Martin LutherMartin Luther - und die katholische Kirche

1999 wurde am Reformationstag von Vatikan und Lutherischem Weltbund die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" beschlossen. Wie stellt sich das Verhältnis der katholischen Kirche zum Reformator Martin Luther zehn Jahre danach dar?

Angesichts des Gedenkens an die Bestätigung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre", was mit einer großen Feier von Vertretern des Lutherischen Weltbunds und des Vatikans in Augsburg begangen wird, lässt sich fragen: Wie „katholisch" ist Luther? Wie „lutherisch" ist heute die katholische Kirche, sind heute die katholischen Christen? Wie „lutherisch" dürfen sie sein?

Früher - und so lange ist das noch nicht her - verstanden Katholiken unter „Wort Gottes", dass Gott die Menschen durch sein Wort belehrt, „informiert", „instruiert". Gemeint war: dass er über sich selbst, über sein Wesen, seine Drei-Einheit, aber eben darum auch über sein Handeln an der Welt und an den Menschen „spricht". Er belehrt darüber, dass er der Schöpfer ist, dass er den Menschen seine Gnade zuwendet, dass er die Sünde vergibt und zum ewigen Leben beruft. Und dass er zu diesem Zwecke durch den Heiligen Geist die Kirche zusammenruft und ihr die Heilsmittel schenkt - die sieben Sakramente und die hierarchische Verfassung.

„Offenbarung" im Handbuch

Dies alles ist zusammengefasst in dem Begriff „Offenbarung", der folglich auch katholischerseits als Wechselwort für „Wort Gottes" gebraucht wurde - zum Beispiel in den Handbüchern der Fundamentaltheologie oder in der jeweiligen Einleitung in den Dogmatik-Handbüchern: Theologie, Dogmatik hat als ihre Grundlage „die Offenbarung" oder „das Wort Gottes", auf das alles, was sie zu sagen hat, zurückbezogen sein muss. Man spricht in diesem Zusammenhang von Offenbarung als „Instruktion", vom „Instruktionsmodell" in der Arbeit mit dem Offenbarungsbegriff beziehungsweise mit dem Begriff vom „Worte Gottes".

Zu finden ist dieses informierende Wort Gottes natürlich in der Bibel. In ganz alten Zeiten waren Bibel und Wort Gottes identisch. Die Bibel war Wort für Wort Gottes Wort - übrigens auch noch bei Martin ­Luther. Selbst der zunehmende Ein­bezug der historisch-kritischen Methode in der Bibelwissenschaft hat dies zunächst noch nicht grundlegend verändert: Um zu wissen, wo­rüber das Wort Gottes, „die ­Offenbarung" uns „informiert", muss ich gegebenenfalls mit den Methoden historisch-kritischer Fragestellung herausfinden, was der biblische Autor gewissermaßen als „Sekretär" Gottes hat sagen wollen und was nicht.

Da nun die Bibel - trotz historisch-kritischer Exegese - nicht immer eindeutig ist, ist der letzte Garant der Wahrheit des Wortes Gottes und der uns darin gegebenen verbindlichen Belehrung die kirchliche Lehre. Glauben heißt daher, diesem Worte Gottes zustimmen, dessen Wahrheit uns die Bibel in der kirchlichen Auslegung verbürgt. Vollkommen konsequent lautet daher die ­ausdrücklich auf das Erste Vatikanische Konzil zurückgehende Wesensbestimmung des Glaubens: „Glauben heißt: alles fest für wahr halten, was Gott, der nicht lügen und trügen kann, geoffenbart hat und durch die Kirche zu glauben vorlegt."

Der sich uns mitteilt

Und heute? Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil - aber auf der Grundlage der theologischen Vorarbeit in den Jahrzehnten davor! - bedeuten „Wort Gottes" und „Offenbarung" nicht mehr „Ins­truktion" über göttliche Wahrheiten, oder dies höchstens in Konsequenz. Grundlegend vielmehr ist „die Offenbarung" die Selbsterschließung, ja die „Selbstmitteilung" Gottes in geschichtlichen Ereignissen, die für jeweils neue Generationen (und Kulturen) interpretiert werden müssen - natürlich auch durch die kirchliche Lehre, die aber eben deshalb nicht mehr nur theoretische Erläuterung, sondern Erschließung und Einladung in den Glauben sein soll und will.

Die Kunde davon ist uns ursprünglich aufbewahrt in der Heiligen Schrift. Das Wort Gottes finden wir nur in ihr. Aber der Bibeltext als solcher ist nicht mehr einfach identisch mit diesem Wort Gottes. Der Glaube ist nicht mehr nur Zustimmung zur Wahrheit göttlicher Informationen, gefasst in verbindlichen Sätzen, sondern Selbsthingabe des ganzen Menschen mit Vernunft und Willen an den sich uns mitteilenden Gott. So steht es in der Offenbarungskonstitution (Art. 5).

Gut lutherisch gesagt: Wort Gottes ist zuerst und zuletzt Zuspruch, und Glaube heißt: sich auf diesen Zuspruch, welcher der Zuspruch der Vergebung, der Gnade und der Gemeinschaft ist, felsenfest zu verlassen, mitten in allen Anfechtungen. Das ist es auch, was Katholiken heute hören wollen, wenn sie ihr Ohr für das Wort Gottes öffnen: nicht zuerst Belehrung, sondern Kunde von dem, worauf man sich verlassen, woran man sich halten kann im Leben und Sterben. Und nur, sofern es darum geht, muss und kann anschließend auch nach der Wahrheit dieses Wortes gefragt werden - wie auch nicht anders bei Luther. In Sachen „Wort Gottes" und „Glaube" sind wir Katholiken, wenn es zum Schwur kommt, alle gute Lutheraner.

Wie aber ist das Verständnis von Kirche? Früher war nach katholischem Verständnis „die Kirche" „die Hierarchie": der Papst, die Bischöfe und Priester und, wenn auch schon abgeschwächt, die Ordensleute. Die Laien hatten „Anteil" an der Kirche. Keine Rede vom „Priestertum aller Getauften"! Das spiegelt sich in den Bestimmungen des alten Kirchenrechts von 1917: Die Laien sind Objekte der Kirche. Sie haben das Recht, von den geistlichen Hirten geistliche Gaben zu erwarten und zu empfangen, also die Sakramente und die reli­giöse Unterweisung. Ansonsten kannte das Kirchenrecht für die Laien nur Verbote und Verpflichtungen: keine Amtsanmaßung, keine Klerikerkleidung, Respekt vor den Klerikern … Nur zuweilen an der Verwaltung der Kirchengüter mitwirken, das durften sie.

Es war schon ein großer Fortschritt, dass dieses rein juridische Kirchenbild seit den zwanziger Jahren und bekräftigt durch die Enzyklika über den „Mystischen Leib Christi" („Mystici Corporis") von Papst Pius XII. durch die Wesensbestimmung der Kirche als „Leib Christi" theologisch überwunden wurde. Aber ansonsten blieb es auch jetzt bei dem klerikalen Kirchenbild. Dieses hat übrigens seine Wurzeln in der spätmittelalterlichen Theologie und konnte so damals als Tradition gegen Luther und die Reformatoren ins Feld geführt werden.

Volk Gottes - Leib Christi

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist das alles anders - wieder aufgrund der reichhaltigen Vorarbeit der Theologie in den Jahrzehnten davor. Erstmalig in einem lehramtlichen Dokument wird das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden herausgestellt (Offenbarungskonstitution, Art. 10). Vor allem aber: Das Wesen der Kirche wird dort bestimmt als „Volk Gottes". „Leib Christi" bekommt mit Respekt vor dem Lehrschreiben Pius' XII. einen eigenen Textabschnitt in der Kirchenkonstitution (Art. 7), wird aber eindeutig unter die Bilder für die Kirche eingereiht. „Volk Gottes" hingegen rückt als Sachbegriff in den Vordergrund mit der ausdrücklichen Begründung in den Verhandlungen, alle Christen seien doch, bevor einige von ihnen Amtsträger würden, Christen und daher „Volk Gottes". Keinesfalls sei dieser Begriff auf die sogenannten Volksangehörigen, die Laien als Mitglieder des laós theoû, des Volkes Gottes, beschränkt.

Die Folge war: Wenn sich eines aus den Neuaufbrüchen des letzten Konzils ins Bewusstsein der Kirchenmitglieder eingegraben hat, dann dies: Sie sind die Kirche, und sie haben nicht nur Anteil an ihr. Sie befinden sich dabei im schönsten Einklang mit Luther, der schon 1539 in „Von den Konziliis und Kirchen" formuliert hat (Weimarer Ausgabe): „Gern haben sie's, dass man sie für die Kirche halte, wie Papst, Kardinäle, Bischöfe …" Und dagegen setzte er: Die Kirche sei „ein christlich heilig Volk, das da gläubt an Christum". An anderer Stelle spricht er von den „Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören".

Und wie verhält es sich mit den Sakramenten? Früher waren sie im landläufigen Sinn „Heilsmittel" für die Gebrechen der jeweiligen Lebenslagen. Boshaft ausgedrückt, waren sie einer „himmlischen Apotheke" entnommen. Die Taufe diente zur Behebung der „Erbsünde", die Buße zur Behebung der späteren persönlichen Sünden. Eucharistie stärkte im täglichen Kampf für den gläubigen Alltag. Firmung wiederum festigte die Kraft des Heiligen Geistes im täglichen Kampf gegen die Sünde und diente dem kraftvollen Zeugnis in der Welt. Die „Letzte Ölung" erfolgte zur Vorbereitung auf den letzten Weg. Die Priesterweihe rüstete zum Dienst an und in der Kirche. Und die Ehe - faktisch verwechselt mit der kirchlichen Trauung - kräftigte sakramental bei der Bewältigung des christlichen Alltags in Ehe und Familie.

Die Sakramente

Aber seit den dreißiger Jahren wurde in der katholischen Dogmatik eine neue Sicht auf die Sakramente als konzentrierte Verkündigungshandlung wirksam, und zwar nicht zuletzt aufgrund einer genaueren Lektüre der großen mittelalterlichen Tradition.

Wieder zeigt sich eine Brücke zu Luther, der das Sakrament - generell, aber besonders mit Blick auf das Abendmahl - als „aktuelles Wort" versteht, wobei alles auf die in der Handlung zugesprochene Verheißung der Sündenvergebung ankommt. Ungeachtet der Sonderprobleme - „Gültigkeit" des Amtes, Realpräsenz, Messopfer, Papsttum und anderes -, sind gute Katholiken hier wieder auf der Linie Luthers: Sie feiern die Eucharistie und empfangen die Kommunion in dem Bewusstsein, nicht einem magischen Ritus zuzuschauen, bei dem gemäß der alten Liturgie durch ein Zeichen der von den Ministranten bedienten Schelle der Vollzug der Wandlung von Brot in den Leib Christi und von Wein in das Blut Christi angezeigt wurde. Es geht vielmehr um das vergegenwärtigende Gedächtnis des Leidens und der Auferstehung Jesu Christi, das in der Akklamation seinen Ausdruck findet: „Deinen Tod, o Herr, verkünden (!) wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit."

Die „Messopfer"-Magie

Mit dem soeben Gesagten ist die Hälfte des alten Streit-Themas „Messopfer" schon bereinigt. Peter Brunner (1900-1981), lutherischer Pfarrer und Professor für systematische Theologie in Heidelberg, hat noch in den fünfziger Jahren erklärt, trotz aller Fortschritte in der Ökumene-Bewegung bildeten drei Themen immer noch vorerst unübersteigbare Hürden vor einem theologischen Konsens mit der katholischen Kirche: das Erste Vatikanische Konzil mit dem Papstdogma, die Marienverehrung und eben die Lehre vom Messopfer.

„Messopfer" bedeutete nach damaligem katholischem Verständnis: Der Priester - und nur er - bewirkt - gewiss als „Instrument" Christi, aber immerhin - durch die „Konsekration", also die Einsetzungsworte in der Liturgie, die Gegenwart des Leibes und Blutes auf dem Altar unter den Gestalten von Brot und Wein. Anschließend kann er den so gegenwärtigen Christus Gott, dem Vater, „darbringen", eben „opfern", und ihn daraufhin den Gläubigen als „Opfermahl" darreichen.

Manche Formulierungen des alten römischen Kanons - des ersten Hochgebets unter den vier offiziellen in der erneuerten Liturgie -, aber auch in den neuen Hochgebeten scheinen diese Vorstellung zu stützen - immer noch. Dieses „Messopfer" kann man „darbringen" zur Sühne für die (eigenen und fremden) Sünden, aber auch für alle erdenklichen Anliegen anderer Art. So ergab sich die jahrhundertealte Praxis der „bestellten" Messe bei den katholischen Christen: Man gibt ein (bescheidenes) „Mess-Stipendium". Dafür verpflichtet sich der Priester, das „Messopfer darzubringen" in dem besonderen Anliegen des Spenders: für das kranke Kind, für das Wohlergehen der Kinder, für beruflichen Erfolg, für den glücklichen Ausgang eines Examens, für eine glückliche Heimkehr von einer gefährlichen Reise und nicht zuletzt für die verstorbenen Angehörigen, die man noch im „Fegfeuer" vermutet. Und da das Messopfer durch seine Opfergabe unendlichen Wert hat, „wirkt" es sicherer im Sinne des Anliegens als jedes noch so inbrünstige Bittgebet.

Diese Vorstellung vom Messopfer hatte Martin Luther vor sich, als er in seiner kritischen Sakramentsschrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" („De captivitate Babylonica Ecclesiae", 1520) diese Lehre als die schlimmste aller Gefangenschaften bezeichnete, in die das Abendmahl geraten war. Wobei man sich das, was hier geschildert ist, noch vielfach verstärkt vorstellen muss im Vergleich zur Lage vor Beginn des ökumenischen Gesprächs im 20. Jahrhundert.

Wegen des überragenden Werts des „Messopfers" konnte man ja nicht Messen genug feiern. Ganze reichhaltige „Mess-Stiftungen", sozusagen „Stipendien-Fonds", wurden getätigt. Davon lebten die nachgeborenen Söhne reicher Familien, die sich zu Priestern weihen ließen und nichts anderes taten, als an einem der vielen Altäre in den Kirchen für die Anliegen der Stipendiengeber Messen zu lesen. Luther nennt sie mit Recht die „Winkelpfaffen". Man kann es heute nicht fassen, dass die Kirche dieses Treiben so lange geduldet hat.

Kritik der Reformatoren

Diese abergläubische Praxis, wie Luther sie vor Augen hatte, war aber nur eine Praxis, niemals offizielle kirchliche Lehre. Zwar hat meine Generation noch im Katechismusunterricht zur Vorbereitung auf die Erstkommunion gelernt, die Messe sei „die unblutige Erneuerung", ja „die unblutige Wiederholung" des blutigen Kreuzesopfers auf Golgotha. Aber eigentlich hat schon das Konzil von Trient (1545-1563), he­raus­gefordert durch die Kritik der Reformatoren, im Messopferdekret mit dieser Vorstellung aufgeräumt: Man behält zwar die traditionelle Sprechweise bei, die Messe sei ein wahres und wirkliches Opfer. Doch das sei so zu verstehen, dass das eine Kreuzesopfer Christi in der Messfeier vergegenwärtigt werde, sein Gedächtnis bis zum Ende der Zeiten fortdauere und seine heilbringende Kraft den Sündern zugewandt werde.

Trotzdem blieben die „Privatmessen" und das Stipendienwesen bis heute, vor allem in den Klöstern der Priesterorden. Die schlimmsten abergläubischen Auswüchse konnten aber abgestellt werden. Ganz ohne Einfluss des ökumenischen Dialogs kam es dann aber im 20. Jahrhundert zu weiteren Klärungen, die eigentlich schon damals Peter Brunners Feststellungen nicht mehr Recht gaben.

Päpstliche Korrekturen

Im Zuge der schon skizzierten Erneuerung der Sakramententheologie hat Papst Pius XII. in der Enzyklika „Der Mittler Gottes" („Mediator Dei", 1947) festgestellt: Der „Opfercharakter" der Eucharistie besteht darin, dass Christus unblutig dasselbe tut wie am Kreuz: sich selbst dem ewigen Vater als Opfer darzubringen. Dies geschieht so, dass er durch die getrennten Einsetzungsworte über Brot und Wein gegenwärtig wird in der Trennung von Leib und Blut. Das heißt, er wird in einer Weise gegenwärtig, die den Zustand seines Opfertodes „demonstriert" oder wie es auf Latein heißt: memorialis demonstratio. Mit anderen Worten: Mit der Doppelkonsekration ist die Messe als „Opfer" abgeschlossen. Da bleibt, wenn das gilt, nichts mehr „darzubringen".

Noch deutlicher wird Papst Paul VI. in der Enzyklika „Geheimnis des Glaubens" („Mysterium Fidei", 1965). Der Opfercharakter ist nach den Worten des Papstes zwar das Herzstück des ganzen eucharistischen Geheimnisses, aber das ist nicht so zu verstehen, als ob wir Christus darbringen. Vielmehr bringt die Kirche sich selbst dar, indem sie sich in den Opfergehorsam Jesu hineinbegibt und so mit ihm vor den Vater tritt. Hier ist nichts mehr, was Luther zu kritisieren hätte. Und die Konsequenz zieht das Dokument der internationalen lutherisch-katholischen Kommission „Das Herrenmahl" 1974: Das Kreuzesopfer Christi kann „weder fortgesetzt noch wiederholt, noch ersetzt, noch ergänzt werden" (The­se 56). Es ist seltsam, aber wahr: Die richtig verstandene und von Missverständnissen gereinigte Lehre vom Messopfer ist heute weniger ein ökumenischer Stolperstein als die immer noch nicht ganz ausgestandenen Probleme um die Realpräsenz.

Früher dachten katholische Christen ganz unbefangen, dass der Amtsträger, also der Bischof und der Priester, der „Vermittler“ zwischen Gott und den Gläubigen sei und dass uns durch die Sakramente geheimnisvollerweise Gottes Gnade geschenkt wird. Dass auch der Zuspruch des Wortes Gottes schon Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch herstellt, war ja verdeckt durch den Gedanken vom Wort Gottes als (bloßer) Information, wie im ersten Beitrag ausgeführt wurde. Die Folge: Wenn der Priester - und das konnte er nach pflichtgemäßem Ermessen - einem Gläubigen das Sakrament verweigerte, schnitt er ihn dadurch von der Gnade Gottes ab. Von daher hält sich bis heute auf evangelischer Seite nicht selten die Falschmeldung, nach katholischer Lehre sei alle Gnade „sakramental“, das heißt: ausschließlich durch die Sakramente vermittelt.

Martin Luther polemisierte gegen diese Vorstellung von der „vermittelnden“ Funktion des Amtsträgers schon in den Ablassthesen. Wie kann ein Mensch durch einen amtlichen Akt entscheiden, wem Gott seine Gnade zukommen lässt und wem nicht! Es ist schwer begreiflich, dass die klaren Aussagen vor allem des Hebräerbriefs, die jede „Vermittlung“ zwischen Mensch und Gott ausschließen außer derjenigen durch den einzigen Hohenpriester Christus, so verdrängt wurden.

Felsblock im Ökumene-Gespräch

Dann kam das Zweite Vatikanische Konzil. Aufgrund von Vorarbeiten in der Theologie der Zeit davor, nicht zuletzt aufgrund der vertieften Einsichten zum Thema „Wort Gottes“ und zum Verständnis der Sakramente konnte keine Rede mehr davon sein, dass das kirchliche Amt „zwischen“ Gott und Mensch tritt. So kommt es, dass nach den Aussagen des Konzils im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe und im Dekret über den Dienst der Priester beide Male gleichlautend festgehalten wird: Die Amtsträger leiten ihre Diözesen beziehungsweise Gemeinden durch die Verkündigung des Evangeliums und die Darreichung der Sakramente - in dieser „gut lutherischen“ Reihenfolge. Wenn es so etwas wie „Vermittlung“ gibt, dann besteht sie buchstäblich in der Mit-teilung des Evangeliums durch Wort und sakramentales Geschehen, durch die Gott unmittelbar den Glauben wirkt und stärkt.

Und genauso empfinden heute auch die katholischen Christenmenschen den Dienst ihrer Pfarrer und Bischöfe. Sie können ganz schön unmutig werden, wenn diese ihnen in irgendeiner Weise autoritär entgegentreten und nicht nur als institutioneller Hinweis auf Gott und Jesus Christus, besonders bei der Feier der Liturgie.

Man sollte nichts schönreden. Immer wieder hört man im ökumenischen Dialog den fast mantra-ähnlichen Hinweis, das Amtsverständnis sei der entscheidende Stolperstein, ja der Felsblock des ökumenischen Dialogs, an dem alle anderen schon erreichten Verständigungen zerschellen. Fragt man weiter, dann kommt der Hinweis: Die evangelischen Amtsträger stünden doch nicht in der „apostolischen Sukzession“, also der ununterbrochenen Reihenfolge der sakramentalen Amtsweitergabe seit der Zeit der Apostel. Diese sei vielmehr in der Reformationszeit „abgerissen“.

Das Thema kommt einer Elefantenmahlzeit gleich. Wir können es hier nicht abschließend behandeln. So viel sei aber - in aller Kürze - doch gesagt: 1. Im Anschluss an den Vorbehalt in Artikel 22 des Ökumenismusdekrets des letzten Konzils, wonach den evangelischen Kirchen das Weihesakrament fehle (defectus ordinis), ist diese Frage seit vier Jahrzehnten nach allen Richtungen diskutiert worden. Alle Argumente, seien sie für einen Konsens, seien sie dagegen, sind längst auf dem Tisch. 2. Die Luft ist in dieser Debatte, vor allem auf katholischer Seite, voll von Inkonsequenzen und Denkverweigerungen. 3. Im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, früher nach den Gründer-Bischöfen „Jaeger-Stählin-Kreis“ genannt, haben wir seit 2002 dieses Thema zum Gegenstand eines Projekts gemacht. Daraus sind drei Bände entstanden („Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge“, Freiburg/Göttingen 2004, 2006, 2008). Es ist ein wahres Repetitorium zum Thema unter allen Gesichtspunkten: bibelwissenschaftlich, theologiegeschichtlich, liturgiegeschichtlich und systematisch-theologisch. Der dritte Band schließt nach einem überaus gründlichen zusammenfassenden Bericht mit einem Votum, eine internationale „Gemeinsame Erklärung II“ zum Thema „Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge“ zu erarbeiten. Es soll an die 1999 vom Lutherischen Weltbund und vom Vatikan beschlossene Erklärung zur Rechtfertigungslehre anschließen, an die soeben in Augsburg feierlich erinnert wurde. 4. Entscheidend im Ökumenischen Arbeitskreis war die Einsicht, dass „apostolische Sukzession“ auf keinen Fall verbindlich in einer - ohnehin nie nachweisbaren - lückenlosen Kette der Handauflegungen seit den Tagen der zwölf Apostel bestehen kann, sondern in der Nachfolge in der apostolischen Lehre. 5. Dass wir aber gemeinsam in dieser apostolischen Lehre geblieben sind, das haben wir uns doch gerade in der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ gegenseitig versichert. Was also hindert uns an einer gegenseitigen Anerkennung der Ämter - außer die Trägheit des Verstandes und des Herzens? Die Praxis der Ausgestaltung der Ämter muss dabei so wenig uniform sein, wie die unterschiedlichen Lehrgestalten der Rechtfertigungslehre den Grundkonsens nicht aufheben. Notwendig wären höchstens einige gegenseitige verbindliche Verabredungen, um beiderseits eventuelle Anstöße zu beseitigen.

Es bedarf keiner Diskussion, um festzustellen: Ein Papsttum, wie es sich gegenwärtig in Selbstverständnis und Praxis darstellt, hat keine ökumenische Chance im 21. Jahrhundert. Sofern alle Verständigungen letztlich nach Lage der Dinge der Zustimmung des Papstes bedürfen, kann und muss am Papsttum letztlich wieder alles scheitern, wenn es sich nicht ändert. Sowohl Papst Paul VI. wie auch später Johannes Paul II. haben in aller Eindeutigkeit erklärt, sie seien sich dessen bewusst, dass ihr Amt das größte Hindernis für eine ökumenische Verständigung sei.

Anderseits ist gerade in den letzten Jahren die Papstbegeisterung im katholischen Kirchenvolk enorm gewachsen. Nicht als ob man alles befolgt oder richtig findet, was dieser sagt; schon gar nicht auf den Weltjugendtreffen, worüber man sich keinerlei Illusionen hingeben sollte. Aber der Papst ist die Identifikationsfigur des Katholisch-Seins - und kein noch so hoher Vertreter der evangelischen Christenheit kann da mithalten. So können sich Katholiken eine Kirche ohne Papst nicht vorstellen. Was also denken und tun? Bleibt es für immer bei dem Vorbehalt Peter Brunners? Der Heidelberger Professor für systematische Theologie hatte in den fünfziger Jahren gesagt, dass trotz aller Fortschritte in der Ökumene-Bewegung aus evangelischer Sicht das Papstdogma vorerst eine unübersteigbare Hürde sei.

Der Weg über Konstantinopel

Obwohl es hier unmöglich ist, auch bei diesem Thema im Umfang einer Elefantenmahlzeit allzu sehr in die Einzelheiten zu gehen, können doch einige ganz einfache Einsichten Entlastung schaffen und Hoffnung fördern: 1. Im Unterschied zum Bischofsamt gibt es keine verbindliche neutestamentliche Vorgabe für ein Petrusamt, wobei die Betonung auf Amt liegt! Der Primat des römischen Bischofs mit heute universaler Jurisdiktion und Lehrvollmacht ist ein Ergebnis der Geschichte und kann sich daher auch wieder verändern. 2. Zu fragen ist, ob dieses geschichtlich gewordene Petrusamt in der Kirche einen guten Petrusdienst getan hat und weiterhin tun kann. In dieser Hinsicht ist die Papstgeschichte trotz allem keine bloße Skandalgeschichte. Vielmehr gibt es in der Historie und bis heute Leuchtfeuer eines hilfreichen Petrusdienstes. 3. Wenn man zurückblickt, wie viel sich allein im Stil der Amtsführung der Päpste seit der geistlichen Königsfigur Papst Pius XII. an Veränderung getan hat, vor allem durch Johannes XXIII. und Johannes Paul II., aber auch inzwischen durch Benedikt XVI., dann kann man noch viel für möglich halten. Heute können von Katholiken einzeln oder in Gruppen freimütig Forderungen nach einer Reform des Papsttums angemeldet werden, was unter einem Pius XII. undenkbar war. 4. Was am wichtigsten ist: Die Ostkirchen werden niemals auch nur die mildeste Form eines Jurisdiktionsprimats des römischen Bischofs anerkennen. Trotzdem hält man es im Vatikan für möglich, mit den Ostkirchen zu einer neuen Kirchengemeinschaft zu finden - auf der Grundlage der Tradition des ersten Jahrtausends. Das heißt dann aber: Man kann Kirchengemeinschaft schließen mit Kirchen, die eine Lehre und Praxis verwerfen, die in der römisch-katholischen Kirche immerhin den Rang eines feierlich verkündeten Dogmas hat. Wenn das gegenüber den Ostkirchen möglich ist, muss es auch den Reformationskirchen eines Tages zugutekommen. Man könnte auch sagen: In der Papstfrage führt der Weg nach Wittenberg über Konstantinopel. 5. Inzwischen gibt es auch auf evangelischer Seite seit etlichen Jahren erste Stimmen, die sich überlegen, ob es nicht ein „Amt der ökumenischen Einheit“, ein „universales Sprecheramt“ für die Gesamtchristenheit geben könne. Natürlich erschallt sofort der Protest: „Nie werde ich den Papst für mich sprechen lassen!“ Klar, ein Papst nach dem bisherigen Bild kann dieses gesamtchristliche Sprecheramt nicht ausüben, obwohl der Papst, Stichwort Medienpräsenz, von der außerchristlichen Welt faktisch schon als ein solcher Sprecher wahrgenommen wird. Doch wer will wissen, welche Wege der Heilige Geist uns und den Vatikan noch führt? Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann hat einmal formuliert: „Der schlichte Holzsarg Papst Pauls VI. auf dem Petersplatz sagt mehr aus über die Veränderungen in der katholischen Kirche als zahllose Lehrdokumente zusammen.“

Die Verborgenheit Gottes

Das Wichtigste, was Katholiken von Martin Luther gelernt haben - freilich oft, ohne um die Quelle zu wissen -, ist dessen Anschauung vom verborgenen Gott. Luther hatte einmal gesagt: Wenn man sich den Lauf der Welt ansieht, kann man denken, es gebe keinen Gott oder Gott sei der Teufel. Er nennt das die „Verborgenheit Gottes unter dem Gegensatz“. Er versteht darunter das Gegenteil dessen, was die Menschen sich mit ihrer Vernunft ausdenken, wie Gott doch eigentlich sein müsste: also souverän die Geschicke der Welt lenkend und in seiner Schöpfung daher erkennbar.

Martin Luther hat damit eine ganz moderne Erfahrung vorweggenommen: die Erfahrung der „Abwesenheit“ Gottes in dem nach seinen eigenen Gesetzen ablaufenden Weltgeschehen. Für den Christen Luther ist diese „Abwesenheit“ Gottes allerdings nicht nur eine Erfahrung, sondern die Konsequenz aus seiner Theologie des Kreuzes. Am Kreuz seines Sohnes hat ja Gott seine Macht unter dem Gegenteil verborgen: in der Ohnmacht des Gekreuzigten. Seitdem ist es gewissermaßen normal, wenn wir Gott nicht problemlos aus den Werken der Schöpfung erkennen. Durch das Kreuz hat er klargemacht, wo wir ihn finden sollen und können; gerade in dem, was ihm zu widersprechen scheint: im Kreuz und darum auch im Leiden, unter den negativen Erfahrungen des Lebens.

Vielleicht verbinden wir heute die Erfahrung der radikalen Verborgenheit nicht so unmittelbar mit dem Kreuz. Aber dass Luther hier eine ganz moderne Erfahrung vorweggenommen hat, daran besteht kein Zweifel. Und das hat eine ganz bedeutende Folge für den Glauben. Diese wiederum erfahren auch alle Katholiken: Der Glaube ist immer angefochten, verunsichert, immer von Fragen umstellt. Früher nannte man das „Glaubenszweifel“, und man hielt die Katholiken an, genau nachzudenken, zu studieren, Rat zu holen - dann müsste unter vernünftigen und glaubenswilligen Menschen der Zweifel zu beheben sein. Seit Martin Luther - und inzwischen wiederum auch ganz ohne Luther - wissen wir: Die Anfechtung, der Zweifel gehören grundsätzlich und strukturell zum Glauben dazu. Christen müssen sich nicht - wie früher - schon halb ungläubig vorkommen, wenn sie Fragen haben, ja mit gewissen Aussagen des Glaubens womöglich lebenslang nicht zurechtkommen. Wir sind in sachgemäßer Abwandlung von Luthers berühmter Formel, dass Christen simul iustus et peccator, also „zugleich gerechtfertigt und Sünder“ sind, „gläubig und ungläubig zugleich“.

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