Destruktives in der Seele

Die eigene psychische Triebdynamik, wer kennt sie nicht! Vom Internet-Surfen nicht loskommen oder dem Alkohol frönen, obwohl Vernünftigeres zu tun wäre. Sich in einen Feind verkrallen, ihm nachtreten, obwohl es nur schadet und niemandem hilft. Schon immer hat der Mensch versucht, diesen destruktiven Kräften der Seele auf die Spur zu kommen. Die Asketen der Spätantike haben dazu ihren eigenen Leib zum Laboratorium gemacht. In Syrien und Ägypten zogen sie in die Wüste und übten in der Abgeschiedenheit Introspektion. Unerbittlich trieben sie Selbsterkenntnis. Der Wüstenvater Antonius zum Beispiel beschrieb seine inneren „Dämonen“. Auf dem Isenheimer Altar in Colmar ist er dargestellt, wie Fratzen und Teufel an ihm herumzerren. Auch Salvador Dalì malte den nackten Athleten, übergroßen Gebilden auf Stelzbeinen ausgeliefert.

Im vierten Jahrhundert betrieb auch Evagrius Ponticus „Seelenarchäologie“. Er ordnete und benannte die Kräfte, um sie zu bannen: Essgier, zügelloser Sex und Habgier. Sie würden einem vitalen Selbsterhaltungstrieb entspringen und sich selbstzerstörerisch aufblähen. Nur Askese könne sie bändigen. Kräfte, die mehr dem Zwischenmenschlichen schaden, seien Zorn, Neid und Ekel an der Welt, der von Antriebslosigkeit über Sinnkrise bis zu Depression führen kann. Der Wille sei oft zu schwach, dagegen anzukämpfen. Evagrius empfiehlt, auszuhalten und nachzuspüren, aus welchen Quellen diese Dynamiken kommen. Werden sie angenommen, beginnen sie sich aufzulösen. Schließlich nennt er Eitelkeit und Stolz, die dem Leben im Wege stünden. Davon könne sich der Mensch nicht selbst befreien. Würde es ihm gelingen, wäre er wieder stolz auf sich. Daher müsste der Mensch letztlich befreit werden.

Solche Lehren zur Seele wurden oft in Klöstern weitergegeben. In der Bevölkerung aber hat sich eine Charakterlehre durchgesetzt. Die Kirche sprach von sieben Todsünden. Heute spricht die Psychoanalyse von der Libido, dem Willen zur Macht und dem Überlebenstrieb. Durch sie geraten die Menschen in rivalisierende Konflikte. Ohne Verletzungen und Projektionen, Sich-Verlieren an Objekte und angstvolles Kleben an ihnen, reift und entwickelt sich aber kein Mensch.

Die bürgerliche Gesellschaft hat den Lastern Tugenden entgegengesetzt: Fleiß gegen Faulheit, Demut gegen Stolz, Geduld gegen Zorn, Mäßigung gegen Essgier, Keuschheit gegen Unzucht, Mildtätigkeit gegen Habsucht, Wohlwollen gegen Neid. Sie forderte Persönlichkeitsbildung. Heute geht es wohl mehr um Selbstoptimierung. Mit dem streitbaren Nachbarn streitet man dennoch. Eine Portion Internetsucht gehört zu einem Single. Geiz ist geil, und Flugreisen, sei es zum Shoppen in London oder für Ferien auf Bali, gehören zum Lifestyle, auch wenn die Klimaerwärmung zunimmt. Mehr noch: Die Ideologie des ungebremsten Wirtschaftswachstums wertet die Triebe um. Sie fördert die alten Laster: Neid belebt das Geschäft und weckt Bedürfnisse, die der Markt stillen kann. Die Pornoindustrie macht Rekordumsätze. Noch einen Adventsverkauf und den Black Friday dazu, um die Habgier anzustacheln. Auch überzogene Boni und Löhne scheinen legitim. Die Faulen lassen ihr Geld an der Börse arbeiten. Kurz: Gier, Unzucht, Neid usw. werden nicht mehr als destruktiv gesehen, sondern in den Dienst von Erfolg und Wohlstand gestellt. Schon Giambattista Vico († 1744) schrieb, man müsse Grausamkeit, Gier und Ehrgeiz in nationaler Verteidigung, Handel und Politik nutzen und dadurch eine wohlhabende und funktionierende Gesellschaft schaffen. Die Umwertung alter Todsünden in legitime Interessen scheint heute akzeptiert zu sein. Sie ist zur Grundlage der westlichen Welt geworden.

Mag der Einzelne in der säkularen, individualistischen Gesellschaft entlastet worden sein – die destruktiven Kräfte sind damit nicht verschwunden. Sie sind auf das Kollektiv übertragen worden. Gier und Neid werden nach außen gelenkt, wenn sich ein Volk im Krieg auf einen Feind stürzt. Im Inneren einer Gesellschaft werden sie durch Bürokratisierung kontrolliert. Vor allem ist die Vergesellschaftung der Triebe global zu spüren. Sie zeigte sich in der schamlosen Kolonialisierung und Ausbeutung ganzer Kontinente. Heute äußert sich ihre tödliche Wirkung in einem beispiellosen Artensterben und in klimatischen Katastrophen. Es hat sich in Tat und Wahrheit eine Auslagerung von Lastern in Strukturen und undurchschaubare Prozesse ereignet. Und da wundert sich noch jemand, wenn Flüchtlinge aus fernen Ländern kommen und ihren Anteil zurückverlangen? Und Klimaaktivisten müssen sich rechtfertigen, wenn sie der Gesellschaft den Spiegel vorhalten!

Wenn nicht Therapie, so braucht doch jede Seele Selbsterkenntnis und Arbeit an der eigenen Innerlichkeit. Wer sich ihr verweigert, lässt den destruktiven Kräften nicht nur freien Lauf. Er wälzt ihre Energie auf andere ab. Schließlich zahlt immer jemand den Preis für ihre gesellschaftliche Auslagerung und ihre ideologische Rechtfertigung.

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