuchung zu nennen. Der vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal erschienene Band greift einen zentralen Aspekt der Judenverfolgung auf, indem er sich dem «Profil» der Täter widmet, die an der massenhaften Erschießung und Vernichtung von Juden beteiligt waren. Der Verfasser Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, greift mit seinem Buch keineswegs nur ein für die Erklärung der Vergangenheit wichtiges Thema auf. Das zeigt sich etwa darin, dass der Autor – trotz der bleibenden Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen – mit Vietnam, Ruanda und Jugoslawien auch jüngere Fälle von Völkermord betrachtet.

Die Ergebnisse der Untersuchung

Ein erstes Ergebnis der Untersuchung, das die Anfangskapitel prägt, besteht darin, dass diejenigen, die die gezielte Vernichtung von Juden und anderen Volksgruppen geplant und durchgeführt haben, keineswegs psychisch besonders auffällig, sondern ‹normal› waren, also genau dem Bild entsprechen, wie wir uns selbst sehen. Welzer zitiert den Holocaust-Überlebenden Primo Levi: «Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.» (١٢) Mit dem massenhaften Töten verbinden diese Menschen «in aller Regel einen partikularen Sinn, und die Gewalt- und Tötungsvorgänge, um die es in diesem Buch geht, wurden von ganz gewöhnlichen Menschen, aus normalen Familien mit normalen Problemen […] ausgeführt.» (42) Partikularer Sinn heißt hier, dass sie diese Sinngebung in das Gesamt ihrer Lebensführung integrieren können, ohne sich in irgendeiner Weise schuldig zu fühlen.

Detailliert wird auf die Ermordung der Juden von Kiew in der Schlucht von Babij Jar von 1941 eingegangen, die «Handelnden» und die Handlungsabläufe werden ausführlich beschrieben. Es zeigt sich gerade bei der Judenvernichtung, dass dies ein Prozess war, dessen Handlungsabläufe immer mehr perfektioniert wurden. Mit dem Töten verbunden war, dass die einzelnen, die töteten, Teile eines Interaktionsgefüges in ihrer Gruppe waren. Sie orientierten sich immer auch am Verhalten der anderen in der Gruppe (vgl. 86f ), so dass Entscheidungen in der Gruppe eine sich gegenseitig verstärkende Funktion hatten. «Menschliches Handeln ist […] von außen betrachtet oft höchst widersprüchlich, gar paradox, weil es sich an inneren Konsistenz- und Plausibilitätskriterien orientiert, die sich wiederum situativ verändern können.» (87/88) Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört ebenfalls, dass z.B. ein junger Soldat in einem Feldpostbrief an seine Eltern genau über die Erschießungen von Juden berichtet, dies also als nichts Außergewöhnliches, sondern Normales betrachtet. Zu Hause in Wien ist es genau umgekehrt. Dort sorgt es für beträchtliches Aufsehen, so dass die Wehrmachtspropaganda darauf hinwirkt, dass solche Briefe nicht mehr geschrieben werden.

Der Verfasser geht unter der Überschrift «Initiationen zum Töten» näher auf das Polizeibataillon 101 mit knapp 500 Angehörigen ein (vgl. 113–118). Nach Schätzungen haben 80–90% der Polizisten Juden getötet. Man könne auf Grund von Untersuchungen nicht sagen, dass es sich hier um besonders gewaltbereite Polizisten gehandelt habe und dennoch haben Männer aus diesem Bataillon rund 38 000 Menschen ermordet und weitere 45 000 nach Treblinka deportiert. Das Besondere an diesem Bataillon war, dass der Kommandeur Trapp nach Darstellung des ersten geplanten Mordeinsatzes den Männern ausdrücklich das Recht eingeräumt habe, von diesem Einsatz befreit zu werden. Sie müssten hervortreten, wenn sie dies wollten. Nach Berichten machten 10 bis 12 Polizisten davon Gebrauch. Als eine Erklärung wird genannt, dass Trapp selbst unter dem Befehl litt und dies gegenüber seinem Bataillon zum Ausdruck brachte. Warum führte die überwiegende Zahl des Bataillons dennoch den Befehl aus? Dem Kommandeur gegenüber wollte man nicht illoyal sein und Nichtmitmachen bedeutete, die Exekutionen den anderen aufzubürden. Gerade in militärischen Zusammenhängen spielt der «Korpsgeist» (115) eine wichtige Rolle. Ein solches Verhalten, d.h. vor der Gruppe herauszutreten, kann als überheblich und feige interpretiert werden und isoliert zugleich von den anderen. Die Konsequenzen für ein abweichendes Verhalten sind in einer solchen Situation kaum abzuschätzen, zumal jeder Angehörige des Bataillons davon ausgehen muss, auf längere Zeit mit den anderen zusammen zu sein. Ohnehin sieht jeder, wie der andere sich verhält, und für die meisten scheint ein Mitmachen bei den Erschießungen kein relevantes Problem zu sein. «Weiterhin könnte man jetzt noch die als normative Hintergrundvoraussetzung präsente nationalsozialistische Moral berücksichtigen, die es als normal oder gar notwendig erscheinen ließ, Juden, Partisanen etc. zu vernichten, um Schaden von der eigenen Wir-Gruppe abzuwenden.» (116). Kommandeur Trapp erinnert auch an die «Lieben daheim», die es zu schützen gelte. Auf diese zentrale Begründung wird am Schluss noch einmal hingewiesen: «Die Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Projekts liegt in der gesellschaftlichen Umsetzung der Behauptung, dass Menschen radikal und unüberbrückbar ungleich seien.» (249)

Welzer geht dann nach der Rede von Kommandeur Trapp auf eine Übung in einem Universitätsseminar ein, indem er im Sinne des pro und contra die Argumente auflisten lässt, die für ein Verbleiben in der Gruppe und die für ein Heraustreten aus der Gruppe sprechen. Während die Pro-Argumente für ein Verbleiben in der Gruppe auf der linken Seite der Tafel sehr schnell gefunden wurden und mit den genannten übereinstimmten, gab es auf der rechten Seite «nur drei Einträge: eine universalistische, philosophisch begründete Ethik, die das Töten grundsätzlich ablehnt, und eine christlich geprägte Moral, die das Töten verbietet, drittens so etwas wie eine antizipierte Empathie den Opfern gegenüber – und nach allem, was man weiß, sind derlei Haltungen und Orientierungen nur in seltenen Ausnahmefällen geeignet, gewaltsame Handlungen zu inhibieren, weshalb es übrigens auch im Zivilleben vorkommen soll, dass Pastoren ihre Ehefrauen erschlagen. Das Vorhandensein ethischer Grundüberzeugungen schließt ihre Verletzung nicht aus.» (117)

Was hier vom Polizeibataillon 101 beschrieben wird, scheint mir die wichtigsten Gründe zu benennen, warum «aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.» Zugleich werden in den Gegenargumenten, in denen die Kraft enthalten ist, sich diesem Apell zum Morden zu verweigern, wichtige Hinweise für den heutigen Umgang mit Rassismus, Antisemitismus und damit verbundener Gewalt- und Tötungsbereitschaft gegeben. Auf diese Punkte will ich am Ende noch einmal eingehen, und jetzt noch einige Aspekte der Untersuchung in Erinnerung rufen, um sie in unserem Gedächtnis wach zu halten.

Da ist die Ausweitung des Erschießungsbefehls zu nennen: erst waren es männliche Juden, dann jüdische Frauen und Kinder. Hinzu kamen kranke Menschen, die als «unnütze» Esser galten, und deren Leben «nicht lebenswert» war. Begünstigt wurde dies dadurch, dass ein Befehl Himmlers zur Erschießung aller Juden vorlag, die konkrete Umsetzung war aber nicht im Einzelnen geregelt. Hier musste es auf den nachfolgenden Ebenen Absprachen geben. Dies führt dazu, «dass eine gemeinschaftliche Entscheidungssituation Verantwortlichkeit nicht stärkt, sondern fragmentiert.» (121) Dazu kam, dass die Massenerschießungen immer «organisierter» und durch die Anwesenheit von Zuschauern immer mehr eine Normalität suggeriert wurde. In den Berichten werden die Ausführenden als «Schützen, Waffenwarte, ‹Zuführer› am Grubenrand» genannt. Was in den automatisierten Vorgängen auffällt, ist die «völlige Gesichtslosigkeit der Opfer, ihre personale Abwesenheit…; sie treten hier nur noch als Objekte in einem Verarbeitungsprozess auf.» (149) Für das Selbstbild der handelnden Akteure war wichtig, dass ihre Befehlsausführung in einem geordneten und nicht chaotischen Rahmen verlief. Dies entsprach der «Ethik der Anständigkeit,» wie sie Heinrich Himmler in seiner Posener Rede vom 4. Oktober 1943 vor den SS Generälen formuliert hat, die einerseits die rücksichtslose Vernichtung der europäischen Juden forderte, andererseits aber im Rahmen der Massenerschießungen vom einzelnen Täter ein bestimmtes, kontrolliertes Verhalten erwartete. Zur Erinnerung: Im Oktober 1943 galt der 2. Weltkrieg aus militärischer Sicht bereits als entschieden und die Niederlage der Deutschen nur noch als eine Frage der Zeit. Und dennoch oder gerade jetzt wurde mit Akribie die Vernichtung der Juden vorangetrieben.

Die Täter ließen sich durch nichts abhalten, nicht durch Kinder und Jugendliche, die sie anblickten und fragten, warum sie sterben müssten. Das absolut Verbrecherische ihres Tuns, dass sie zu Kindesmördern geworden sind, bleibt ausgeblendet. Die normative Perspektive stellt sich unter anderer Voraussetzung. Die Frage, die am Anfang von einigen Akteuren gestellt wurde «Töten – ja oder nein» verändert sich nach einer positiven Antwort. «Das normative Problem (verschiebt sich) auf Fragen des ‹besseren› oder ‹schlechteren›, ‹humaneren› oder ‹inhumaneren› Tötens.» (187) Ein Gewöhnungseffekt ist zu konstatieren. Aus den späteren Vernehmungsprotokollen ist zu entnehmen, dass es im Einzelnen für die Soldaten durchaus die Möglichkeit gab, Juden und andere Menschen zu retten. Eine Untersuchung geht davon aus, «dass es von 19 Millionen Wehrmachtsangehörigen etwa einhundert waren, die sich bei bestimmten Gelegenheiten dafür entschieden, Menschen zu helfen, statt sie zu töten oder ihrer Ermordung auszuliefern.» (192) Allerdings «finden sich in den Vernehmungen mit einer Ausnahme keine belegbaren Hilfeleistungen.» (197)

Zum Schluss seiner Analyse der «tödlichen Situationen» (76–219) geht der Verfasser auf die «psychischen Belastungen» (212–219) ein. Erschießungen sind seit der zweiten Hälfte des Jahres 1941 unter den Angehörigen der Polizeibataillone, der beteiligten Wehrmachtseinheiten, des SD (Sicherheitsdienst der NSDAP) und der SS immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Als ein Grund «für diese mörderische Machbarkeit» liegt in einer «höchst effizienten Befehlsstruktur» (212/213). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht alles bis ins Einzelne festlegt, sondern sich den jeweiligen Bedürfnissen anpasst. Zugleich werden Vorschläge für zukünftige Einsatze gemacht. So schreibt der Führer des Einsatzkommandos 3, der für die Erschießung von 137 346 Juden in Litauen verantwortlich ist, dass mit der Sterilisation von Arbeitsjuden zu beginnen sei. Sollte eine Jüdin trotzdem schwanger werden, ist sie umzubringen (213). Die völlige Vernichtung der Juden ist das Ziel dieser und anderer «Vorschläge,» die immer perfektionierter durchgeführt wurden, wie z.B. die Tötungstechniken mit Abgasen eines Dieselaggregats in Treblinka oder das Blausäuregift Zyklon B in Ausschwitz zeigen. «Die Praxis des Vernichtungsprozesses stellt eine Entwicklung vom Handwerk zur industriellen Arbeit dar.» (215) Innerhalb des vorgegebenen Rahmens, in dem die Täter nicht unterschiedlichen Rollen wie im sonstigen Alltag ausgesetzt waren, wurden die massenhaften Erschießungen nicht mehr hinterfragt, sondern es wurde nach pragmatischen Lösungen gesucht, wenn durch die Erschießungen neue Probleme auftraten: so z.B. der Umgang mit den Leichen, als die deutschen Soldaten sich auf dem Rückzug befanden. Psychische Probleme werden erst dann sichtbar, wenn ein Mittäter an Erschießungen von jüdischen Kindern später bei einem Lehrgang für Polizeioffiziere mit der Erfahrung konfrontiert wird, dass der Ausbildungsleiter gegen diese Aktionen war, mit der Folge, dass der, der an den Erschießungen mitgewirkt hat, vom weiteren Lehrgang ausgeschlossen wird. «Zusammenfassend lässt sich eine erstaunliche psychologische Folgenlosigkeit der ausgeübten extremen Gewalt konstatieren – Schuldgefühle sind in den Aussagen an keiner Stelle zu identifizieren, Empathie gegenüber einzelnen Opfern nur in höchst seltenen Einzelfällen, gegenüber Kindern gelegentlich, aber ermordet wurden sie trotzdem.» (218) Ganz im Gegenteil sahen sich die Täter als Opfer, da sie sich gegen ihren Willen und ihr Empfinden zu Taten gezwungen sahen, die sie nicht wollten. Auch hier scheint etwas von der «Ethik der Anständigkeit» durch. Das, was eingangs festgestellt wurde, dass die Täter psychologisch keineswegs auffällig, sondern normal waren, läßt sich auch hier wieder feststellen, wobei die psychologische Folgenlosigkeit für den Leser heute nicht leicht nachzuvollziehen ist.

Ethische Folgerungen

Die genannten drei Begründungsmuster für die Befehlsverweigerung bieten wichtige Ansatzpunkte, um sich aktueller Herausforderungen und Gefahren bewusst zu werden. Wenn als erstes auf eine «universalistische, philosophische Ethik» abgehoben wird, die «das Töten grundsätzlich ablehnt» (117), so verweist sie auf den Punkt, wo die Quellen einer solchen universalistischen philosophischen Ethik liegen. Sie scheinen mir heute in den Menschenrechten begründet zu sein, an deren erster Stelle das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit stehen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, Artikel 3 formuliert ist, und in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 Artikel 2 (2) Eingang gefunden hat: «Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.» Dasselbe gilt auch für Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die sich in Artikel 3 des Grundgesetzes widerspiegelt: «Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.»

Diese Texte, die angesichts des Grauens der nationalsozialistischen Herrschaft und des Völkermords an den Juden formuliert worden sind, und die lange als selbstverständlich galten, gilt es immer wieder in Erinnerung zu rufen, zumal die Zahl der Zeitzeugen immer weniger werden und sich in der Öffentlichkeit die Stimmen mehren, die den Holocaust verharmlosen und antisemitische Vorurteile schüren. Dass antisemitisch motivierte Gewalttaten zunehmen, ist traurige und erschütternde Realität.

Eine universalistische Ethik muss vor allem eine «Ethik der Menschenrechte» (Konrad Hilpert) sein, zu der neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und Ablehnung jeglicher Diskriminierung, wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschrieben, auch gehören: der Schutz der Privatsphäre sowie von Ehe und Familie, Religions-, Gewissens-, Meinungs- und Pressefreiheit, die Freiheit des Eigentums, der Berufstätigkeit und das Recht auf Freizügigkeit. Außerdem geht es um die Einklagbarkeit von Rechten im Rahmen der Justiz und die Gewährleistung des individuellen Rechtsschutzes. Gerade diese hier genannten Abwehrrechte gegenüber dem Staat und anderen gesellschaftlichen Akteuren gilt es zu bewahren, weiterzuentwickeln und sie als Bezugspunkt in Geltung zu halten – eine Aufgabe, die «unerschöpflich» zu sein scheint, aber die deshalb immer wieder neu angegangen werden muss.

Als zweites wird auf die «christlich geprägte Moral hingewiesen», «die das Töten verbietet.» (117) Hier wird ein zentraler Punkt der christlichen Ethik angesprochen, die ausgehend vom biblischen Dekalog (Ex 20, 2–17 und Dtn 5, 6–21), der sich später in den Zehn Geboten der katechetischen Überlieferung der Kirche niederschlug, das Verbot einen «Unschuldigen zu töten» (Papst Johannes Paul II, Enzyklika Evangelium vitae, Nr. 57) nachdrücklich bekräftigt. Das Tötungsverbot von Unschuldigen ist die eine Seite. Auf der anderen Seite gilt es unseren Mitmenschen in den Blick zu nehmen, wie es im Gebot der Nächstenliebe zum Ausdruck kommt, das aus christlicher Perspektive ohne das Gebot der Gottes- und Selbstliebe nicht möglich ist. Angesichts der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft sind als «Vorboten» der Gewalt bis hin zum Töten Unschuldiger die Verbreitung und das Schüren von Hass zu nennen, das sich in vielfältiger Form u.a. in den Sozialen Medien zeigt. Damit eng zusammen hängt der dritte genannte Aspekt, der bei Welzer «eine antizipierte Empathie den Opfern gegenüber» (117) genannt wird. Eine Verhaltensweise bei den Erschießungen war ja gerade, die Opfer zu anonymisieren, sie gesichtslos zu machen. Irritationen im Ablauf der Massenerschießungen gab es immer dann, wenn sich plötzlich ein Opfer direkt an einen Täter wandte. Auch das Selbstverständnis der Täter wurde angefragt, wenn sie um Hilfe gebeten wurden, sie zu verschonen. Das Ausblenden der Opferperspektive gehört zu den wesentlichen Kennzeichen der Exekutionen. Hier scheinen mir zwei eng miteinander verbundene Perspektiven besonders wichtig, die diese Empathie zum Ausdruck bringen, und die helfen können, das innere Immunsystem zu stärken. Zum einen ist es der in der heutigen Menschenrechtsdiskussion immer wieder zu Recht eingebrachte Begriff der Vulnerabilität, der auf die Verletzlichkeit der Betroffenen abhebt, die angegriffen, aber sich selbst nicht wehren können und die auf Hilfe von anderen angewiesen sind. Zum anderen ist es der Blick für den konkreten Anderen, die Alterität, wie der große jüdische Philosoph Emmanuel Levinas (1906–1995) sie eindringlich formuliert hat. Dieses Gegenteil der Gesichtslosigkeit hat man im Anschluss an Levinas eine «Angesichtssache» genannt (Andreas-P. Alkofer). Die «antizipierte Empathie den Opfern gegenüber» wird durch diese Form des sittlichen Handelns zum Ausdruck gebracht.

Ohne die drei Aspekte hier näher ausführen zu können, bilden sie den Kontrast zum Verhalten der «normalen Menschen,» die zu «Massenmördern» geworden sind. Jedoch, und auch darauf wird zu Recht hingewiesen, schließt «das Vorhandensein ethischer Grundüberzeugungen […] ihre Verletzung nicht aus.» (117) Das alles kann aus heutiger Sicht nur zu Demut und Bescheidenheit im Blick auf das mögliche eigene Verhalten unter den damaligen Umständen anleiten und zur Hoffnung, gegenwärtigen und zukünftigen Versuchungen gegenüber gewappnet zu sein.

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