Religionsverbindende Haltung erlebenChristliche Gastfreundschaft im christlich-islamischen Dialog

Vor einigen Jahren habe ich einmal einen ganzen Nachmittag lang mit Verantwortlichen, Mitgliedern, Freudinnen und Freunden einer großen Moscheegemeinde in Hamburg diskutiert. Wir haben einander zugehört, offene Worte gewechselt und gespürt, dass wir als religiöse Menschen sehr vieles gemeinsam zu entdecken haben.

Wir können bequeme Vorurteile überwinden und auch voneinander lernen. Gemeinsam stehen uns die Menschen vor Augen, von Gott geliebt und ernst genommen. Es ist gut für uns, wenn der Glaube an Gott uns Halt gibt, wenn er unser ganz persönliches und auch das gemeinsame Leben prägt.

Verbunden in der Ehrfurcht vor Gott

Wir wollen in unserer Gesellschaft, die immer frei und offen bleiben muss, dazu beitragen, dass der Glaube an Gott nicht untergeht, dass Gottes unendliche Größe, seine Schönheit, sein undurchdringliches Geheimnis bei allen Ungewissheiten und Rätseln des Lebens über uns aufleuchten kann. Gott muss für uns immer der Gott der Freiheit bleiben. Wer ihn für seine Interessen gebrauchen will, wer Macht und Gewalt im Namen Gottes ausüben will, missbraucht seinen heiligen Namen. Das darf keine Religion tun, wenn es auch noch so viele getan haben und wenn wir auch heute immer wieder neu vor der Versuchung stehen, unsere eigenen Überzeugungen über die von anderen Menschen zu stellen. Nur auf einer solchen Grundlage kann man Freundschaft entwickeln, gastfreundlich miteinander umgehen.
Zum Ende hin kamen wir in der Moschee zusammen. Christen haben am Rande Platz genommen. Aber wir waren alle unter einem Dach. Ich habe gehört, wie Muslime in ihrer Weise beten, wie sie Gott die Ehre geben. Bis heute ist mir der Klang einer wunderbaren Stimme im Ohr. Ein junger Mann – an den Rollstuhl gebunden – rezitiert eine Sure aus dem Koran. Natürlich habe ich die Worte nicht verstehen können. Aber der Gesang und die Musik haben mich getragen. Sie gaben mir das Gefühl, dass ich zu Gott erhoben wurde.
Danach kam das gemeinsame Essen mit all den Köstlichkeiten, die Menschen aus fernen Ländern zu bieten haben. Wir waren in guter Stimmung. Mit Lust auf Essen und Trinken sagte ich zum geistlichen Bruder, dem Imam: „Jetzt hätte ich so richtig Lust auf ein frisches und feines Bier!“ Er lachte mich an. „Ja, lieber Bruder Bischof, wenn Sie zum Islam übertreten wollen, dürfen Sie jetzt ein Bier trinken, aber nur noch ein einziges Mal.“
Das ist eine kleine Geschichte von Gastfreundlichkeit unter Muslimen und Christen: freundschaftlich im Dialog – klar und mit der Kraft des Gedankens –, im Stehen vor Gott, im Essen, das Leib und Seele stärkt, und gewürzt mit einem guten Schuss Humor.

Gastfreundschaft und Rücksichtnahme

Christliche Gastfreundschaft in unserem Land den Muslimen gegenüber?
Zum Glück gibt es viele gute Erfahrungen. Aber wir bleiben immer auf dem Weg. Gastfreundschaft zeichnet jeden anständigen Menschen aus. Ein Fremder, eine Fremde – sie verdienen Respekt und Hilfe. Sie brauchen freundliche Menschen, die sie aufnehmen und ihnen ein menschliches Leben ermöglichen. Und wer ein Gast ist, der muss sich nicht demütigen oder unterwerfen. Freilich nimmt ein Gast auch Rücksicht auf seine Gastgeber. Er fügt sich ein in ihre Kultur, in ihr Leben, in ihre Bräuche. Aus dem Gast kann und soll ein Mitmensch, ein Mitbürger werden. Hier gibt es ein Geben und Nehmen. Gastgeber werden „bereichert“ durch die Gäste, die Gäste lernen dazu, gewinnen neue Sichtweisen, erfahren Weite. Man soll nie vor Überraschungen sicher sein. Respekt und Rücksicht können ungeahnte „Emergenzen“ hervorbringen – wenn wir nicht dem Misstrauen, der ideologischen Sucht des Beherrschenwollens das Feld überlassen.
Muslime wurden vor Jahrzehnten in unser Land geholt. Meistens waren es Türken. Sie galten als verlässliche Gastarbeiter. Wenig Gedanken hat man sich darüber gemacht, was einmal aus ihnen werden soll. Sollen sie zurückkehren oder bleiben? Wie sollen sie bei uns leben? Heute sind sie seit mehreren Generationen unter uns, liebe und fleißige Leute, geschätzt sind die Läden in der Nachbarschaft, Änderungsschneidereien und vieles mehr. Eine verantwortliche Integrationspolitik hat es am Anfang nicht gegeben. Bis heute liegt vieles brach. „Türken“ isolieren sich, wollen etwas Eigenes sein. Perfektes Deutsch ist immer noch die Ausnahme. Am ehesten schaffen es Jugendliche und junge Leute. Auch die Heimatländer spielen ihre Rolle. Da gibt es manche unglückliche bis dumme Äußerungen. Man müsse aufpassen, dass die nach Deutschland Gekommenen nicht assimiliert aufgesogen würden. Sie finden Gehör bei gar nicht so wenigen. Und Deutsche fühlen sich oft in alten Vorurteilen bestätigt, auch dadurch verstärkt, dass die Fremden unter sich bleiben, zum Teil ihre eigenen Straßenzüge oder Viertel bilden. Katastrophal sind weltweite Terroranschläge im Namen eines natürlich pervertierten Islam, die Muslime auch bei uns in die Defensive drängen und deutsche Ängste bestätigen.
Was haben wir Christen mit all dem zu tun? Der Papst setzt klare Zeichen, mahnt zum Frieden unter den Religionen, verurteilt Gewalt im Namen der Religion, wie sie weltweit geschieht und sich an vielen Orten so fruchtbar und menschenverachtend austobt. Ich denke, in Deutschland haben wir ganz eigene Chancen und Aufgaben, an denen wir Christen besonders mitwirken können. Muslime sind Mitbürger mit Rechten und Pflichten. Sie finden – ähnlich wie für die christlichen Kirchen – vertragliche Regelungen auf Länderebene für einen Religionsunterricht im deutschen Schulsystem, für seelsorgliche Angebote in Krankenhäusern und Gefängnissen, für ein Gemeindeleben in einer freien Gesellschaft. Christen unterstützen solche Entwicklungen und helfen Menschen sich zu integrieren, ohne dass sie ihre Wurzeln aufgeben müssen, sorgen für Sicherheit mit Rechten und Pflichten.

Unsere Grundhaltung

Christliche Gastfreundschaft in Deutschland lebt in diesen Kontexten. Noch einmal: Jeder Gast ist heilig, er muss sich als Gast verhalten. Aber Muslime bei uns sind mehr: Mitbürger, Mitbürgerinnen. Christen werden sie besonders als Geschwister sehen, die im Religiösen, in der Achtung vor Gott mit uns verbunden sind. Christen lassen sich einladen, wir alle sind eingeladen, unseren Glauben an Gott zu erfahren und zu stärken. Wir als Christen wussten irgendwie theoretisch wie die Muslime sind. Das christliche Abendland hat im Mittelalter vergeblich versucht, das Heilige Land von ihnen zu erobern, bis vor Wien haben einmal die Türken gestanden. Jetzt sollen die Muslime unsere religiösen Partner, unsere Geschwister werden!
Ich markiere eine christliche Grundeinstellung: Wir wollen als Christen den muslimischen Freundinnen und Freunden als religiöse Menschen begegnen. Wir respektieren das Fremde, aber sehen das Gemeinsame. Wir versuchen, gläubige Menschen zu sein. Wir sind offen für Gott, der uns nahekommen will. Wir wollen so leben, wie es recht ist vor Gott. Wir wissen um unsere Fehler und Sünden, doch dürfen wir auf sein Erbarmen vertrauen. Christen wollen nicht, dass Muslime bei uns ihren Glauben verlieren. Sie sollen ihn behalten, neue Sichtweisen gewinnen, ihr Leben in der Hingabe an Gott neu entdecken. Gerade Jugendliche und junge Leute sollen spüren: Die moderne Welt bildet keinen Gegensatz zum Glauben. Der Glaube ist eine Einladung zum Leben heute – mit Geschmack und Freude, auch mit Lust – aber immer mit Verantwortung und mit einem Ziel vor Augen.
Muslime und Christen haben im gesellschaftlichen Leben manche Orte einer solchen Gastfreundschaft. Kindergärten in christlicher Trägerschaft öffnen sich den Muslimen. Muslime sind bei den Christen zu Haus. Eltern spüren, dass sie alle einander gernhaben. Muslimische Kinder werden nicht christlich vereinnahmt, aber auch in das schöne christliche Brauchtum mit einbezogen. Es gibt manche gute Gelegenheiten, dass auch muslimische Geistliche am Leben der Kindergärten teilnehmen. Setzen wir der Phantasie nicht so schnell die Grenzen!

Anregungen

Bei christlichen Krankenhäusern ist alles ganz selbstverständlich. Jeder, jede ist willkommen. Ich habe den Eindruck, dass gerade muslimische Frauen und Familien sich bei uns gut aufgenommen fühlen und – natürlich immer nach allen Regeln der Kunst – Hilfe und Behandlung erfahren. Wenn ich als Bischof am Heiligen Abend zu den Kranken komme, sind gerade die muslimischen Geschwister sehr freundlich zu mir.
Wie sieht es bei der Gastfreundschaft zwischen muslimischen und christlichen Gemeinden aus? Hier sind noch viele Gelegenheiten zu entdecken. Man kann sich besuchen, zu festlichen Anlässen einladen. Warum sollte man nicht einen Basar für alle zustande bringen? Mich bewegt eine Erinnerung: Als vor einigen Jahren eine katholische Kirche in Lübeck angesteckt wurde, haben uns die evangelischen Geschwister bei sich aufgenommen. Wir sind von der angebrannten Kirche zum neuen Zufluchtsort in einer großen Prozession gezogen – und der muslimische Imam hat uns begleitet. Mich hat es berührt, dass die muslimischen Geschwister mit uns auf dem Weg waren.
Wichtig bleibt immer das Gespräch über die Religion. Glaube öffnet sich der Vernunft, Vernunft kann lernen, was Glaube bedeutet. Auch hier ist auf allen Ebenen noch vieles zu tun. Manchmal tun sich Muslime bei uns schwer, weil sie in der Minderheit sind, weil sie sich immer verteidigen müssen, weil sie zu wenige ausgebildete Fachleute haben. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen gastfreundlich miteinander umgehen, aber auch klar die Fragen aushalten, die uns bewegen. Was ist mit Gewalt und Terror im Namen der Religion? Muslime wissen: Das ist ein Missbrauch, ein Schändung des Islam, und sie sagen es auch, aber die brutalen Verbrecher sind nicht wenige. Überall auf der Welt begegnen sie uns. Sie berufen sich auf Regeln des Islam und wollen nach ihnen handeln. Christen sollen immer einen guten Blick behalten, nie pauschale Vorurteile nähren. Aber zur Gastfreundschaft müssen Verlässlichkeit und Vertrauen gehören. Muslimische Geschwister bei uns, Verbandsvertreter, Autoritäten in der Welt, in der Türkei und anderswo müssen von uns hören: Sprecht eindeutig, ohne Wenn und Aber!
Wir wollen der Gastfreundschaft trauen. Sie bereichert ein menschliches Leben, schenkt Zukunft für eine menschliche Welt. Lassen wir den Ideologen, den Rechthabern und Besserwissern keinen Raum. Menschen, die Gastfreundschaft erfahren, die miteinander essen und trinken – mit Alkohol oder ohne – sind auf einem guten Weg.

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