Mensch zu sein heißt, zu allem fähig zu sein, vom selbstlos Guten bis zum hemmungslos Bösen. Und was für Menschen im Allgemeinen gilt, gilt auch für Päpste. Blickt man in die Geschichte der offiziell bislang 267 „Stellvertreter Christi auf Erden“, so finden wir dort die ganze Bandbreite menschlicher Charakterzüge und Taten: Es gab die Aufbrausenden und die Stillen, die Asketen und die Lebenslustigen, die Zupacker und die Zweifler, die Strengen und die Nachsichtigen. Es waren große Förderer von Kunst und Kultur darunter, aggressive Kreuzzügler und rücksichtsvolle Seelsorger, Kraftmeier wie Zartbesaitete, Nepotisten und Sexisten, Mildtätige und Mörder, gewiefte Strategen, Haudraufs und solche, die mit ihrer Berufung einfach überfordert waren. Dieser Vielfalt wird man gewahr bei der Lektüre von Josef Gelmis Werk Das große Buch der Päpste. Es ist ein Rundumschwenk, der schon angesichts der gewaltigen Zeitspanne deutlich weniger ins Detail gehen kann als Jörg Ernestis Geschichte der Päpste seit 1800, das mit dem im März 1800 gewählten Pius VII. einsteigt und somit „nur“ die letzten 17 Päpste ins Visier nimmt. Beide Bücher kommen allerdings auf ein ähnliches Gesamtvolumen von 584 beziehungsweise 560 Seiten.
Große Kenner der Materie sind beide Autoren: Jörg Ernesti (geb. 1966) wurde 1993 zum Priester geweiht, habilitierte 2003 in Kirchengeschichte, hat zahlreiche Werke unter andrem zur jüngeren Papstgeschichte geschrieben, darunter allein drei Papst-Biographien (zu Paul VI., Benedikt XV. und Leo XIII.), und gilt als einer der profiliertesten Kirchenhistoriker im deutschsprachigen Raum. Dies gilt ebenso für Josef Gelmi (geb. 1937), von 1973 bis 2017 Professor für Kirchengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen und Autor zahlreicher Fachbeiträge sowie vielbeachteter Bücher wie Die Päpste in Lebensbildern (Styria 1983/1989) und Das Papsttum (Topos plus, 2007).
Wie fundiert und sorgfältig beide Autoren zu Werke gehen, zeigt sich nicht zuletzt anhand der sehr umfangreichen Bibliographien, wobei sowohl Gelmi als auch Ernesti schon in ihren Vorworten ganz besonders die große Ausstellung Die Päpste und die Einheit der lateinischen Welt hervorheben, die 2017 in den Mannheimer Reis-Engelhorn-Museen in Kooperation mit der Universität Heidelberg und den Vatikanischen Museen zu sehen war. Jörg Ernesti bezeichnet die vier Ausstellungsbände, herausgegeben von Alfred Wieczorek und Stephan Weinfurter, als „ein Kompendium der Papstgeschichtsschreibung“.
In bemerkenswertem Gegensatz befinden sich die Titelbilder beider Bücher: Während Gelmis Werk den neu gewählten Papst Leo XIV. lächelnd und mit erhobenen Händen zeigt, zeigt uns Ernestis Geschichte der Päpste seit 1800 zwar ebenfalls eine Papstfigur, allerdings von hinten, beim Öffnen der Porta Santa. Hier der aktuelle Oberhirte quasi als neuer Werbeträger des Vatikans den Menschen zugewandt, dort ein Symbolbild des Hindurchschreitens zum Amt des Stellvertreters Christi auf Erden – mit dem Rücken zum Betrachter.
Warum sein Kompendium ausgerechnet im Jahre 1800 beginnt, erklärt Jörg Ernesti im Vorwort selbst: Es läge nahe, „hier zu beginnen, als vielen Zeitgenossen in jenem Jahr das Papsttum als erledigt und historisch überholt galt“. Zudem markiere die Wende zum 19. Jahrhundert in der Papstgeschichte eine Zäsur: „Bei den folgenden Päpsten haben sich immer mehr moderne Züge ausgebildet, die das Papsttum bis heute kennzeichnen.“ Es gehe somit nicht nur um einzelne Päpste, sondern auch um die Entwicklung des Papsttums in seiner neuzeitlichen Gesamtheit. Eine Entwicklung, für deren Darstellung der Autor für jeden einzelnen dieser Päpste akribisch Weichenstellendes, aber auch Persönlichkeitsspezifisches herausarbeitet, unterfüttert mit einer Fülle an Informationen nicht nur rund um den Vatikan, sondern auch zur Zeit- und Politikgeschichte, die von jeher mit dem Papsttum eng verwoben war.
Drei Beispiele: Ausführlich beschreibt Ernesti die existenzbedrohende Gewalt Kaiser Napoleons gegen Pius VII., den der Korse mehrfach gefangen nehmen ließ und unter Hausarrest stellte. Anschaulich schildert er die tragische Rolle von Papst Benedikt XV. im und nach dem Ersten Weltkrieg – erst lange nach seiner Zeit wurden seine Friedensbemühungen allgemein anerkannt. Und sehr dezidiert beleuchtet Ernesti die Problematik in der Bewertung von Pius XII., Papst von 1939 bis 1958, der bis heute wie kein zweiter Papst polarisiert: Hier seine hohe politische Bildung, das ausgeprägte diplomatische Geschick sowie Unerschrockenheit und Unabhängigkeit, dort seine zentralistische Autorität sowie vor allem das unauflösliche Dilemma, von der Shoa gewusst, aber weitestgehend geschwiegen zu haben – trotz seiner berühmten Weihnachtsansprache von 1942 zu den unveräußerlichen Grundrechten eines jeden Menschen sowie seiner Überzeugung, eher auf diplomatischem als auf öffentlichem Wege wirklich Einfluss nehmen zu können. Diese kritische Sicht entstand erst nach dem Tode des zu Lebzeiten hochangesehenen Papstes. Ernesti bringt das Dilemma auf diese Formel: „Der Pontifex hat aus damaliger Sicht alles richtig gemacht, und dennoch aus heutiger Sicht falsch gehandelt.“
Weitgehend neutral und doch mitfühlend in der Darstellung, hie und da aber auch kommentierend, bietet Ernesti ein spannendes Werk der Zeitgeschichte, in der sich Aufgaben und Kompetenzen des Papsttums immer wieder wandelten – von der napoleonischen Krise und später dem Verlust eigenen Staatsgebiets mit der notgedrungenen Neuerfindung als „Gefangene im Vatikan“ als rein geistliche Autorität über die Auseinandersetzung mit totalitären Ideologien und der Katastrophe zweier Weltkriege bis zum Neuaufbruch durch die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) und zur bis heute – und heute vielleicht mehr denn je – drängenden Frage, wie ein Ankommen in der Gegenwart mit all ihren Herausforderungen glaubhaft gelingen und auch die junge Generation begeistern kann. Ernesti beschreibt eindrucksvoll, welch unterschiedliche Strategien hier gerade die jüngsten Päpste der Geschichte, Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus, präferierten. Kleines Manko: Ein kurzer Verweis auf die jeweilige Amtszeit der Päpste ist weder im Inhaltsverzeichnis noch an den Kapitelanfängen zu finden (aber wenigstens fast ganz am Ende unter „Die Päpste seit 1800 und ihre Wappen“).
Anders in Das große Buch der Päpste: Hier finden sich jeweils am Textanfang die genauen Daten des Pontifikats (soweit bekannt, im Zweifel mit Fragezeichen versehen), die regionale Herkunft beziehungsweise Nationalität sowie der heutige Status (heilig- bzw. seliggesprochen oder weder noch). Schon wegen der enormen Bandbreite, alle Päpste in einem Buch zu vereinen, hat es eher lexikalischen Charakter, was aber ausreicht, um auch Übelstes in Worte zu fassen. Das 10. Jahrhundert gilt gemeinhin als „dunkles Jahrhundert“ mit fast 30 Päpsten und Gegenpäpsten. Gelmi schreibt von „unmenschlicher Brutalität“, von Päpsten als „willenlosen Geschöpfen“ in den Händen weltlicher Patrone, von dem im Konzil des Jahres 991 so bezeichneten „Ungeheuer ohne Tugend“ Johannes XII., vom „skrupellosen Mörder und Verbrecher“ Bonifaz VII. und anderen des Heiligen Stuhls gänzlich unwürdigen Gestalten. Auch die so genannte „Pornokratie“ oder das „Hurenregiment“ findet Erwähnung, beginnend mit Sergius III., Papst von 904 bis 911. Gut 600 Jahre weiter in der Zeit erfahren wir, dass auch Clemens VII. „für die Kirche ein Unheil“ gewesen sei: In seiner Amtszeit von 1523 bis 1534 trennte sich fast ein Drittel Europas von der katholischen Kirche, denn die Reformation war unumkehrbar geworden und obendrein gründete Heinrich VIII. von England infolge des Kirchenbanns die anglikanische Kirche.
Die Erwähnung all dessen soll lediglich vor Augen führen, dass Gelmi nichts schönredet oder verschweigt. Auf der anderen Seite werden prägende Päpste besonders hervorgehoben, wie etwa die „Musterpäpste“ Leo I. (440–461) und Gregor I. (590–604), Innozenz III. (1198–1216) als Vertreter des Papsttums auf dem Höhepunkt seiner Macht, Julius II. (1503–1513) als großer Kriegs-, aber auch Bauherr, der Versöhner und Modernisierer Leo XIII. (1878–1903) oder Johannes XXIII. (1958–1963), der nicht nur Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils war, sondern auch als ausgesprochener Menschenfreund in die Geschichte einging.
Das große Buch der Päpste liest sich erfreulich kurzweilig, und einmal mittendrin, will man es kaum mehr aus der Hand legen. Wirklich außergewöhnlich ist die Bebilderung: Nicht nur die Wappen in Farbe seit Papst Innozenz III. bereichern das Werk, sondern auch die Porträts der einzelnen Päpste seit dem 16. Jahrhundert, die der betagte Autor selbst vor allem in der Ferienresidenz Castel Gandolfo fotografiert hat. Kleiner Kritikpunkt: Durch die Größe der Aufgabe bringt Gelmi das Wirken einzelner Päpste mitunter fast zu knapp auf den Punkt – als Leser wünschte man sich hie und da mehr Informationen, etwa zu Benedikt IX. (1032–1048, mit Unterbrechungen), der nur kurz abgehandelt wird, obwohl er nach offizieller Zählung der einzige Papst mit mehr als einem Pontifikat (sogar deren drei) war.
Apropos offizielle Zählung: Gelmi hält sich an die offizielle Papstliste Annuaro Pontifico des Vatikans. Doch ist überhaupt zu jedem Jahr sicher zu sagen, wer gerade Papst war, wer nur vermeintlicher oder wer Gegenpapst? Und haben sich die postulierten Päpste der ersten Jahrhunderte überhaupt als Nachfolger Petri verstanden? Das sogenannte Monepiskopat, also die Gemeindeleitung durch eine einzige Person, bildete sich nach heutigem Stand der Forschung erst nach und nach heraus. Laut Gelmi war es Stephan I. (Papst von 254 bis 257), der erstmals Mt 16,18 für sich in Anspruch nahm: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.“
Trotz dieser Unschärfen legt der renommierte Kirchenhistoriker ein ebenso profundes wie praktisches Nachschlagewerk vor, das quer- oder chronologisch gelesen werden kann. Natürlich: Bei ähnlichem Seitenumfang der Bücher kann Jörg Ernesti seinen „nur“ 17 Päpsten wesentlich mehr Raum geben. Allerdings widmet sich auch Josef Gelmi der jüngsten Papstgeschichte besonders dezidiert, beginnend mit Johannes Paul II.
Auf wenigen Seiten gehen beide Verfasser am Ende auch auf Robert Francis Prevost ein, der, wie wir von Gelmi erfahren, schon als Kind immer nur Priester spielen wollte und das Bügelbrett seiner Mutter als Altar nutzte. Ob er als Leo XIV. die katholische Kirche in eine gute Zukunft führen wird?
Sehr empfehlenswert sind beide Bücher schon aufgrund ihres hohen Informationsgehalts bei guter Lesbarkeit – und nicht zuletzt, weil die Autoren keinen Hehl daraus machen, dass auch Päpste nur Menschen sind. Sicherlich auch aus dieser Erkenntnis heraus schlussfolgert Josef Gelmi, „dass für den katholischen Christen nicht der Papst im Mittelpunkt steht, sondern Gott, Jesus Christus und schließlich das eigene Gewissen“.