Versuch eines erneuerten Führungsverständnisses angesichts eines grundlegenden Transformationsprozesses von KircheLokale Kirchenentwicklung und Führung

Der Begriff lokale Kirchenentwicklung steht wie kein Zweiter für die Idee einer partizipativen, aus dem Bewusstsein der Taufe heraus sich entwickelnden Kirche im jeweiligen Sozialraum, die versucht, die Charismen aller ernst zu nehmen und basierend auf dem Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanums das gemeinsame Priestertum aller Getauften zu leben. Hierzu sind viele Erkenntnisse, Methoden und Denkanstöße aus unterschiedlichen weltkirchlichen Kontexten (Erfahrungen aus Linz, Großbritannien und Poitier ebenso wie aus Übersee: Südafrika und Asien) verarbeitet und adaptiert worden. Derzeit lassen sich in diesem Zusammenhang allerdings nur sehr wenige Hinweise zu einem sich notwendigerweise veränderten kirchlichen Führungsverhalten identifizieren.

Das Verständnis lokaler Kirchenentwicklung basiert auf einer Volk- Gottes-Theologie, die ekklesiologisch an der Taufe als Grundsakrament der Kirche ansetzt und diese als prozesshaftes Geschehen im Leben eines Christen versteht, d. h. nicht als einmaliges Initiationssakrament, sondern als eine immer wieder neue Aneignung bzw. Auseinandersetzung mit der je eigenen Gottesbeziehung und dem Sendungsauftrag der Kirche.

Lokale Kirchenentwicklung bedeutet dann, dazu beizutragen, dass Menschen sich selbst als Kirche vor Ort verstehen lernen, die mit ihren je eigenen Möglichkeiten versuchen, ihre Kirche und ihr Christsein zu leben, ihren Glauben zu feiern, zu verkünden und ihn in Wort und Tat zu bezeugen.

Leadership bzw. Leitung solch eines Entwicklungsprozesses besteht folglich genau darin: Für Menschen erfahrbar werden zu lassen und ihnen zuzutrauen und zuzusprechen, dass sie Kirche vor Ort sind und aus diesem Bewusstsein heraus ihren Glauben leben. Notwendig erscheint hierzu bei Führungsverantwortlichen, z. B. vor Ort in der Pfarrei oder in Ordinariaten, ein Kirchenverständnis, dass diesem Taufbewusstsein Rechnung trägt, größtmögliche Partizipation ermöglicht und ein glaubwürdiges Beispiel für ein Leben aus dem Evangelium repräsentiert. In der Sprache der Führungsliteratur entspricht dies dem charismatischen Führer, der in der Lage ist, andere von einer Idee zu begeistern, diese Idee auch gegen Widerstand durchzuhalten und so einen Veränderungsprozess anzustoßen.

Doch reicht dieses Verständnis, um einen auf Dauer angelegten, tiefen Transformationsprozess in der katholischen Kirche anzustoßen? Welches Knowhow wird benötigt und welche Auswirkungen hat dies auf ein erneuertes Führungsverständnis?

Spielarten der Führung

Arthur Ledger, Direktor des East Asian Pastoral Institute auf den Philippinen, hat anlässlich eines im Sommer dieses Jahres in Bochum stattgefundenen Kongresses zum Thema Taufbewusstsein und Leadership von den Veränderungsprozessen auf den Philippinen berichtet. Er spricht von drei wesentlichen Phasen bzw. Spannungen, auf die die Kirche zu reagieren hatte.

  1. Den Perspektivwechsel der Kirche hin zu den Menschen
  2. Von einer glaubwürdigen Theologie hin zu einer authentisch gelebten Spiritualität
  3. Die Veränderung zu einer echten, lebensverändernden pastoralen Praxis

Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass Arthur Ledger diese drei Entwicklungsphasen bzw. Spannungen mit konkreten Personen und deren unterschiedlichem Führungsverständnis identifiziert.

Zu 1) Bischof Labayan, 1966 zum Bischof ernannt und seit 2003 in Ruhestand, wird von Ledger als „transformational leader“ bezeichnet. Unter seiner Leitung ist es gelungen, einen grundlegenden Wandel der Pastoral einzuleiten. „From The God of Christians to the one God of all people, From mission to pagans to mission to God’s people, from patriarchal culture to a culture of care and nurture.“

Zu 2) Ein Jesuitenpriester, der als Berater der Asiatischen Bischofskonferenz tätig war. Diesen bezeichnet Ledger als „authentic leader“, der wesentlich mitgewirkt hat an der Veränderung „From studying theology to do theology, from theology of liberation to spirituality of liberation.“ Zu 3) Zu guter Letzt Papst Franziskus, den er als „paradoxical leader“ definiert, als jemanden, der den Fokus auf die zugrundeliegende Haltung und das Selbstverständnis eines Christen richtet, indem er folgende Transformation anstößt: „From looking at the poor to making them the center, from complacency to reforming the social structures, which perpetuate poverty and the exclusion of the poor, first requires a conversion of mind and heard.“ Was lässt sich aus diesen Hinweisen für das Zueinander von lokaler Kirchenentwicklung und Führung lernen?

Aktuell lebt der Prozess lokaler Kirchenentwicklung sehr stark von authentischen, zutiefst spirituell geprägten charismatischen Persönlichkeiten. Diese haben nicht nur ein ausgeprägtes ekklesiologisches Verständnis der oben genannten Volk-Gottes-Theologie, sondern leben selbst überzeugend eine sich hieraus ergebende christliche Spiritualität. Dies kann man nur bewundern! Sie sind so, gewollt oder ungewollt, zugleich Träger, Initiatoren und glaubwürdige Zeugen für einen Veränderungsprozess, der nicht einfach aufgrund eines starken Rückgangs der Priesterberufungen, sondern aufgrund einer tiefen kulturellen Veränderung der Zugehörigkeitsdefinition des einzelnen Gläubigen aktuell die Wirklichkeit der Kirche in Deutschland radikal beeinflusst.

Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wo es Lehrstellen und Handlungsbedarfe gibt, um diesen Transformationsprozess in seiner Tiefenwirkung erfassen, verstehen und begleiten zu können.

Transformationale Führung

Der Wuppertaler Professor für systematische Theologie Michael Böhnke bezeichnet es als ein Aggiornamento, d. h. ja wohl Zeichen der Zeit, „dass durch die Erkenntnisse der modernen Führungsforschung der Weg von der charismatischen Herrschaft zu transformationaler Führung vorgezeichnet ist“. Wenn man den Prozess lokaler Kirchenentwicklung tatsächlich als grundlegenden Kulturwandel der Theologie und des Kirchenverständnisses in Deutschland versteht, kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass es dann weitere Kompetenzen braucht, um solch einen Kulturwandel aktiv gestalten zu können. Hierzu gehören Erkenntnisse der Organisationsentwicklung (z. B. die Frage, wie partizipationstauglich die Organisation Kirche denn wirklich ist, wie es in Krisensituationen mit dem Paradigma Partizipation bestellt ist, wie sich die hierarchische Struktur der Kirche und die partizipative Logik des Volk-Gottes-Ansatzes zueinander verhalten, welche unterschiedlichen Kirchenbilder eine Bedeutung haben und wirken etc.), aber auch Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Kultur- und Strukturveränderungen. Dies betrifft vor allem die Frage, wie strukturell abgesichert werden kann, dass dieses Kirchenverständnis personenunabhängig Gültigkeit hat und behält.

Transformationale Führung meint in diesem Sinne die Fähigkeit, Veränderungsprozesse in einer Organisation gestalten zu können, sowohl Prozess- wie auch Fach- Knowhow zu besitzen und so als eine Art Change Manager für Kirchenentwicklung zu fungieren.

Paradoxe Führung

Arthur Ledgers Hinweis auf Papst Franziskus ist ein Beispiel für paradoxe Interventionen. Die systemische Organisationsentwicklung bezeichnet die Musterunterbrechung als eine der stärksten Formen der Intervention. Erst durch Irritationen werden soziale Organisationen in die Lage versetzt, sich zu verändern. Papst Franziskus mutet dieser Kirche ständig Musterunterbrechungen zu: Die Bitte um das Gebet für ihn am Tag seiner Wahl, die erste Reise nach Lampedusa verbunden mit dem Gedenken an die ertrunkenen Bootsflüchtlinge, die Fußwaschung in einem Gefängnis etc. sind einige wenige Beispiele dafür, dass er immer wieder mit den Erwartungen anderer und vermeintlichen Konventionen bricht. So hat er in den vergangenen zwei Jahren womöglich mehr Veränderung hin zu einer nicht nur rhetorisch nah bei den Menschen stehenden Kirche getan.

Kontextualität

Während des bereits erwähnten Bochumer Kongresses ist von verschiedenen Referenten, sei es aus Deutschland oder aus weltkirchlichen Kontexten, wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Theologie und jegliche Pastoral immer kontextuell zu verstehen sind. Dies bezieht sich nicht nur auf den jeweiligen Ort (den kulturellen, sozialen, ökonomischen, wirtschaftlichen Kontext), sondern auch auf die konkrete Zeit, in der sich bestimmte Gegebenheiten, Verhältnisse und Verhaltensweisen manifestieren. Dem muss folglich auch Führung im Kontext lokaler Kirchenentwicklung Rechnung tragen.

Es gilt, wesentliche Trends und Entwicklungen zu beachten, die hier nur als Fragen angedeutet werden können.

Wie gelingt die Stärkung des Taufbewusstseins in einer Kirche, in der das Paradigma der Pfarrfamilie in den vergangenen Jahrzehnten prägend gewesen ist? Wie gelingt die Stärkung des Taufbewusstseins in einer stark hauptamtlichen und sehr reichen Kirche wie der unsrigen in Deutschland?

Wie werden wir gleichzeitig der Tatsache gerecht, dass der überwiegende Teil der Christen heute eine lebensbegleitende Ritengestaltung wünscht und erwartet und an keiner weitergehenden Reflexion des „Selbst-Kirche-Seins“ interessiert ist?

In der Zeitschrift Harvard Business Manager Juli 2015 gibt eine Grafik Auskunft über die weltweit unterschiedliche Gestaltung von Leadership und die jeweils besonders stark bzw. schwach ausgeprägten Items. Managern in Europa wird vor allem eine hohe analytische Kompetenz sowie die Fähigkeit zugeschrieben, andere besonders gut überzeugen zu können. Empfohlen wird den Europäern, tatkräftiger zu werden, auf Wandel flexibler zu reagieren und weniger strukturiert und starr zu agieren. Auch dies sind womöglich kontextuelle Rahmenbedingungen, die es zu bedenken gilt.

Das ganze Bild

Somit ergibt sich für die Ausgangsfrage des Zusammenhangs von lokaler Kirchenentwicklung und kirchlicher Führungsentwicklung folgendes Gesamtbild, das nicht nur zufällig an das bekannte TZI-Dreieck erinnert.

Fazit

Lokale Kirchenentwicklung wird sehr stark inspiriert durch authentische, charismatische Führungspersönlichkeiten. Diese braucht es, um die Vision solcher Entwicklungsprozesse zu entwickeln, zu repräsentieren und wachzuhalten. Das Beispiel der Philippinen sowie die Tiefe der Veränderungen machen gleichzeitig deutlich, dass es weiterer Führungsinhalte und -aspekte bedarf, um solch einen Transformationsprozess gut gestalten zu können. Die Beschreibungen von Arthur Ledger machen darüber hinaus zweierlei deutlich: Solche Veränderungsprozesse brauchen Zeit und erfordern immer wieder neu die Fähigkeit und Bereitschaft zur Veränderung und Weiterentwicklung. Zum anderen sind sie ein Beleg dafür, dass nicht einer oder eine allein alles können, machen und bedenken muss. Beides sehr tröstliche Perspektiven!

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