Zweites Vatikanisches KonzilDas bewegte Konzil

Das Zweite Vatikanische Konzil, das vor fünfzig Jahren begonnen hat, stellte die Gottesfreundschaft in den Mittelpunkt und fand so zur ökumenischen Weite des Glaubens zurück, zu einem wirklichen "Katholischsein".

Unvergessen ist immer noch der Paukenschlag damals, vor fünfzig Jahren. Konzilien kannten wir nur aus der fernen Geschichte. Dass derlei jetzt möglich sein sollte, war nicht vorstellbar. Und dass ein korpulenter, gemütlicher Greis zum „Sprung nach vorn“ auffordert und die Fenster der muffig gewordenen Kirchenräume zur Lüftung aufreißen will, war ebenfalls unglaublich. Aber so ist das mit dem Geistwirken in der Geschichte von Menschen, die sich ergreifen lassen wie der selige Angelo Roncalli. Noch auf dem Sterbebett, mitten im Zweiten Vatikanischen Konzil, brachte Papst Johannes XXIII. seine Überzeugung und Vision dankbar ins Wort: „Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenige der katholischen Kirche zu verteidigen … Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen.“

Das Konzil als Anfang. Nichts von Klage über diese gottlose Welt, keine Verurteilung anderer Positionen - außer Abtreibung und Atomkrieg im Dokument über die „Kirche in der Welt von heute“. Stattdessen ging es um die Evangelisierung der Kirche, der Christen selbst, denn Gott will das Heil und Glück aller Menschen, er ist kein Kirchen-„Stammes“-Gott. Er sucht Mit-Liebende heute. Das ist das Evangelium. Das ist Einladung und Herausforderung, in jeder Epoche und jeden Tag neu.

Das Ereignis

Mehr als 2500 Konzilsväter kamen in Rom von 1962 bis 1965 zusammen. Jeweils im Herbst, zwischen Oktober und Dezember, gab es insgesamt vier mehrwöchige Sitzungsperioden. Die 178 Generalkongregationen, also Vollversammlungen, begannen stets mit dem alten Gebet des Isidor von Sevilla: „Hier sind wir, Herr, Heiliger Geist. Hier sind wir mit ungeheuren Sünden beladen, doch in Deinem Namen ausdrücklich versammelt …“ Schon dies war ein Zeugnis für jenen Reformwillen, der in der Vergebungsbitte des Konzilsvaters Karol Woityla und späteren Papstes wegen der Sünden (in) der Kirche viele Jahre später einen epochalen Ausdruck finden sollte. 67 vorbereitete „Schemata“, also Grundlagentexte für Beschlussvorlagen, wurden lebhaft diskutiert, verändert, bejaht oder abgelehnt. Eine konfliktfähige, aufrichtige und zielbewusste Dialogkultur, von der man heutzutage oft nur träumen kann. Das schriftliche Ergebnis dieser gewaltigen Arbeitsleistung - mit über 600 Fachleuten als Konzilsberater - waren sechzehn Texte, mit großer Mehrheit gemeinsam verabschiedet und vom Papst in Kraft gesetzt: vier Konstitutionen, acht Dekrete, drei Erklärungen. Von besonderer Bedeutung sind dabei jene zwei Dokumente, für die es gar keine Vorlage gab und die erst auf dem Konzil „erfunden“ wurden: die Pastoralkonstitution über „Die Kirche in der Welt von heute“ und „Die Erklärung über die Religionsfreiheit“. In ihnen zeigt sich besonders, welcher Geist tatsächlich in den Buchstaben aller Konzilstexte steckt.

Und zu den Texten kommen die Bilder, prägend gerade sie: die riesige Menge der Bischöfe vieler Kulturen und Rassen, auch nichtlateinische und orthodoxe. Gerade in Rom wird deutlich, dass die Kirche mehr ist als die römische: Armenier und Melkiten melden sich zu Wort. Lutheraner sind als gefragte Gäste dabei. Frauen gewinnen Platz in der Männerkirche. Paul VI. umarmt in dieser Zeit bei einem Jerusalem-Besuch Patriarch Athenagoras aus Konstantinopel. Eine wahrhaft ökumenische Internationale des christlichen Glaubens wird sichtbar. Das Konzil ist also eine gigantische Anstrengung zur Standortbestimmung, Erneuerung und Öffnung, weit über den Binnenraum von Kirche hinaus. Kaum eine Weltorganisation hat ihren Mitgliedern so schnell und trotz aller Vorbereitung so unvorbereitet eine derart einschneidende Wende zugemutet. Man darf durchaus von einer Art Kulturrevolution sprechen. Entsprechend gibt es seitdem auch Streit über das Konzil und seine Folgen.

Das Problem

Aus der Sicht der Menschen des Jahres 2012 ist das Weltereignis Konzil Vergangenheit, noch weiter weg als die Mondlandung. Die Texte sind den heute Lebenden weitgehend unbekannt. Verhärtete Fronten haben sich auch zwischen den Konzilserben gebildet. Die einen teilen die Kirchengeschichte ein in „vor“ oder „danach“. Sie vergessen die vorkonziliaren Schätze. Andere ebnen das Konzil in eine überzeitliche Wahrheitsgeschichte ein oder betrachten es gar als Betriebsunfall und Zeitbombe. Überall ist das Gelände spürbar besetzt, bisweilen auch durch Unterstellungen und Vorurteile vermint. „Ihr seid die Konzilsgeneration“, höre ich oft. Das heißt dann im selben Atemzug oftmals gleich: Ihr seid „die Achtundsechziger“, und heute sei alles anders. Doch es geht nicht um chronologische Daten oder biografische Rhythmen, vielmehr um die bleibende Mitte des Glaubens und um deren zeitgemäße Vermittlung. Was also ist der tiefere Grund für die umstrittene, polarisierende, sogar spaltende Kraft der konziliaren Texte?

Diese Schwierigkeit harmonisierend wegzureden, kann kein Weg sein. Denn das Konzil hat nachweislich das Gesicht der Kirche verändert. Sonst gäbe es auch den Konflikt der Interpretationen nicht. Den „konziliaren Prozess“ zu dramatisieren und - bedauernd oder begrüßend - gleich von einem Bruch mit der Tradition zu reden, ist genauso irreführend. Denn das letzte Konzil gehört natürlich in den Gesamtzusammenhang einer 2000-jährigen Geschichte. Seine Texte betonen das. Papst Benedikt XVI. wünscht sich für den Umgang mit dem Konzil eine „Hermeneutik der Reform, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche … unter Wahrung der Kontinuität“, also eine Lesart und Verstehenslehre, die den Gedanken der Reform in Verbindung sieht mit der ganzen Geschichte der Kirche. Das freilich ist so etwas wie eine Quadratur des Kreises, eine ständige Herausforderung. Denn jedes Konzil ist in seinen Texten ein großer Kompromiss, der dann in der Folgezeit immer verschiedenen Deutungsrichtungen ausgesetzt bleibt. So waren auch die letzten fünfzig Jahre geprägt von dieser Geschichte verschiedener Interpretationen und Traditionen - von der Befreiungstheologie bis zur Beharrung auf der tridentinischen Liturgie. Immer kommen dabei nichttheologische Faktoren ins Spiel. Angst und Macht zum Beispiel. Es gibt Gewinner und Verlierer, die entsprechend ihre Meinungen behaupten oder wieder zur Geltung bringen wollen. Besonders folgenreich erscheint, dass im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 Positionen der kleinen konziliaren Minderheit universalkirchlich festgeschrieben wurden, und manche heute berufen sich gerne darauf.

Dennoch bleibt unstrittig, dass sich mit dem Konzil sehr viel verändert hat - angefangen in der kirchlichen Gesamtstimmung, unmittelbar erfahrbar zum Beispiel in der Volkssprache der Liturgie. Man erinnere sich nur, wie der große Papst Paul VI. die Pharaonenhaube des Gottkönigs, die Tiara des Papstes, ins Museum schob - ein vielsagendes Symbol für ein verändertes Selbstverständnis des Papstamts. Er war ja auch der Erste, der aus den Verliesen des Vatikans aufbrach und der Vision seines Vorgängers von der Weltkirche sichtbare Verwirklichungen folgen ließ, etwa in der Rede vor den Vereinten Nationen oder in den ersten kirchlichen Erklärungen der Menschenrechte. Eine wichtige Frage dieses Papstes war immer: Was macht bei euch die Jugend? Diese Option für die Jugend und für die Armen gehört in die Mitte des Konzilserbes. Die Gemeinsamkeit des Glaubens aller Getauften als Volk Gottes unterwegs rückte ganz neu in den Blick. Das bedeutet Abschied von der Fixierung auf den Papst und die „da oben“. Wie anders wäre die Kirchengeschichte der letzten fünfzig Jahre verlaufen ohne das Konzil!

Im Zentrum: Gottesfreundschaft

Zwei der Konstitutionen beschäftigen sich unmittelbar mit Wesen und Auftrag der Kirche heute, zwei mit ihren Quellen und Normen. Beides hängt engstens zusammen. Im Vielerlei der Glaubensaussagen und Überzeugungen sollte die innere Mitte klarer werden, die „Hierarchie der Wahrheiten“ und „der Verbund der Glaubensgeheimnisse“. Groß war und ist ja die Gefahr, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, und im Vielerlei des Kirchlichen nicht die Mitte des Christlichen. Deshalb kommt der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung eine besondere und noch nicht genügend gewürdigte Bedeutung zu. Werden hier doch neu Bibel und Glaubensüberlieferung in den Mittelpunkt gestellt. Nach Jahrhunderten katholischer Bibelvergessenheit - bis hin zum Verbot für Laien, die Bibel zu lesen! - wurde nun „die lebendige Stimme des Evangeliums“ neu zu Gehör gebracht, nicht ohne das kreative Gespräch mit den Kirchen der Reformation und ihrer Theologien. „Gott hat es in seinem Erbarmen gefallen, mit den Menschen zu sprechen wie mit Freunden und sie zur Gemeinschaft mit sich einzuladen.“

Das ist die Mitte des Ganzen. Nicht Machtausübung oder gar Zwang, nicht Bevormundung oder Indoktrination, sondern Freundschaft - nicht „nur“ mit den Christen oder gar den Katholiken, sondern mit allen Menschen. Der universale Heilwille Gottes, seine unfassbare Geduld und Treue, sein unermüdlicher Schöpfungs- und Erlösungswille - dieser Wärmestrom als ständiges Geburtsdatum von Kirche und Christsein fließt durch alle Konzilstexte. Gott ist kein stummes Schicksal, kein himmlischer Diktator, auch kein oberster Indoktrinator. Er spricht, und er ist vielversprechend. Was er mitteilt, ist: er selbst, werbende Liebe. Diese Perspektive der Gottesfreundschaft, die über Jahrhunderte hinweg in der Mystik zentral war und die in manchen Kirchenliedern wenigstens erhalten blieb, ist heutzutage von größter Bedeutung. Ist die faktische Kirche, schon im Umgang ihrer Mitglieder miteinander, ein Ort der Gottesfreundschaft mit den Menschen?

Entsprechend wichtig ist die Liturgiekon­stitution. Im Gottesdienst - keineswegs nur sonntags und in Kirchengebäuden - sind der suchende Gott und der gesuchte Mensch miteinander im Dialog. Hier wird die lebendige Stimme des Evangeliums hörbar, Gottes Wort und der Menschen Antwort. Von hier aus verwirklicht sich das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden. Die Würde der Getauften und Gefirmten, ihre aktive Beteiligung und Verantwortung bestätigen sich im liturgischen Feiern. Hier liegen die Quellen, aus denen sich Kirche ständig neu aufbauen lässt.

Das wird in den beiden anderen Konstitutionen über die Kirche eigens zum Thema. Die dogmatische Konstitution „Lumen gentium“ betrachtet das Geheimnis der Kirche nach innen - vor allem als wanderndes Volk Gottes, als Gemeinschaft (Communio) der Glaubenden mit Sakramenten und Ämtern, mit allen ihren Lebensvollzügen. Die hierarchische Gemeinschaft soll in allem kollegial und synodal sein. Dieser strukturelle Innenaspekt genügte dem Konzil jedoch nicht. Daher entstand eine zweite Kirchenkonstitution über die Kirche in der Welt von heute mit dem epochalen Anfang „Gaudium et spes“ - „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi, und es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen seinen Widerhall fände.“ Der Blick der Kirche nach innen und der Blick nach außen sind seitdem untrennbar verbunden, denn Gott ist Schöpfer und Erlöser der Welt, und deshalb spricht er auch in den Zeichen der Zeit. Kirche kann und will sich nicht länger „nur unter sich“ verstehen. Denn sie ist Instrument (Werkzeug) und Sakrament der Einheit aller Menschen mit Gott und untereinander. Sie bezeugt keinen Kirchengott, sondern den lebendigen Schöpfer der Welt, den Gott allen Lebens und den Vollender von allem in allem.

Diese Wechselseitigkeit von Innen und Außen ist das eigentlich Revolutionäre und Herausfordernde dieses Konzils. Auf diesem Feld spielen sich auch alle Konflikte um die Auslegung des Konzils ab. Gerade hier weist die heilige Unruhe des Ganzen auf das Geheimnis der Gottesfreundschaft in Christus hin. Denn „er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Fleischwerdung mit jedem Menschen gewissermaßen vereinigt“. Was in Jesus Christus schon ein für alle Mal „geglückt“ ist, das soll weltweit für jeden Menschen und die Menschheit im Ganzen gelingen: Einheit mit Gott und untereinander, heilige Kommunion. Die Kirche erkennt und bekennt, dass ihr einziger Sinn und Auftrag der ist, das Geheimnis der Gottesfreundschaft zu bezeugen und zu verwirklichen - „für euch und für alle“. Die Kirche will und soll endlich werden, was sie ist: katholisch im Sinne des Glaubensbekenntnisses: alle Welt und jeden Menschen ins Geheimnis Gottes rufend, in das Abenteuer der Gottesfreundschaft. Madeleine Delbrêl, eine der wenigen Konzilsmütter, sagte es so: „Lernen wir, dass es nur eine Liebe gibt: Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die Welt; wer in seinem Herzen das Gewicht Gottes aufnimmt, empfängt auch das Gewicht der Welt.“

Dementsprechend müssen alle Konzilstexte gelesen und umgesetzt werden. Im Ökumenismus-Dekret zum Beispiel wird der universale Heilswille Gottes konkret im Willen, das gemeinsame Christ-Sein als Geschenk und Bereicherung anzunehmen und jede Form von Spaltung - bei Bewahrung kostbarer Besonderheiten - zu überwinden. Diese wahrhaft ökumenische, diese katholische Ausrichtung jenseits des Konfessionalistischen reicht über den christlichen Raum hinaus und entdeckt in Israel und den Juden die älteren Brüder und Schwestern, wie Johannes Paul II. bei seinem historischen Besuch in der Synagoge in Rom später sagen wird.

Ansatzweise ist die abrahamische Geschwisterlichkeit mit dem Islam bereits in den Blick genommen. Der Dialog mit allen Religionen soll vorankommen, wie das Friedensgebet in Assisi beispielhaft zeigte. Einen förmlich epochalen Einschnitt markiert dafür die Erklärung über die Religionsfreiheit. Denn bis dahin galt lehramtlich, dass, wer nicht katholisch ist oder werden will, entweder nur irrig und schlecht informiert oder böswillig und verblendet ist. Dass es ein im universalen Heilswillen Gottes begründetes, in der Gottebenbildlichkeit des Menschen konkretisiertes Recht auf Religionsfreiheit gibt, ist christentumsgeschichtlich etwas Neues. Hier entdeckt die Kirche, wie sehr zentrale Erträge der Französischen Revolution und der Aufklärung - Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit - zu ihrem eigenen Erbe gehören und dem Evangelium eingeschrieben sind. Dasselbe gilt für die Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte. Was Päpste und Lehramt der Kirche, aber nicht minder Einzelne, Basisgemeinden und Reformgruppen seit dem Konzil diesbezüglich geleistet haben, ist unschätzbar und wäre ohne das Konzil nicht denkbar.

Mit Blut geschrieben

Man wird heute dem konziliaren Aufbruch von damals weder historisch noch theologisch gerecht, wenn man sich nicht der Vorgeschichte erinnert. Denn das Konzil ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern dem Drängen jenes Heiligen Geistes verdankt, der im Bekennermut von Christinnen und Christen, nicht zuletzt in der geduldigen Treue von Theologen und Theologinnen, sein Werk ständig vorantreibt. Der selige Angelo Roncalli zum Beispiel hatte lebenslang die Reformideen seiner Jugend bewahrt, so dass er sie im hohen Alter, keineswegs nur einer augenblicklichen Inspiration folgend, als Konzilspapst veröffentlichen konnte. Er ist in jener „modernistischen“ Kirchenkrise groß geworden, die das gesamte 20. Jahrhundert prägte und immer noch wie unerledigt rumort: der Wunsch und die Pflicht, Kirche und Moderne zu versöhnen und den Glauben im kreativen Sinne zeitgemäß werden zu lassen. Roncallis „Aggiornamento“, dieser entschiedene Wille, hier und heute Gottes Wirken und seine Freundschaft zu erkennen und zu bekennen, gehört in diesen Zusammenhang. Sehr viele Christen haben teils im Verborgenen, teils in der theologischen Lehre und Literatur für eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern geworben, um sie aus der antimodernistischen Abhängigkeit und der damit verbundenen Selbstgettoisierung zu befreien. Ob man an Joseph Wittig, Romano Guardini oder Karl Rahner denkt, ob an Yves Congar, Henri de Lubac oder Marie-Dominique Chenu, um nur einige Zeitzeugen jener Epoche zu nennen -, sie alle hatten unter ihrer Kirche oft massiv zu leiden. Nicht wenige wurden verdammt, manche sogar exkommuniziert. Pierre Teilhard de Chardin durfte vierzig Jahre lang bis zu seinem Lebensende nichts publizieren.

Das Konzil als Ereignis und seine Texte als Frucht wären ohne die Arbeit und das Leiden solcher Christen kaum möglich geworden. In die Konzilstexte sind aber ebenso die Qualen der verfolgten Kirchen des Ostens eingeschrieben. Im Streit über die Tragweite der Konzilstexte und die Notwendigkeit ihrer Fortschreibung und Ergänzung geht es also nicht nur um Texte. Es geht um die gelebte Gemeinschaft der Glaubenden, um Hoffnungs- und Leidensgeschichten. Die Geschichte derer, die als Bekenner und Märtyrer in diesem Streit Position bezogen haben, muss noch geschrieben werden. Auch die Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer gehört dazu, deren Fragen in Rom nie beantwortet wurden. Dazu gehören ebenfalls jene kirchlichen Gruppen kritischer Christen, die „oben“ allzu gerne gleich als unbequem oder sektiererisch abgetan und isoliert werden. Jeder Konsens hat seinen Preis, jede kirchliche Erinnerung lebt aus den Erschütterungen der Glaubenden. Die Geschichte der Heiligen ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Sonderlinge, Querköpfe und Außenseiter, ja der Ketzer. „Ihre Werke folgen ihnen nach“, heißt es in der Pastoralkonstitution.

Angst vor der eigenen Courage?

Fünfzig Jahre danach zeigen sich natürlich auch Grenzen und Schlagseiten des damaligen konziliaren Aufbruchs. Schon damals wurde selbstkritisch gefragt, ob die Konzilstexte nicht einen Optimismus vertreten, der mehr dem Zeitgeist als dem Evangelium geschuldet sei. Die Macht des Bösen in all seinen Schattierungen und die Strukturen der Sünde seien zu wenig im Blick gewesen. Im Überschwang der Reform sei die österliche Theologie des Kreuzes zu klein, die der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes zu groß geschrieben worden.

Es wäre gewiss falsch, das letzte Konzil isoliert zur Norm zu erheben. Aber seine lebens- und weltbejahende Dynamik christlicher Weltleidenschaft darf nicht verloren gehen. Auch Benedikt XVI. hatte mit seiner Empfehlung zur „Entweltlichung“ der Kirche nicht gemeint, sie solle aus der Gegenwart fliehen. Ganz im Gegenteil: Jede Zeit ist Gottes Zeit, aber keine ist göttlich. Der Unterschied zwischen Gott und Welt, auch zwischen Kirche und Reich Gottes, sollte stets betont bleiben. Schließlich bekennt die Kirche gerade im Konzil, dass nicht sie im Mittelpunkt steht, sondern der lebendige Gott und sein unermüdlicher Heilswille für alle.

Mit den zeitbedingten Einseitigkeiten der Konzilstexte kommt ebenfalls ins Bewusstsein, was im letzten halben Jahrhundert vernachlässigt oder gar zurückgedrängt wurde. Die genaue Lektüre des kirchlichen Gesetzbuches wie des Weltkatechismus, der ja eine durch und durch europäische Handschrift verrät, kann zeigen, wie viel noch zu klären ist: Innerkirchlich zum Beispiel bedarf das Verhältnis von Welt- und Ortskirche genauerer Bestimmung, auch das Verhältnis von Papst und Bischöfen. Schließlich war es ein damaliger Konzilsberater, der jetzige Papst, der darauf hinwies, dass die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe die gottunmittelbare Vollmacht des einzelnen Bischofs zu entwerten drohe. Nicht minder sind das Verhältnis von Priestern und Laien angesichts von Priestermangel, Laiennot und neuer Klerikalisierung sowie die Situation der Frauen in der Kirche zu bedenken. Dringend der Reformation bedürftig ist die wenig durchsichtige Praxis der Bischofsernennungen in der römischen Kirche, bei denen das Volk Gottes immer noch nicht beteiligt ist. Und dass die Reform der römischen Kurie ansteht, liegt spätestens seit den jüngsten Pannen und Skandalen auf der Hand. Nicht minder ernstzunehmen ist der Ruf nach mehr Verbindlichkeit in Glaubenspraxis und Liturgiegestaltung, in Ritus und Tradition. Vor allem aber bedrängt weit über die Kirche hinaus viele Menschen die große Not, wie man angesichts heutiger Welterfahrung, im Horizont rasanten Erkenntnisgewinns der Wissenschaften, noch an Gott glauben kann. Was heißt da „Offenbarung“?

Neue Zeiten erfordern neue Lösungen. Was Pierre Teilhard de Chardin bereits 1921 an einen ungläubigen Freund schrieb, behält als große Hoffnung seine Gültigkeit: „Der Papst und alle Bischöfe zusammen sind ohnmächtig, uns genau alles zu sagen, was es in Christus gibt. Christus (sein Leben, sein Wissen) sind in der ganzen Kirche (Gläubige und Hirten) aller Zeiten niedergelegt. Damit Christus schließlich begriffen wird, braucht es die Anstrengung aller Christen bis ans Ende der Zeiten; und kein (!) Konzil könnte diese lange Reifung abkürzen … Ich glaube, dass die Kirche noch ein Kind ist. Christus, von dem sie lebt, ist unermesslich viel größer, als sie sich ihn vorstellt; und deshalb werden noch in Tausenden von Jahren, wenn das wahre Antlitz Christi ein wenig mehr enthüllt sein wird, die Christen noch immer ohne Zögern das Credo sprechen“ und zu leben wagen.

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