Corona deckt Entfremdungen aufMenschen suchen andere Erlebnisräume des Glaubens

Die klassische Form der Gemeindekirche mit dem Sonntagsgottesdienst im Mittelpunkt ist verloren. Gottesbegegnung braucht neue Formen.

Meine alten Kundinnen beschweren sich: „ ‚Was? Für den Gottesdienst anmelden? – Da bleib ich lieber gleich zuhaus.‘ Und ich glaube nicht, dass die mal wiederkommen.“ So sagte es mir meine Friseurin neben dem Dom. Ein evangelischer Pfarrer meinte gleich, die Christen bräuchten die Oblate nicht. Und meine eigene Erwartung, dass nach Wiedereröffnung der Kirche mit begrenzten Platzzahlen die Plätze nicht reichten, war auch nur ein Traum. Corona zeigt – auch vor allen genauen empirischen Studien –, dass die Praxis der Eucharistie sich als nicht stabil erweist. Viele haben sich an den Online-Angeboten erfreut: Sie konnten von zuhause auswählen, was sie suchten, und, wenn es nicht ansprach, auch gleich ausschalten. Nicht die Konfession war entscheidend, vielmehr die Qualität der Musik, der Bildwelt, der Ansprache und Gebete, der angesprochenen Gefühle. Da war vieles besser als sonntags in der Heimatgemeinde. Gesucht wurden:

  • geistliche Anregungen und Deutungen des Lebens in der Krise,
  • emotionale Erbauung und Motivation durch Musik und Bild;
  • sicher auch ein Gefühl von Gemeinschaft, über das Wohnzimmer hinaus – da haben sich zum Teil neue Fernseh- und Online-Gemeinden konstituiert.
  • Für einige war auch wichtig, dass sie sich per Chat oder Konferenz beteiligen konnten.

Die klassische Idee der „geistlichen Kommunion“, zu der katholische Zelebranten einluden, war für kaum jemanden nachzuvollziehen. Überhaupt war die Darbietung des eucharistischen Teils der Messe nur für wenige relevant. Was hier in schneller Folge deutlich wurde, war jedoch schon erahnbar, da ja in gut 30 Jahren die Zahl der Sonntagsgottesdienstfeiernden auf etwa ein Drittel zurückgegangen ist.
Sicher war auch die Verbindung mit bekannten und symbolischen Personen wichtig: Der Bischof war plötzlich in der ganzen Diözese präsent. Und manche Pfarrer erschlossen sich mit Online-Formen ganz neue Zuhörer/-innenkreise. Als der Fuldaer Stadtpfarrer seine morgendlichen Impulse wieder reduzieren wollte, gab es fast einen Entrüstungssturm. Wir müssen wieder beobachten, was hier passiert.
Unsere Kirchen haben in kurzer Zeit viele Initiativen für digitale Präsenz platziert, zum Teil mit hohem kreativem Potential, zum Teil aber auch eher zum Schämen. Wenn sie bereit sind, diese Formen weiter zu qualifizieren, werden sie auch relevant bleiben.

Wer schätzt die Sakramente noch?

 Für mich sind diese Beobachtungen jedoch zugleich Hinweise gerade in unserer katholischen Tradition, dass die Bedeutung der Sakramente, wie wir sie klassisch entfaltet haben, rapide schwindet, wenn nicht sogar verloren geht – und das nicht erst seit Corona.
Nach der Beichte, dem Sakrament der Versöhnung, fragen nur noch ganz selten Menschen. Auch die Krankensalbung als individuelle Zuwendung wird kaum noch angefragt und schon gar nicht als heilsnotwendig gesehen. Das Wort meines Bruders, dass die Wirksamkeit wichtiger sei als die äußere Form, wird von immer weniger Menschen geteilt.
Die Sakramentsfeiern zu Geburt (Taufe), Hochzeit (Ehe) und die Begleitung im Tod (Beisetzung) sind längst nicht mehr kirchliche Monopole. Es ist nicht selbstverständlich, dass hier die Pfarrei angefragt wird, zumal manche freie Ritenbegleiter und Redner biographisch wesentlich genauer die Menschen in ihrer Situation ansprechen.
Das Sakrament der Firmung wird in seiner Vorbereitung und Feier seit Jahren als Krisensakrament gesehen und führt nur selten zu der von Katecheten ersehnten klaren Entscheidung der jungen Menschen für Gott, Glaube und Kirche, sondern ist eher eine emanzipatorische Freigabe.
„Abschied von Hochwürden“ haben wir bereits seit den 1960er Jahren angekündigt. Inzwischen scheint er gelungen. Zum einen ist die Nähe zu den Pfarrern in den größeren Räumen schwieriger zu gewährleisten, zum anderen kommt es mehr auf die Qualität der Seelsorger/-innen an. Ob sie geweiht sind, ist ebenso wenig wichtig wie die Frage ihrer formalen Bildung als Theologen. Es geschieht, wie zu Zeiten der Wüstenväter, dass sich herumspricht, wo man gut hingehen kann. Qualität und Beziehungsfähigkeit sind wichtiger als sakramentale Ämter.
Dass dies alles beschleunigt geschieht, hängt zugleich an dem großen Vertrauensverlust aufgrund der Missbrauchskrise und der mangelhaften und selten offenen und transparenten Kommunikation.
Wenn dies alles so stimmt, dann stecken wir in einer tiefen Krise des sakramentalen Grundverständnisses unserer Kirche.

Die sieben Sakramente und die Grundstruktur der Kirche

Sakramente sind entweder für die, die sie feiern, wichtige Riten zu Lebenswenden – so Taufe, Erstkommunion, Firmung und Trauung. Dann kommt es darauf an, dass die Gestaltungsarten der Riten die jeweilige Lebenswendesituation gut treffen. Die individuell ausgerichtete Feiergestalt ist im Mittelpunkt. In Corona-Zeiten waren manche Familien geradezu froh, dass die Taufe ihrer Kinder nicht mehr als Feier für mehrere in der Gemeinde gefeiert werden konnte, sondern ganz privat und persönlich. Religion war für sie Privatsache und Sache der Familie geworden, der Zelebrant dafür der Dienstleister. Die veränderte Form der Erstkommunionfeier, die ebenso eine individuellere Gestaltung möglich machte, war dagegen längst nicht von allen gewünscht. Das große öffentliche Event, das die Kinder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellte und den Eltern eine stolze Präsentation des Nachwuchses erlaubte, fehlte. Die konzentriertere geistliche Begegnung mit Jesus in der Messfeier war nur für die kleinere Zahl einleuchtend und erwartet.
Trauungen wurden einfach als öffentliche Events verschoben. Sie haben für die Art des Zusammenlebens nicht mehr die Bedeutung wie früher, als es erst danach möglich war, einen gemeinsamen Haushalt zu gründen. Nicht die Segnung und der Bund vor Gott stehen im Vordergrund, sondern wiederum die öffentliche Präsentation.
Sakramentsfeiern werden eher öffentliche Inszenierungen als geistliche Erfahrungen. Besonders geschehen ist das mit der Feier der Firmung. Noch vor 50 Jahren wurde eher unauffällig beim nächsten Bischofsbesuch nach der Erstkommunion gefirmt, jetzt sind es öffentliche Ereignisse im Sinne einer „Jugendweihe“ und der Anerkennung höheren Ansehens der Jugendlichen. Die Krankensalbung ist für nur wenige Rest einer religiösen Bindung. Ob Salbung oder Segnung ist für die wenigsten unterscheidbar: Vor dem Sterben wird halt der „Pfarrer“ gebraucht. Dieser „Pfarrer“ kann auch die Krankenhausseelsorgerin oder der Diakon sein. Wenn dann aus Schutz vor Covid-19 plötzlich die Berührung bei Salbung und Segnung nicht mehr möglich ist, dann wird die Sakramentswirkung wirklich verkehrt. Franziskus oder Damian de Veuster, die Heiligen der Zuwendung zu leprösen Menschen, würden dies wirklich nicht mehr verstehen.
Sicher mag diese Beschreibung der Relevanz und Deutung der Sakramente manchen zu holz schnittartig und negativ sein. Die notwendige empirische Studie steht noch aus. Dennoch ist die Tendenz an der Teilnahme an den Sakramenten ablesbar.

Sakramentale Grundstruktur

Dass die Feier der Sakramente das sakramentale Grundverständnis der Kirche als Ganzes betrifft, ist zwar theologisch eindeutig beschrieben, im Bewusstsein der Gläubigen jedoch nur begrenzt wahrgenommen:
„Die Kirche war während der Corona-Krise zu wenig präsent“, so lautet ein Vorwurf, der zum Teil recht prominent vorgetragen wurde. Es stimmt sicher, dass die Hauptberuflichen der Kirche genauso verunsichert waren, wie die ganze Bevölkerung, und dass einige sich sehr ängstlich zurückgezogen haben, andere recht unbekümmert blieben oder gar mit neuer Kreativität Kontaktarbeit aufgenommen haben. Dass es kirchenamtliche Reaktionen gab, wie das ökumenische Hirtenwort vom 20. März (https://dbk.de/ fileadmin/redaktion/ diverse_ downloads/presse_2020/2020- 046a-Gemeinsames-Wort-der- Kirchen-zur-Corona- Krise.pdf [12.10.2020]), wird kaum wahrgenommen. Die Erwartung vieler war eine individuelle Kontaktnahme, ein Trost und bei Bedarf soziale Hilfe. Diese Erwartung spiegelt letztlich, was Kirche wirklich sein sollte: Sie ist lebendiges Zeichen und Werkzeug der Nähe Gottes. Kirche soll in der Art ihres Auftretens und ihrer Organisation „pastoral“ sein, also zugewandt, wie der Hirte zu den Seinen. Die biographische Nähe, die Menschen in den Sakramentsfeiern erwarten, ist vielleicht genau das Richtige und damit eine Korrektur zu langer kirchlicher Praxis. Nicht die Richtigkeit des Ritus, die kirchliche Ordnung, sondern die Zuwendung zu den Menschen ist das, was ersehnt und erhofft wird. Dann wird Kirche das, was sie tatsächlich von Jesus Christus her ist. Er ist das wirksame Zeichen der Treue Gottes zu allen Menschen, das sich in der Kirche und ihren Sakramentsfeiern spiegeln muss.

Erlebnisräume der Kirche

Die sakramentale Struktur der Kirche hat dann eine Zukunft, wenn sie neu begreift, ihre Ausrichtung in den Sakramentsfeiern zu verdeutlichen. Wahrscheinlich brauchen wir eine andere Form von ritueller Sprache und zeichenhafter Kultur, um Menschen in den Feiern eine Erweiterung der Erfahrungsräume des Glaubens und eine Berührung zu gönnen. Da helfen weniger Ritusbücher als Hilfen für eine echte Begegnung. Da hilft die Kraft, Leben aus dem Glauben zu deuten ohne oberflächlichen Trost. Da braucht es Menschen, die emotional vertieft aus einer tiefen Gottesbeziehung antworten, die den Segen verdeutlicht und die Klage ausspricht.
Manche oberflächlichen Antworten, warum Gott Corona zulässt, sind da nur peinlich.

Neue Qualitätsansprüche

Diese Veränderung unserer Kultur fordert die Leiter der Feiern neu heraus und verlangt neue Qualitätsprüfungen. Insgesamt scheint es mir notwendig zu sein, eine neue Feedback-Kultur oder gar ein liturgischhomiletisches Coaching zu fördern, das hilft, dass die Liturginnen und Liturgen wahrnehmen, was sie tun und lassen. Die Corona-Pandemie würde dies schon dadurch erleichtern, wenn diejenigen, die in diesen Monaten mit Medienangeboten online gehen, bereit sind, offensiv nachzufragen, was denn von dem, was sie sagen und zeigen, wahrgenommen wird. Manche Veränderungen würden dann geschehen, wenn die Handelnden überhaupt sehen, was sie tun.
Doch über diese ästhetischen Fragen hinaus sollte die Kirche intensiver über den Zusammenhang von Sakrament und Biographie nachdenken und dazu vieles neu formulieren und konzipieren! So werden kirchliche Begegnungen für viele neue Erlebnisräume des Glaubens, Chancen die Nähe und Wirksamkeit Gottes zu spüren.

FAZIT

Corona macht deutlich, dass Menschen vor allem dann bereit sind, sich auf die Kirche und ihre Feiern einzulassen, wenn sie spüren, dass sie selbst gemeint sind. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst (GS 1) brauchen mehr als Ritus. Sie brauchen Berührung und darin neue Erlebnisräume, um zu glauben.

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