Die Leerstelle aushaltenWenn Gott fehlt, ist Galiäa (nicht) weit

„Wenn mir Gott zerrinnt“, heißt eine aktuelle Veranstaltungsreihe der KAMP (Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral) zusammen mit der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Der Titel geht auf die Äußerung eines Pfarrers zurück, der sein persönliches Empfinden zum Ausdruck brachte. So wie die Gesellschaft fluide geworden ist und sich alles verflüssigt, so auch der Glaube. Vielen, auch dem kirchlichen Personal zerrinnt er zwischen den Fingern, ohne dass sie ihn aufzuhalten vermögen. Es scheint einfach zu passieren.

Fazit

Das leere Grab steht für die aktuelle Leerstelle, die nicht nur in der christlichen Religion und Kirche, sondern auch gesellschaftlich ausgehalten werden muss. Gerade weil Religion kein Kontrastprogramm zur Welt bietet, spiegeln sich in ihr die gegenwärtigen Krisen. Doch genau dann, wenn sich das Christentum ihnen ungeschönt stellt, kann es seine Ressourcen für die Lösungssuche entfalten. Wenn Gott fehlt, ist Galiläa eine Möglichkeit.

Matthias Sellmann nennt den zerrinnenden Gott den Gott, der fehlt. Ästhetisch, existenziell, intellektuell, es scheint egal, welchen Zugang zu Gott man wählt, überall begegnet man dem fehlenden Gott: in der Kunst und Poesie, im persönlichen Suchen und Beten, im intellektuellen Nachdenken und Fragen, an welchen Gott man heute noch glauben kann.
Jan Loffeld spricht daher vom nicht notwendigen Gott. Der christliche Gott mit seinen besonderen Gaben der Erlösung, der Sündenvergebung und Rettung sei obsolet geworden, die Menschen heute hätten für diese göttlichen Geschenke keine Verwendung mehr, sie organisierten sich anders, ihnen fehle der Zugang. Heil, Fülle, Resonanz holten sie sich auf anderen Wegen. Die Erosion der Gnadenanstalt, wie Michael N. Ebertz es einmal nannte, ist Realität geworden. Was bleibt, ist eine große Leere. Jan Loffeld empfiehlt zunächst, sich dieser Leerstelle zu stellen, ihr nicht durch kluge Reden oder Optimierung der Organisation auszuweichen, sondern sie auszuhalten. „Ich glaube an einen Gott, der fehlt“, ist Sellmanns Formulierung für dieses Aushalten-müssen.

Das Grab ist leer

Das Grab ist leer. Was Inbegriff der Hoffnung und des Trostes sein könnte, ist zum Symbol der Leere geworden. Sogar damals sind die Frauen voll Furcht und Zittern vom leeren Grab Jesu weggerannt (Mk 16). Schon damals ging es um ein Fehlen und genau dieses wird zum „Gründungsverschwinden“ der christlichen Religion, wie Michel de Certeau feststellt. Heute wird das leere Grab wieder zum Symbol für die Leerstelle, für die Leerstelle in unserer christlichen Religion, in unserer Gesellschaft und für die Leerstelle in uns selbst. Ich jedenfalls fühle diese Leerstelle. Sie hat, wie Sellmann hilfreich wahrnimmt, eine existenzielle, eine ästhetische und eine kognitive Note. Sie hat aber auch einen gesellschaftlich geschichtlichen Kontext. Selbstverständlichkeiten geraten nicht nur im Glauben, sondern auch im Leben aus den Fugen. Es ist nichts mehr, wie es zumindest für die war, die einige Jahre nach dem Krieg geboren wurden. Diese Jahre nennt die türkische Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die 2022 den Büchnerpreis erhalten hat, „als die Hölle eine Pause machte“. Diese Formulierung macht mir deutlich, dass auch die Welt, die ich bisher erlebt habe, für viele nicht selbstverständlich war – die Pausenmetapher Özdamars bezieht sie ausdrücklich auf die westliche Hemisphäre.
Aber nun ist auch im Westen vieles aus den Fugen: die Demokratie, die man für einen Konsens hielt, wird hinterfragt; der Klimawandel – das Wort war allzu verschleiernd – ist zur Klimakatastrophe geworden, die sich jederzeit ereignen kann, wenn ein Bach zum reißenden Strom wird; Corona ist nach wie vor nicht vorbei. Krise, so Armin Nassehi, ist der Dauerzustand, und eine auf Diskurs und Aushandlungsprozesse trainierte Gesellschaft ein wenig langsam, um schnelle Lösungen zu kreieren, was manche nach verheerenden Alternativen suchen lässt. In den nach rechts rückenden Nachbarländern geschieht das ja schon.

Die Leerstelle wird zur Bruchstelle

Gesellschaftlich wie kirchlich wird die Leerstelle zur Bruchstelle. Es ist ein Unterschied, ob ich die Leerstelle fühle oder in meinem Geldbeutel habe. Es ist ein Unterschied, ob mir Gott fehlt oder meine Arbeitsstelle Corona zum Opfer fiel, mein Haus in den Fluten davongeschwommen ist oder kein Geld da ist, um das Wohnzimmer zu heizen.
Bruchstelle meint, dass vieles konkret einbricht und brüchig wird. Es sind gesellschaftliche Einbrüche wie sinkender Lebensstandard und Inflation, es kommt zu kirchlichen Einbrüchen wie rapide abnehmende Zahlen bei den Gottesdienstbesucher/-innen, Taufen und Hochzeiten, steigende Zahlen bei den Austritten. Die äußeren Zahlen spiegeln auch innere Abbrüche. Ehemalige Kirchgänger/-innen staunen selber, dass ihnen nichts fehlt, persönliche Überzeugungen erodieren, Religion wird in mehrfacher Hinsicht zur umkämpften Option (Charles Taylor).
Doch das ist die negative Sicht auf die Leere und den Bruch. Allzu oft werden die negativen Risiken der Veränderung betont und nicht die Chancen. Auf diese Weise verschlimmert man das Problem. So belegt der deutsche Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel empirisch, dass Inflation und Energieknappheit nicht zu Entsolidarisierung führen, sondern wahrscheinlicher zu gegenseitiger Unterstützung und Zusammenhalt. Auch der tschechische Theologe Tomáš Halík sieht in der mittäglichen Krise die Chance für den Nachmittag des Christentums. Ist also das leere Grab auch heute, in der Symbolik der Leerstelle genau wie damals die Ermöglichung einer anderen neuen Erfahrung?
Es kann auch gar nicht anders sein. Wenn in der Gesellschaft alles fluide wird, muss auch der Glaube fluide werden. Wenn vieles zerrinnt, muss auch Gott zwischen den Fingern zerrinnen – vielleicht nicht bei jeder Person, aber systemisch betrachtet schon. Denn weder Gott ist ein Konrastprogramm zur Welt noch die Gemeinde eine Konstrastgesellschaft zur real existierenden. Gott steht nicht über der Welt oder gar gegen sie, Gott ist als bezogener Gott, als Gott in Relation von den Ereignissen der Welt betroffen, von den Erfahrungen der Menschen berührt und in sie hineinverwoben, hineingezogen. Gott lässt sich hineinziehen in das, was Menschen aktuell erleben.
In einem Onlinekurs über Gottesbilder ließ ich biblische Bilder betrachten und auswählen. Weil gerade der Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgebrochen war, wählten die Teilnehmenden mehrheitlich die Bilder Schweigen und Wolke. Eine Teilnehmerin meinte, sie würde lieber Liebe wählen, aber das wäre nicht ehrlich. Es ist kein Verlust, sondern eine Stärke des Glaubens, dass er mit den Erfahrungen korrespondiert, die wir Menschen aktuell machen müssen, jede/-r noch einmal verschieden. Es ist eine Stärke, wenn uns der Glaube nicht in eine Gegenwelt befördert, aus der wir uns womöglich über andere erheben können. Der Glaube gibt uns vielmehr den Auftrag, mit den Mitmenschen die Leere auszuhalten, die Bruchstelle wahrzunehmen und nicht mit frommem Gesülze zu übertünchen. Wenn das Grab leer ist, ist es leer, der Glaube ist nicht dazu da, die Dinge zu beschönigen.

Geht nach Galiläa

Man kann allerdings einen Fehler machen, nämlich, im Bild gesprochen, vor dem leeren Grab zu lange verharren. Vielleicht ist das ein Fehler der offiziellen Kirche, dass sie lieber vor dem Vergangenen stehen bleibt als ihre Veränderung zu riskieren. Denn wenn es im Evangelium heißt, „er ist nicht hier“ (Mk 16,6), dann muss man das ernst nehmen und sich dorthin aufmachen, wo Gott zu finden sein könnte. Auch Jan Loffeld versteht unter dem Aushalten der Leerstelle das Eintauchen in die Problemlösungskompetenzen des Volkes Gottes.
Das leere Grab wird wie damals zum Grund der Hoffnung, wenn es uns in die Suchbewegung führt und nicht in die Erstarrung, wenn es uns in die eigenen und fremden Erfahrungen eintauchen lässt, um von ihnen her und aus ihnen heraus eine emergente Theologie zu entwickeln. Dies kann man nicht allein, genau dazu braucht man das „Volk“ oder zumindest Vergemeinschaftungen, um die Ohnmacht und die neuen Entdeckungen zu teilen. Die Leerstelle auszuhalten, bedeutet auch, sich der Ohnmacht zu stellen: „Die Ohnmacht gilt es auszuhalten, [...] dazu kann sich eine doppelte ‚Strategie‘ nahelegen: Ohnmachtserfahrungen spiritualitätstheologisch zu nutzen bzw. zu begehen sowie kenotisch nach neuen Orten zu fragen, an denen sich im Volk Gottes das Neue bereits bislang unerkannt zeigt“ (Jan Loffeld).
In der neuesten Theologie ist die Rede vom schwachen Gott, vom Gott des Vielleicht, z.B. bei John D. Caputo. Das leere Grab lässt keinen triumphalistischen Gott übrig, sondern verweist auf einen schwachen. Die Empfindung ist mehr der Entzug als das Offenbare, Galiläa ist nicht Rom und verweist mehr auf die Suche als auf das mit Macht Gefundene und Konservierte. Wenn man die Leerstelle Gottes aushält, fehlt vielleicht, was man vormals als Gott kannte. Aber am Horizont von Galiläa zeigt sich Neues: Gott, der/die auf dem Weg entgegenkommt und allzu oft unerkannt vorbeigeht. Gott, der/die sich im Mitmenschen finden lässt, und dann geht es nicht um große Gefühle, sondern um harte Arbeit der Mitmenschlichkeit. Gott, der/ die sich im konkreativen Geschehen ereignet, weil mir der/die andere als Christus aufscheint, weil sich eine gute Lösung für alle zeigt, weil Verbundenheit erlebt wird und Friede. Gott, der/die die Leerstelle bleibt, weil sich nichts fügt, nichts zeigt, nichts geht, was Menschen der Liebe näherbringt. Überall Gott ohne Gott. Überall Gott mit Gott, aber nie zu fassen, nicht einzugrenzen und niemals im Besitz einer auserwählten Gruppe.

Der Kairos des leeren Grabes

Auch Tomáš Halík sieht in der Krise, wenn Gott in seiner bisherigen Auffassung abhanden kommt, eine Chance. „Holen wir unseren Glauben an die Gottheit Jesu zurück aus den dogmatischen Definitionen, deren Sprache für viele unserer Zeitgenossen unverständlich ist, zurück zu der Orthopraxis unserer solidarischen Offenheit für die Theophanie (Offenbarung Gottes) im Leid der Menschen in der Welt.“ Allerdings kommt dieser, wie er es nennt, Nachmittag des Christentums nicht von allein, er muss vorbereitet werden. Er kommt nicht, wenn wir am leeren Grab verharren, auch wenn es die Leere auszuhalten gilt. Er kommt nicht, wenn wir uns zurückträumen in das, was einmal war: seien es die lebendigen Gemeinden, der allmächtige souveräne Herrscher-Gott, die Blüte der Kirche oder die Zeiten des unantastbaren Wohlstandes.
Der Kairos, so wissen wir vom Mythos, muss ergriffen werden. Es braucht die Bereitschaft, die Infragestellungen zuzulassen und neu zu suchen. Man muss sich, wie Halík sagt, zum Glauben durchzweifeln, wohl wissend, dass dieser „neue“ Glaube nicht vorhersehbar ist.
Ich beobachte bei allen Theolog/- innen, die sich mit der Corona-Krise und aktuell gesellschaftlichen Krisen befassen, wohlgemerkt nicht mit den kirchlichen, eine Wende zur Orthopraxie. Ich habe das auch schon ein wenig belächelt, dass die Praxis den Ausweg bieten muss, wenn die Theorie der Theologie versagt. Aber vielleicht ist es umgekehrt: die geforderte Praxis des Christseins findet nicht jenseits der theologischen Theorie statt, sondern ist diese. Der spätchristliche Glaube entsteht in der Praxis gelebten Lebens und Glaubens. Er ist emergenter Glaube, emergente Theologie. Er erwächst aus dem Lebensglauben der Menschen, die Tag für Tag das Leben an- und auf sich nehmen; aus dem Gottglauben der Menschen, die einen Blick haben für den größeren Zusammenhang allen Lebens und sich deshalb im Kleinen oder Großen für das Klima und die Menschlichkeit einsetzen; aus dem Christusglauben derjenigen, die überall Christus sehen, die in ausnahmslos jedem Menschen versuchen, Christus zu entdecken und in der Kommunikation mit dem Nächsten zeigen, dass sie diesen Blick realisieren wollen, auch wenn es nicht immer gelingt. Allen, die ihre Kirche zu leer und die Gemeinden zu wenig lebendig finden, empfehle ich diese Wende.
Das leere Grab bedeutet heute weniger glauben und gleichzeitig mehr. Es ist nicht mehr möglich, den Menschen einen bestimmten orthodoxen Glauben abzuverlangen und ihnen die Zustimmung zu Glaubensinhalten beispielsweise in der Liturgie unterzuschieben, die Folge ist, dass sie sich distanzieren. Wir müssen als Kirche mit weniger Glauben auskommen, mit Suchen und Zweifeln, mit Stammeln und Ahnen, mit Wolke und Schweigen. Aber wir brauchen den täglich gelebten und nahezu zu beschwörenden Glauben an das Leben, den Lebensglauben, wie Christoph Theobald ihn treffend nennt. Die säkulare Welt braucht, so Theobald, die Christ/-innen, die den Lebensglauben der Menschen stärken, die an den leeren Gräbern stehen und mit den Menschen aus halten und die sich mit ihnen nach Galiäa wenden, um neu zu suchen, wo das Leben zu finden ist. Lebensglaube, so Theobald, gibt es bei jedem Menschen; und bei jedem kann er in bestimmten Situationen brüchig werden und braucht Vertrauen, Ermöglichung und Stärkung. Für Christ/-innen ist dieser Lebensglaube umfangen von einer zugesagten Hoffnung, von einem Gott, der/die Ja sagt. Doch auch für Christ/-innen gilt, die Leere ist die Schwester der Fülle, der Zweifel der Bruder des Glaubens.
Das leere Grab wird so zum Symbol, dass Christsein nichts ist, was man hat, sondern etwas, was immer vor einem liegt. Der Autor Frank Berzbach formuliert es so: „Christ zu sein ist gar keine Entscheidung, sondern ein Fernziel. ‚Ich bin Christ‘ zu sagen erscheint mir wie eine Selbstadelung; dazu müsste ich meine Feinde lieben. Aber so weit bin ich nicht. Ich versuche, Christ zu werden.“

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