Rezensionen: Philosophie & Ethik

Pelz, Christian Georg: Vernunft – Freiheit – Gott. Mit Origenes und Immanuel Kant zur Theologie als Wissenschaft.
Münster: Aschendorff 2023. 580 S. Gb. 80,–.

Immanuel Kant wird nicht selten als der Philosoph des Protestantismus angesehen. Origenes zählt, auch wenn er es nicht bis zur Anerkennung als Kirchenlehrer gebracht hat, zu den prägenden Theologen des frühen Christentums. Wie nahe stehen sich diese beiden so unterschiedlichen Denker? Die Frage könnte beliebig erscheinen, gewinnt aber an Gewicht, weil der Autor sie im Hinblick auf eine Rückversicherung über die Wissenschaftlichkeit der Theologie stellt. Denn eigentlich geht es Christian Pelz um die Erkenntnisprinzipien heutiger Rede von Gott. Die ersten beiden Teile der Untersuchung kreisen um die großen Themen „Vernunft“ und „Freiheit“. Für Kant steht die Untersuchung des Vernunftvermögens bekanntlich im Mittelpunkt der Philosophie. Origenes schlug durch den Begriff des Logos eine Brücke von der Beschäftigung der griechischen Philosophen mit den ersten Prinzipien zur Christologie des Johannesevangeliums. Doch sowohl bei Origenes als auch bei Kant lässt sich ein Primat des praktischen vor dem spekulativen Gebrauch der Vernunft feststellen. Für beide liegt der Ursprung gelingenden Lebens in dem sich selbst bestimmenden freien Willen.

Im dritten Teil des Buchs widmet sich der Autor der Theologie zunächst des Origenes, wobei er sich an dessen – nur aus zweiter Hand überliefertes – systematisches Hauptwerk Über die Prinzipien hält. Anschließend wendet er sich den Überlegungen Kants zur Gottesfrage zu und befasst sich ausführlich mit dessen später Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Im 16. und letzten Kapitel des umfangsreichen Buchs zieht der Autor seine Folgerungen für die Theologie. Wissenschaft überhaupt, so Pelz, „dient zur Wirklichkeitserschließung“ (464). Sie helfe dem Menschen bei der Orientierung in seiner Lebenswelt. Von diesem Anspruch dürfe sich die Theologie nicht dispensieren.

Pelz kennzeichnet das ihm vorschwebende Verständnis von Theologie unter anderem als „Wissenschaft der Vernunft“ (502) und als „Wissenschaft der Heiligen Schrift“ (522). Mit dem ersten Etikett bezieht er sich auf die mit Argumenten gerechtfertigte Rede von Gott, für die an theologischen Fakultäten die Fundamentaltheologie und die Dogmatik, an philosophischen Fakultäten die Religionsphilosophie und die Metaphysik stehen dürften. Das zweite Etikett umfasst die historische und philologische Beschäftigung mit der biblischen Offenbarung und lässt an die theologische Teildisziplin der Exegese denken. Von Kant übernimmt Pelz das Begriffspaar ‚philosophische Theologie‘ versus ‚biblische Theologie‘, ohne freilich daran zu erinnern, dass die beiden Theologien nach kantischem Verständnis an unterschiedlichen Fakultäten gelehrt werden. Origenes betrieb als Theologe die Schriftauslegung zweifellos auf der Höhe der Philosophie seiner Zeit. Der Philosoph Kant beanspruchte die Zuständigkeit für die philosophische Theologie und scherte sich wenig um die Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese, die damals in ihren Anfängen steckte. Als Gemeinsamkeit von Origenes und Kant hebt Pelz hervor, dass beide die Aufgabe der Theologie vor allem darin erblickten, „die Entsprechung von Vernunft und Heiliger Schrift zu zeigen“ (524). Das wissenschaftstheoretische Problem einer biblischen Theologie, das sich seit dem Ende der Aufklärung abzuzeichnen begann, liegt in der angemessenen Verbindung philologischer mit philosophischen Methoden. Diese Herausforderung lässt sich wahrscheinlich nur interdisziplinär meistern.

                Georg Sans SJ

Konfuzius: Gespräche. Neu übersetzt und eingeleitet von Hans van Ess.
München: C.H. Beck 2023. 816 S. Gb. 48,–.

„Wie sich in eine Frühlingsbrise setzen“ – so beschreibt der Schriftsteller und ehemalige Kultusminister der Volksrepublik China Wang Meng (*1934) die Lektüre der „Gespräche“ des Konfuzius. Er drückt damit die Stellung des Werkes in der chinesischen Zivilisation aus: Wie der Frühling für das Wachstum vom kahlen Ast über den ersten Knospenansatz zur vollen Blüte stehe, so führten Konfuzius’ Gespräche den Lesenden vom Einfachen zum Komplexen, vom Vertrauten zum Überraschenden, vom praktisch Alltäglichen zur tiefen Weisheit. Das Werk enthalte wie kein zweites den kulturellen Reichtum der chinesischen Tradition.

Rechtzeitig im Frühling dieses Jahres hat Hans van Ess, Sinologe der LMU München, eine kommentierte Neuübersetzung vorgelegt. Was aber könnte der Gewinn der nächsten Neuausgabe dieses Klassikers sein und warum könnten sich in Deutschland Leser dafür interessieren? Aus den Besonderheiten von van Ess Neuausgabe seien drei hervorgehoben:

1. Sprache: Als die Jesuiten im 17. Jhd. die „Gespräche“ erstmals in westliche Sprache übertrugen, hinterließen sie „christliche Spurenelemente“ (77), die sich seither durch alle Übersetzungen ziehen und Konfuzius für den Westen in den Kontext einer christlich-humanistischen Ethik stellen. Van Ess versucht, dieser religiös-moralischen Lesart auszuweichen, was sich deutlich in den Schlüsselbegriffen niederschlägt. Was auf Deutsch durchgängig als „Güte“ und „Menschlichkeit“ wiedergegeben wurde, wird bei ihm nun zum „Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen“ und zur „Sensibilität“; aus der moralischen „Tugend“ wird die „Persönlichkeit“ im Sinne von „Charakterstärke“; die religiös klingenden „Riten“ werden zu Alltagsformen der „Höflichkeit“. So wirkt der Text nicht mit Sollensformulierungen, sondern spricht die Freude an klarer Erkenntnis an.

2. Zusammenhänge: Konfuzius fristet ein Dasein als Kalenderweiser. Aus diesem Schicksal versucht van Ess ihn zu befreien, indem er dessen „Gespräche“ nicht als Einzelsprüche, sondern als Zusammenhang versteht: „Im Gegensatz zu früheren Übertragungen ist der Leitgedanke dieser Übersetzung, dass der Text von vorne bis hinten durchkomponiert ist“ (16). Hierin sieht er den wissenschaftlichen Beitrag seiner Neuübersetzung: „Das Hauptziel“ ist, zu zeigen, „dass hinter der Textabfolge der Gespräche eine ordnende Hand zu vermuten ist“ (61), die er in das erste Jhd. v. Chr. datiert. Philologisch wiederum zeigt er auf, dass das zusammengestellte Material z.T. deutlich älter ist als seine inhaltlich kohärente Form. Damit geht er textkritisch einen Mittelweg, der einerseits einen historischen Kontext für ein Gesamtverständnis bereitstellt, andererseits manche Stellen für eine kritische Bedeutungsvielfalt anders einordnen kann.

3. Kommentierung: Die „Gespräche“ umfassen im Original ca. 11.000 Schriftzeichen, ungefähr so viel wie eine Zeitungsseite. Wie kommt van Ess dann auf mehr als 800 Seiten? Durch eine inhaltsreiche Einleitung (11-86), einen detaillierten Anhang (731-816) mit Anmerkungen zu Text und Übersetzung, und vor allem durch einen Erläuterungsteil zu jedem einzelnen der ca. 500 kurzen Aussprüche. Darin greift er auf 2000 Jahre chinesischer (bisher nahezu unübersetzter) Auslegung zurück, von den frühen Kommentaren um die Zeitenwende, über die Blüte konfuzianischer Kultur um das Jahr 1000 bis zum hochverfeinerten Gelehrten der letzten Kaiserdynastie im 19. Jhd. – inklusive einer lange verschollenen, im 18. Jhd. in Japan entdeckten und sehr umstrittenen antiken Kommentierung. Ein solcher Fundus an Auslegungstradition ist in westlicher Sprache bisher nirgends zusammengeführt.

Bleibt die Frage, warum all dies im deutschen Sprachraum interessieren könnte? Um dem heutigen China verstehend auf den Fersen zu bleiben! Dort wird derzeit eine Wiederaneignung der klassischen Tradition vorangetrieben, die laut Wang Meng „nicht an Vergangenes erinnert, sondern der Motor ist, der die sozialistische Moderne chinesischen Stils jetzt vorantreibt.“ Van Ess’ Werk (in äußerst hochwertiger Ausgabe übrigens) erlaubt, etwas von der „Frühlingsbrise“ aufzuschnappen, die im Motorenraum der chinesischen Moderne weht.

Moritz Kuhlmann

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