Rezensionen: Geschichte & Biografie

Hillesum, Etty: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943. Hg. von Klaas A.D. Smelik.
München: C.H. Beck 2023. 989 S. Gb. 42,–.

„Endlich!“, entfährt es dem an Etty Hillesum (1914-1943) interessierten Leser. Endlich liegt eine Gesamtausgabe der Tagebücher und Briefe jener jüdischen Niederländerin vor, die seit Jahrzehnten Frauen und Männer mit unterschiedlichsten Hintergründen interessiert und inspiriert: Geisteswissenschaftler, Theologen, Feministinnen, Historiker, Psychologen, Literaturwissenschaftler, Gläubige und Ungläubige. Alle fanden etwas Unwiderstehliches in den Zeugnissen jener Frau, die im Alter von 29 Jahren in Auschwitz ermordet wurde.

Etty Hillesum war die älteste Tochter in einer fünfköpfigen säkularisierten jüdischen Familie. Die intellektuell, sozial und emotional sehr begabte und für ihre Zeit unkonventionelle Frau durchlitt auch Zeiten psychischer Labilität. Während ihrer Amsterdamer Studienjahre (Slawische Literatur, nach abgeschlossenem Jurastudium) lebte sie in einer Quasi-Ehe mit einem deutlich älteren Mann zusammen und hatte daneben immer wieder andere Verhältnisse. In einer depressiven Phase lernte sie 1941 den Psychochirologen Julius Spier kennen; für sie eine lebenswendende Begegnung. In jenem Jahr begann sie mit ihren Tagebuchaufzeichnungen, die von März 1941 bis Oktober 1943 reichen; wenige Monate, die von einer unglaublich schnellen und tiefgreifenden Veränderung Hillesums zeugen. Am überraschendsten nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Freunde: das Finden einer lebendigen Gottesbeziehung ohne Kontakt zu einer verfassten Glaubensgemeinschaft. Hillesum meldete sich freiwillig als Helferin in dem holländischen Übergangslager Westerbork, durch das gut 100.000 Juden zu den Vernichtungsstätten im Osten geschleust wurden. Sie lehnte es ab, sich zu retten, obschon ihr Gelegenheit dazu gegeben wurde. Als sie deportiert wurde, war sie eine innerlich freie und starke Frau, die sich in einer persönlichen Gottesbeziehung geborgen wusste.

Hillesum hatte ihre Tagebücher einige Monate vor ihrer Deportation einem Schriftsteller anvertraut. Sie, die literarische Ambitionen hatte, dachte selbst an eine Veröffentlichung dieser persönlichen Aufzeichnungen. Es sollte gut 38 Jahre dauern, bis die Tagebücher in Auswahl samt einiger Briefe publiziert wurden. Trotz vieler Versuche hatte sich lange kein Verleger finden lassen. Die Tagebücher fanden ein unerwartet großes Echo, wurden rasch in viele Sprachen (sogar ins Schwedische) übersetzt und viele Male aufgelegt.

So verdienstvoll die Herausgabe war, so haftete ihr doch von Anbeginn ein Makel an. Es war eine Auswahl aus Hillesums sechs Schreibheften, die zu einer Art von Standardausgabe wurden und das Bild von ihr maßgeblich beeinflussten. Vieles von dem, was über die Niederländerin geschrieben wurde, stützte sich auf lediglich ein Drittel ihrer gesammelten Tagebücher. Der Herausgeber Jan G. Gaarlandt legte die Kriterien für seine Auswahl nicht offen. Auslassungen, die zum Teil viele Seiten umfassten, wurden grafisch nicht kenntlich gemacht. Man könnte den Redaktor als den ersten Interpreten Hillesums bezeichnen; er legte eine Version von ihr vor.

Einträge, die über Literatur, die Beziehung zu ihrem Therapeuten, Inspirator und Gefährten Julius Spier, über Menstruation, Begier und Sexualität handeln, fanden keinen Platz. Es scheint, als wollte man Hillesums scharfe Kanten abschleifen. Die Auslassung langer Zitate aus Belletristik und Wissenschaft – meist im Original wiedergegeben – machten es schwieriger, sie auf dem Hintergrund dessen zu verstehen, was sie inspirierte und beeinflusste. Ihr intellektuelles Netzwerk wurde unsichtbar.

Die Gesamtausgabe aller ihrer Texte von 1941-1943 kann auf diesem Hintergrund kaum überschätzt werden. Womöglich müssen manche Hillesum-Freunde ihr Bild korrigieren. Nicht zuletzt auch, da die Ausgabe neben den Tagebüchern die erhaltenen 74 Briefe enthält. Bisweilen hat man ihr vorgeworfen, sie wäre allzu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Während in den von Deutschen besetzten Niederlanden die Massendeportation von mehr als 100.000 Juden vorbereitet und durchgeführt wurde, hätte sie über ihren inneren Prozess geschrieben. Auch wenn dieser Vorwurf nie richtig gestimmt hat – selbst die reduzierte Tagebuchausgabe spricht eine andere Sprache –, ergänzen die Briefe das Hillesum-Bild erheblich. Hier zeigt sich eine wache Beobachterin und Zeitzeugin, die ungeschminkt die Verhältnisse im Transitlager beschreibt. Die Tagebücher gleichen mehr einem Gespräch mit sich selbst, während die Briefe ein Gespräch mit anderen sind. Im Lager war sie nicht mit sich selbst, sondern mit anderen beschäftigt im Lindern von Not, im Registrieren des Terrors, in der bedingungslosen Solidarität mit Leidenden.

Über Hillesums Texte bietet die neue Gesamtausgabe eine Einleitung, die die historischen Hintergründe ihres Lebens sowie ihrer Texte beschreibt, und vor allem einen wunderbaren, 94 Seiten umfassenden Anmerkungsapparat, der die Welt hinter den Texten ausleuchtet. Er wird ergänzt durch ein hilfreiches Personen- und Schlagwortregister.

                Dominik Terstriep SJ

Graf, Friedrich Wilhelm: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont.
München: C.H. Beck 2022. 638 S. Gb. 38,-.

Rechtzeitig zu seinem 100. Todestag am 1. Februar erschien die fortan maßgebende Biografie des großen Gelehrten und Max-Weber-Freundes Ernst Troeltsch (1865-1923). Der geborene Augsburger setzte sich unter historischem und religionsgeschichtlichem Aspekt mit der Frage der „Absolutheit des Christentums“ auseinander und relativierte sie ohne Relativismus. Sein großes Hauptwerk ist „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (1912). Mit Beginn des Ersten Weltkrieges, den er wie viele Intellektuelle anfangs begrüßte, allerdings ohne militaristischen oder nationalistischen Fanatismus, wurde er von der Theologischen Fakultät Heidelberg, an der er der geschätzte Lehrer von Gertrud von le Fort war, an die Philosophische Fakultät Berlin berufen. Den Philosophen war er fortan zu theologisch, den Theologen zu philosophisch. Karl Barth setzte sich mit ihm kritisch auseinander und sah in seinem liberalen Denken wie bei Adolf von Harnack einen verwerflichen „Kulturprotestantismus“. Dabei war Troeltsch ein zutiefst gläubiger Christ, der jeden rechten oder linken Radikalismus bekämpfte und Parallelen zum katholischen Modernismus jener Zeit hatte. Der mit ihm befreundete und einen intensiven Briefwechsel führende Friedrich von Hügel, der dem Modernismus (Loisy, Tyrell) nahestand, schrieb nach Troeltschs plötzlichem Tod (kurz vor einer geplanten Vortragsreise nach England), der weltweit Trauer auslöste, in der Einleitung zu seinem Werk „Der Historismus und seine Überwindung“:

„Von April 1901 bis Januar 1923 klingt, in seinen Briefen an mich, wieder und immer wieder, nie gesucht, nie banal, nach bedrückendstem Leid wie in alles verklärender Freude, der unerschüttert, tief innerliche, stählende Kraft bringende Glaube an Gott – und an den vollen, lebendigen Gott der Christen.“

Niemand war berufener, diese umfassende Biografie zu schreiben als der Münchener Theologe, Vorsitzender der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft und Herausgeber der kritischen Troeltsch-Gesamtausgabe Friedrich Wilhelm Graf. Nicht nur der Denkweg wird minutiös und bunt geschildert, sondern auch seine akademischen Stationen in Göttingen, Bonn, Heidelberg und Berlin mit ihren vielen menschlichen und intellektuellen Begegnungen. Graf beginnt sein Buch mit den „Reden am Grab“: bei der von vielen hochkarätigen Personen, darunter auch Paul von Hindenburg, besuchten Beerdigung in Berlin-Wilmersdorf. Die Hauptrede hielt der damals führende akademische Netzwerker Adolf von Harnack. Graf lässt kein wichtiges Thema aus und beendet die für geisteswissenschaftlich Interessierte spannende Biografie mit dem Epilog: „Gott als Individualitätsgarant“. Hätte es mehr solche Gelehrte gegeben, wäre in Deutschland vielleicht manches anders gelaufen.

                Stefan Hartmann

Lehmann, Karl Kardinal: Der Priester Max Josef Metzger. Gestapo-Haft und Todesurteil (Topographie des Terrors. Notizen). Hg. von Andreas Nachama.
Berlin: Hentrich & Hentrich 2016. 87 S. Kt. 9,80.

Es geht mir mit dem vorliegenden Büchlein ähnlich wie es Christian Heß erging (Vgl. „Ohne Christus, ohne tiefes Christentum ist Krieg“. Die Christkönigsthematik als Leitidee im kirchlich-gesellschaftlichen Engagement. Paderborn 2016), als er, wie in seinem Nachwort zu dem vorliegenden Bändchen zu lesen ist, die Ausstellung „Topographie des Terrors“ in Berlin besuchte: „Ich war ziemlich überrascht, als ich bei meinem Rundgang durch die Ausstellung unter den Bildern vieler Widerstandskämpfer unterschiedlichster Couleur auch das Foto eines katholischen Priesters entdeckte: Es war Max Josef Metzger“ (78). Ich war meinerseits nach der Lektüre nicht nur „ziemlich überrascht“, sondern auch beschämt, dass ich noch so wenig über diese eindrucksvolle Gestalt gehört hatte.

Metzger war auf seine Weise ein Solist, politisch wach und informiert, aber nicht vernetzt mit Zirkeln wie dem „Kreisauer Kreis“ oder anderen Widerstandsgruppen. Er war eigensinnig, für seine Zeit befremdlich, für seine Oberen einschließlich für seinen Bischof (Erzbischof Conrad Gröber) kein leichter Fall der Personalführung – was im Falle von Gröber nicht unbedingt nur gegen Metzger sprechen muss. Sein ökumenisches Engagement („Katholiken, werdet evangelisch! Evangelische, werdet katholisch! Dann wird die Una Sancta, die eine heilige Kirche, um die wir gemeinsam ringen und beten!“) wurzelte u.a. in seinem radikalen Pazifismus, den er als Dienst am „Friedenskönig Christus“ verstand. Er verband sein Wirken in der ökumenischen Friedensbewegung in den 1920er-Jahren mit sozialem Engagement, besonders auch mit der Abstinenzbewegung und entsprechender eigener Enthaltung von Alkohol, Tabak und Fleisch. Diese Dinge gehörten für ihn zusammen, auch darin war er tatsächlich seiner Zeit weit voraus. „Spätere Zeiten werden mich besser verstehen; es war ja immer mein Verhängnis, dass ich der Zeit etwas voraus war und daher nicht verstanden werden konnte“, schrieb er am 19.8.1943 aus der Gestapo-Haft im „Hausgefängnis“ der Gestapo-Zentrale an seine geistlichen Schwestern von der Meitinger „Christkönigsgesellschaft“.

Das vorliegende Bändchen dokumentiert den Vortrag von Kardinal Lehmann, den dieser 2015 auf Bitten der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin hielt. Es gelingt Lehmann, den komplexen Stoff hervorragend zu ordnen. So entsteht ein eindrucksvoller erster Einblick in das Lebenswerk und Glaubenszeugnis dieses „Unverstandenen“, ein Einblick, der Geschmack auf mehr macht. Im Dokumententeil ist Metzgers „Denkschrift“ nachzulesen, die Anlass für seine Verhaftung 1943 wurde, ebenso die Anklageschrift gegen ihn und die Urteilsbegründung, sowie – besonders kostbar – seine letzten Briefe und Niederschriften aus der Haft. Das in der Todeszelle geschriebene Gedicht (75) schließt den Band ab, ein ebenso ergreifendes wie ermutigendes Glaubenszeugnis, das man gleichrangig neben Bonhoeffers „Von guten Mächten“ stellen kann. Am 17.4.1944 wurde Max Josef Metzger im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet.

                Klaus Mertes SJ

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