Die Verweigerung des Fahneneides durch P. Franz Reinisch SACKann man dem Gewissen trauen?

Als einziger katholischer Priester hat P. Franz Reinisch den Fahneneid verweigert. Er stellt sein Gewissen über sein Leben und wird am 21. August 1942 enthauptet. Sein Martyrium ist ein Bekenntnis zum Gewissen als Anwalt der Persönlichkeit und Anwalt der Freiheit.

Es ist bekannt, dass sich John Henry Newman (1801– 1890) entschieden für eine stärkere Einbindung der „Laien“ in den Lebensprozess der Kirche einsetzte. Die Bischöfe seiner Zeit reagierten – gelinde gesagt – reserviert. Die Antwort eines englischen Bischofs auf die Frage, worin die besondere Aktivität der Laien bestehe, erfolgte prompt: „to pay and to obey“. Zahlen und gehorchen sei ihre vornehmliche Aufgabe. Der Hinweis auf den Gehorsam wirkt hinein bis in den Text, der im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Thema „Gewissen“ formuliert wurde, im Konzil jedoch nach heftiger Debatte eine neue Endfassung fand. In der Nr. 16 der Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute“ (Gaudium et spes) heißt es: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat.“ Der damals junge und hoch angesehene Konzilstheologe Joseph Ratzinger kommentiert diesen Text (1968). Er sieht – inspiriert von J. H. Newman – die Funktion des Gewissens darin, die Weisungen der Kirche zu begrenzen und zu ergänzen: „Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität. Mit dieser Herausarbeitung des Einzelnen, der im Gewissen vor einer höchsten und letzten Instanz steht, die dem Anspruch der äußeren Gemeinschaften, auch der amtlichen Kirche, letztlich entzogen ist, ist zugleich das Gegenprinzip zum heraufziehenden Totalitarismus gesetzt und der wahrhaft kirchliche Gehorsam vom totalitären Anspruch abgehoben, der eine solche Letztverbindlichkeit, die seinem Machtwillen entgegensteht, nicht akzeptieren kann.“ (Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage, Das Zweite Vatikanische Konzil 1968, III 328f.)

Heiligtum im Menschen

Die warnende Rede, dass sich hinter der Forderung zu gehorchen auch ein totalitärer Machtanspruch kirchlicher Autoritäten verbergen könne, war neu. Wenn das Gewissen „das Heiligtum im Menschen ist, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören“ ist, dann bezieht sich der Gehorsam auf diese innere Stimme. Hier aber liegt die Not für den Menschen, der in einer Konfliktsituation in der Regel nicht nur eine Stimme in sich vernimmt, sondern mehrere. Welche von ihnen ist „Gottes Stimme“? Das Gewissen wurde nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils zu einem heiß und äußerst kontrovers diskutierten Thema im Gefolge der Veröffentlichung der Enzyklika „Humanae Vitae“ am 25. Juli 1968. Die deutschen Bischöfe reagierten auf die Enzyklika am 30. August und erklärten in Königstein: „Wer glaubt, in seiner privaten Theorie und Praxis von einer nicht unfehlbaren Lehre des kirchlichen Amtes abweichen zu dürfen – ein solcher Fall ist grundsätzlich denkbar –, muss sich nüchtern und selbstkritisch in seinem Gewissen fragen, ob er dies vor Gott verantworten kann.“ Dennoch bleibt die Schwierigkeit: Wer sagt mir, dass meine Entscheidung der Stimme des Gewissens folgt und nicht der Stimme der Angst in mir, der verinnerlichten Autoritäten oder meinen Interessen und Leidenschaften. Auch heute werden Themen diskutiert, die letztlich nur im Gewissen entschieden werden können. Davon können Seelsorgerinnen und Seelsorger ein Lied mit vielen Strophen singen, wenn sie an die Gespräche mit Geschiedenen und Wiederverheirateten denken, an die Erlebnisse im Umgang mit den Flüchtlingen oder auch mit den Sterbenden. Kann man dem Gewissen trauen?

Dem Gewissen folgen – P. Franz Reinisch SAC

Die gleiche Frage haben sich viele Frauen und Männer gestellt, als sie sich in der Nazizeit mit ihrer Entscheidung abquälten, ob sie Hitler den Gehorsam verweigern dürfen. Einer von ihnen ist der Pallottinerpater Franz Reinisch, der als einziger katholischer Priester den Fahneneid verweigert hat, obwohl ihn sein Oberer aufgefordert hat, den Eid zu leisten. P. Reinisch weiß, dass seine Entscheidung, den Eid zu verweigern, den baldigen Tod zur Folge haben wird. Er stellt sein Gewissen über sein Leben und wird am 21. August 1942 enthauptet.
Millionen von Soldaten haben den Eid geleistet, P. Reinisch tut es nicht. Für ihn ist die Verweigerung des Eides auf einen Verbrecher Gewissenssache. Er setzt damit ein Signal wider die freundliche Unverbindlichkeit, eine geistige Grundströmung, die in unseren Tagen auch das Verhalten vieler Christen beeinflusst. P. Reinisch ist bereit, für seine Überzeugung und für den christlichen Glauben seinen „Kopf “ hinzuhalten. Für Reinhold Stecher, den früheren Bischof von Innsbruck, hebt sich Reinischs kantige und feste Persönlichkeit wohltuend ab vor der Kulisse der damaligen wie der heutigen Zeit: „Weil ich weiß, wie schwer jene Tage und Bedrängnisse waren, neige ich mich in Ehrfurcht vor diesem granitenen Gewissen. Und dies umso lieber, als wir heute eher in einer Gesellschaft leben, in der Schaumgummi und Weichspüler dominieren.“
Noch in der Zeit nach seiner Verurteilung zum Tode macht sich P. Reinisch erneut Gedanken, ob seine Entscheidung richtig ist. Anders als P. Kolbe sieht Reinisch niemanden, für den er sein Leben opfert. Er muss sogar damit rechnen, dass seine Entscheidung nicht nur seinem Leben schadet. Die Verweigerung des Fahneneides ist ein offener und öffentlicher Protest. Wird er damit nicht der Gestapo einen willkommenen Vorwand liefern, um noch energischer gegen katholische Priester und besonders gegen die Pallottiner vorzugehen und sie wie Freiwild zur Strecke zu bringen? Wenn P. Reinisch mit seiner Entscheidung rechthaben sollte, wie ist dann die Entscheidung all jener zu werten, die den Eid geleistet haben? Mag sein, dass viele sich der Problematik des Fahneneides gar nicht bewusst waren, andere sie sehr wohl spürten, aber die „tödliche“ Konsequenz scheuten. Franz Reinisch kann und will seinen Entschluss nicht zurücknehmen. „Ich weiß, dass viele Geistliche anders denken als ich; aber sooft ich auch mein Gewissen überprüfe, ich kann zu keinem anderen Urteil kommen.“ Er fühlt sich berufen, gegen den Missbrauch der Autorität zu protestieren. Äußert sich in dieser eindeutigen und festen Ablehnung des Treueeides auf eine unrechtmäßige Autorität eine Stimme, die von Gott kommt und ihn unbedingt in Pflicht nimmt, oder hat ihn „das heiße Tirolerblut“ in jene Sturheit hineingetrieben, die ihn taub macht für die Einreden seiner wohlmeinenden Freunde und Mitbrüder?
Franz Reinisch, seit 1938 in Vallendar, findet in der Schönstatt-Bewegung seine geistige Heimat. Hier entdeckt er jene Freiräume, die es ihm ermöglichen, die anvertrauten Menschen in ihrer Freiheit und Originalität ernst zu nehmen und sie auf ihrem Weg zu selbständigen und festen Persönlichkeiten zu bestärken. Die Ermutigung zur freien Entscheidung und die bewusste Förderung der Gewissensbildung mussten den Gleichschaltungsund Vereinnahmungstendenzen der totalitären und aggressiven Nazi-Ideologie zuwider sein. Das Gewissen ist für Hitler „eine jüdische Erfindung“ und „wie die Beschneidung eine Verstümmelung des menschlichen Wesens“.
Aber auch die Kirche hat sich mit dem Gewissen nicht immer leicht getan. Für die Zukunft erhofft sich Reinisch, dass die Einzelinitiative stärker zum Zuge komme. Er ist sich jedoch der Gefahren der Berufung auf den individuellen Weg bewusst: „Was früher im katholischen Leben durch zu große Vermassung bei Ausschaltung der Einzelinitiative gefehlt wurde, das kann in Zukunft durch allzu starke Betonung der Einzelinitiative bei Ausschaltung der Gemeinschaft gefährdet werden. Trotz alledem gilt wohl für die Zukunft: Freiheit, soweit als möglich, Bindung, soweit als nötig“. Er ersehnt die Kirche als Hort der Freiheit, in dem selbständige Persönlichkeiten ihren Lebensraum finden. Freiheit aber kann zu einer unerträglichen Last werden. Sie nimmt in Pflicht, nur das Beste an sich herankommen zu lassen und fähig zu bleiben, die Treue zum Gewissen über sein Leben zu stellen. Die Kraft zu seiner schweren Entscheidung erwächst aus seinem Vertrauen, von Gott selbst auf diesen Weg gerufen zu sein. Diese Überzeugung kann und will er nicht dadurch verraten, dass er seinen Oberen zu Willen ist. Er erinnert an den zwölfjährigen Jesus, der ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen, im Tempel bleibt und sie drei Tage lang schmerzlich suchen lässt. Er entschuldigt sich nicht für sein Verhalten, sondern verweist auf seinen Vater. Reinisch bezieht das Verhalten Jesu auf sich und schreibt im Gefängnis: „Es wird mehr als früher, oft zum größten Kreuz der Vorgesetzten, das Geheimnis vom zwölfjährigen Knaben im Tempel eintreten, d.h., dass Gott einzelne ruft, ihnen eine persönliche Sendung anvertraut“. Franz Reinisch nimmt den Konflikt mit seinen Oberen in Kauf. Mag er sich auch dem Vorwurf des Ungehorsams ihnen gegenüber aussetzen. Er glaubt, von Gott geführt zu sein, und ist überzeugt, dass er „im Gehorsam Gott gegenüber zum Wohl der Kirche und der PSM („Pia Societas Missionum“ – die frühere Bezeichnung der Pallottiner, H.N.) diesen einmal eingeschlagenen Weg zu Ende gehen muss“.
Entschieden wehrt er sich gegen alles, was seine Entscheidung bedrohen könnte. Er will frei bleiben und sich nicht vorwerfen lassen, aus Angst oder Verzweiflung von dem einmal eingeschlagenen Weg abgebogen zu sein. Weil fremder Einfluss hier Feigheit und Verzagtheit verursachen konnte, war „hochgradige Geistpflege“ das Gebot der Stunde. Wenn Disziplin und Treue zum einmal getroffenen Entscheid in die Isolation der Gefängniszelle führten, musste das Unverständnis der Welt, die von Starrsinn reden mochte, eben ertragen werden. Nicht der Ruf, den man in seiner Umgebung hatte, sondern der eigene, innere galt.
Auf die Frage, wer ihm den Weg der Eidesverweigerung gewiesen habe, antwortet Franz Reinisch mit dem Hinweis auf das Gewissen. In dem Gewissen erfährt er eine Art Kompass, der ihn unabhängig von den Strömungen des Zeitgeistes und den möglichen inneren Ängsten in eine Richtung führt, die ihm einerseits Freiheit verheißt, ihn andererseits einfordert. Beides erfahren wir im Gewissen: den Ruf in meine Freiheit und die unbedingte Verpflichtung zum Gehorsam, den Ruf in uns und zugleich über uns hinaus. Lassen wir uns von diesem Anruf treffen, spüren wir, dass alles auf dem Spiel steht. In der sittlichen Entscheidung können wir uns verlieren, wenn wir gewinnen wollen, und wir können gewinnen, wenn wir zu verlieren bereit sind. Reinisch setzt alles auf die Karte seiner Berufung. Nur der Wille Gottes gilt, selbst wenn es sein leibliches Leben kosten sollte.

Gewissen und Persönlichkeit

Wenn man Umfragen trauen kann, hat sich Ende der sechziger Jahre ein Trend bemerkbar gemacht, der bis heute ungebrochen ist und den sensible Schriftsteller bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit „gewittert“ haben: Immer mehr Menschen verweigern sich der unbedingten Verpflichtung und begnügen sich mit freundlicher Unverbindlichkeit. Von festen Überzeugungen, für die man einzustehen bereit ist, leben nicht nur Gruppen und Gemeinschaften, sie sind auch die unabdingbare Voraussetzung für das Glück des Einzelnen. Wo sich Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, Zivilcourage in Alltagsentscheidungen umsetzen, erschließt sich dem Einzelnen „die wichtigste Dimension der Zeitlichkeit und Geschichte. Die Geschichte wird ja nicht nur von den Ereignissen geschrieben, die sich gewissermaßen ‚draußen‘ abspielen, sondern vor allem von den ‚inneren‘ Vorgängen: Sie ist die Geschichte des menschlichen Gewissens, der moralischen Siege und Niederlagen.“ Das Gewissen verpflichtet nicht nur auf den sittlichen Wert, sondern letztlich auf die Originalität meiner Persönlichkeit. Auf eine knappe Formel gebracht kann man das Gewissen umschreiben als lebendiges Gespür für das, was ich tun und werden soll.

Gewissen als Anwalt der Freiheit

Im Gewissen entscheidet sich, ob ich unterwegs bleibe zu meinem Leben oder mir und anderen etwas vormache und vorlüge, ob ich auf dem Weg zu meiner eigenen Menschwerdung vorankomme oder zur Maske verkomme. Lebe ich aus der inneren Kraft des Gewissens oder lasse ich mich treiben, sei es von meinen Launen und Leidenschaften, sei es von dem, was andere von mir erwarten? Das Gewissen als „Anwalt der Freiheit“ steuert gegen den Trend eines zu sehr am Äußerlichen und Oberflächlichen orientierten Verhaltens. Es ruft uns in die Pflicht und erinnert uns an die eigentliche Aufgabe: „Du sollst werden, der du bist!“ Es geht um nichts weniger als um meine „Berufung“, als um das „Thema meines Lebens“, das ich und nur ich zu bearbeiten vermag. In dieser Erkenntnis liegt bereits etwas Befreiendes: Ich brauche nicht so zu werden wie die anderen, ich darf nicht nur, ich soll „Ich“ werden und mich zu dem Bild hin entfalten, das Gott in mich hineingelegt hat.
Intellektuelle Anstrengung muss sich hier mit unermüdlichem Gebet verbinden, um zur Weisheit der Unterscheidung zu gelangen und auch zu dem Vertrauen, dass Gottes Gnade jeden Irrweg zu einem Heimweg ebnen und jede Niederlage in einen Sieg über den egoistischen Stolz wandeln kann. Im Allgemeinen fällt die Unterscheidung und Entscheidung leichter, wenn sich der Prozess in einer Gruppe Gleichgesinnter vollzieht. Das gemeinschaftliche Bemühen, sich füreinander und für den Geist Gottes zu öffnen, vermag dem Einzelnen eine Atmosphäre des Vertrauens und der Geborgenheit zu vermitteln, die es ihm leichter macht, „Gott auf die Spur zu kommen und sich selbst auf die Schliche“. Durch das in Christus befreite Gewissen kommt eine Dynamik in Gang, die unser Leben sich in drei Dimensionen entfalten lässt und auf dem Weg zur eigenen Vollendung vorantreibt. Indem wir in Christus hineinwachsen, finden wir uns selbst und werden offen für die wechselseitig sich verstärkende Communio miteinander und mit dem Dreifaltigen Gott.

Anzeige:  Herzschlag. Etty Hillesum – Eine Begegnung. Von Heiner Wilmer

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