Mein Handeln war das Schreiben, meine Waffe war die Feder, oder besser gesagt: die Schreibmaschine. Als Journalistin wollte ich die Ungerechtigkeit bekämpfen, Missstände aufdecken, Fakten für sich sprechen lassen, und zwar so klar und deutlich, dass die Menschen, die meine Artikel lasen, ihre Schlüsse selbst ziehen konnten.“ Mit diesen Worten blickt die 101-jährige Ruth Weiss auf ihre Karriere als Journalistin zurück. Auf fast 200 Seiten reflektiert sie pointiert über Schoa, Antisemitismus, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven für die Zukunft. Mit dem Band hat sie einen über ihren Tod hinaus mutmachenden Appell zum Handeln gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung hinterlassen.
Ihr ganzes Leben hat sie dem Kampf gegen Antisemitismus und Apartheid verschrieben. Davon erzählte Weiss auch mit fester Stimme in zahlreichen Gesprächen, etwa vor zwei Jahren im Jüdischen Museum Berlin. Ihre Schilderungen beeindrucken. Auch wenn sie von ihrer Kindheit berichtet oder schreibt. 1924 wurde sie in Fürth, das damals als „fränkisches Jerusalem“ bekannt war, in eine jüdische Familie hineingeboren. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie den Schabbat und religiöse Feste erlebte. Wie ihr Großvater, der streng nach den Regeln des orthodoxen Judentums lebte, eine Laubhütte für das Laubhüttenfest (Sukkoth) baute. Doch mit der behüteten Kindheit war es vorbei, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. „Es brach eine unsichere Zeit an, in der ich mehr als einmal große Angst ausstehen musste.“ 1936 floh die Familie von Bayern nach Südafrika. Dort sah sie sich mit dem System der Apartheid konfrontiert. Nicht-weiße Menschen wurden systematisch diskriminiert. Als Kind, das vor einem rassistischen Regime aus der vertrauten Heimat fliehen musste, durfte sie nun nicht mit Gleichaltrigen spielen, nur weil diese eine andere Hautfarbe hatten. Ein Umstand, den sie nicht mit ihrem Verständnis von Gerechtigkeit vereinbaren konnte. Auch ihr jüdischer Glaube wandelte sich im Lauf der Jahre. „Ich habe zweifeln gelernt“, heißt es in der Biographie.
Ihre Kindheitserfahrungen weckten in ihr den Drang, sich gegen Rassismus, Antisemitismus und soziale Ungerechtigkeit zu engagieren. Unerschütterlich war ihre Überzeugung, dass es dabei auf jeden und jede Einzelne ankommt. „Schaut nicht weg, wenn ihr Zeuge von Ungerechtigkeit und Unrecht werdet! Nehmt es nicht einfach hin! Werdet aktiv, handelt – es gibt dafür so viele Möglichkeiten.“ Als Journalistin arbeitete Weiss für verschiedene internationale Zeitungen. Schließlich wurde sie eine bekannte Schriftstellerin, veröffentlichte noch im Alter Romane wie Meine Schwester Sara (2002).
Für ihren Einsatz als Menschenrechtsaktivistin sowie für ihre journalistische Berichterstattung über die Unabhängigkeitsbewegungen des südlichen Afrika erhielt sie zahlreiche internationale Auszeichnungen. 2005 wurde sie sogar für den Friedensnobelpreis nominiert. Zeitlebens war Weiss eine mutige Frau. Sie lebte vor, was sie sich von der Leserschaft ihres Buches wünscht: Handeln, aktiv werden. Hinsehen, statt sich wegducken. „Erinnern heißt Handeln. Zachor, das Erinnern und Gedenken, gehört zum Kern des Judentums.“ Vor diesem Hintergrund war es ihr auch ein Anliegen, dass Juden, Muslime und Christen mehr voneinander lernen. „Ich bin überzeugt: Je mehr wir voneinander wissen, umso mehr werden wir im Fremden, im Gegenüber uns selbst erkennen. Jemand, der oder die dieselben Sorgen, Träume und Sehnsüchte hat wie wir.“ Ruth Weiss ist am 5. September in Dänemark verstorben. Ihr Traum lebt weiter.
Ruth Weiss, Lutz Kliche
Mein Jahrhundertleben für Demokratie und Menschlichkeit. Verlag Herder, Freiburg 2025, 176 Seiten, 20 €