Unterwegs mit jenen, die unterwegs sindPapst Franziskus' Vision für Geflüchtete

Während seines inzwischen zehnjährigen Pontifikats hat Papst Franziskus seine Position als spirituelle und moralische Instanz auf der Weltbühne stets genutzt, um über Migranten und Geflüchtete zu sprechen. Er hat tiefes Mitgefühl gezeigt, ist aber auch darüber hinausgegangen. Amaya Valcárcel Silvela ist Anwältin in Rom und seit 25 Jahren beim Jesuitenflüchtlingsdienst (JRS) tätig. Michael Schöpf SJ ist internationaler Direktor des JRS in Rom. Der Beitrag erscheint auch in La Civiltà Cattolica. Übersetzung und Bearbeitung von Philipp Adolphs.

"Jeder von Ihnen, liebe Freunde, hat eine Lebensgeschichte, die uns von den Tragödien des Krieges erzählt, von Konflikten, die allzu oft mit internationaler Politik verbunden sind. Vor allem aber trägt jeder von Ihnen einen Reichtum an Menschlichkeit und einen religiösen Sinn in sich, Schätze, die es zu begrüßen gilt, anstatt sie zu fürchten. Viele von Ihnen sind Muslime oder Mitglieder einer anderen Religion. Sie kommen aus verschiedenen Ländern, aus unterschiedlichen Situationen. Wir dürfen keine Angst vor Unterschieden haben! Die Geschwisterlichkeit lässt uns entdecken, dass sie Reichtümer sind, Geschenke für alle! Lasst uns in Brüderlichkeit leben!“

Mit diesen Worten wandte sich Papst Franziskus bereits 2013 an die Flüchtlinge in der Suppenküche des Centro Astalli, das Anfang der 1980er-Jahre als eines der ersten Projekte von Pedro Arrupe SJ gegründet worden war. Dort berichtete Carol, eine aus Syrien geflüchtete Frau, die gerade in Italien angekommen war: „Syrer in Europa fühlen sich sehr stark in der Verantwortung, keine Last zu sein. Wir wollen aktive Akteure einer neuen Gesellschaft sein. Wir möchten unsere Hilfe und die Fähigkeiten und Kenntnisse, die wir mitbringen, sowie unsere Kultur beim Aufbau einer gerechteren und gastfreundlicheren Gesellschaft für diejenigen anbieten, die wie wir vor Krieg und Verfolgung flüchten. Wir Erwachsenen können noch etwas mehr Leid ertragen, wenn dies dazu dient, unseren Kindern eine Zukunft in Frieden zu garantieren. Wir bitten um diese Möglichkeit, damit sie zur Schule gehen und in einer friedlichen Umgebung aufwachsen können.“

Während seines gesamten Pontifikats hat Papst Franziskus einen Gott der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gezeichnet und gepredigt. Er hat die Not von Migranten und Flüchtlingen weltweit nicht nur in Worten, sondern auch in Taten zu einem zentralen Thema gemacht. Ein aktuelles Beispiel war sein Besuch im Südsudan und in der Demokratischen Republik Kongo im Februar 2023, wo er mit Gemeindevorstehern und Vertriebenen zusammentraf. Dieser Fokus auf soziale Gerechtigkeit ist zutiefst christus-zentriert. Das verkennt in keiner Weise die Vorarbeit seiner Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die einen Großteil der theologischen Grundlage für das spätere Engagement von Papst Franziskus leisteten. Seine Botschaft zum Weltfriedenstag 2018 lautete „Migranten und Flüchtlinge: Männer und Frauen auf der Suche nach Frieden“. In seiner ihm eigenen direkten Art fragte er: „Warum so viele Flüchtlinge und Migranten?“ und erinnerte daran, wie Papst Johannes Paul II. einige Jahre zuvor auf die „gestiegene Zahl von Vertriebenen als eine der Konsequenzen der ‚endlosen und entsetzlichen Abfolge von Kriegen, Konflikten, Völkermorden und ethnischen Säuberungen‘“ hingewiesen hatte. Papst Franziskus erkannte auch an, dass Menschen den natürlichen Wunsch haben, ein besseres Leben zu suchen und dass Armut und Umweltzerstörung ebenfalls wesentliche Ursachen für Migrationsentscheidungen sind.

In den letzten Jahren hat ein unangebrachtes Gefühl der Selbsterhaltung zu der fixen Idee geführt, Migranten von nationalen Grenzen fernzuhalten, und dies hat Herz und Verstand verschlossen gegenüber der Realität der Hoffnungen, Ängste und Bestrebungen einiger der bedürftigsten Menschen der Welt. Papst Franziskus schlägt vor, dass wir, die in Wohlstand und Sicherheit leben, ihre Geschichten hören und das vollständige Bild ihrer Reise sehen müssen. In den Jahren seines Pontifikats hat er sein Engagement konsequent aufrechterhalten und eine klare und unmissverständliche Vision für einen alternativen und humaneren Ansatz für die Herausforderungen der unfreiwilligen Migration dargelegt.

Lampedusa, Juli 2013:
Globalisierung der Gleichgültigkeit

„Einwanderer, die auf See starben, in Booten, die Träger der Hoffnung waren und zu Trägern des Todes wurden. So hieß es in den Schlagzeilen. Als ich vor einigen Wochen zum ersten Mal von dieser Tragödie hörte und feststellte, dass sie sich viel zu häufig ereignet, ist sie mir wie ein schmerzhafter Dorn in meinem Herzen nicht mehr aus dem Kopf gegangen“ (Papst Franziskus 2013).

Die erste Reise seines Pontifikats unternahm der Heilige Vater im Juli 2013 mit dem Boot zur Insel Lampedusa vor der Südküste Siziliens. Der Zeitpunkt und der Kontext seines Besuchs waren bezeichnend: Libyen versank gerade in Gewalt und Chaos. Ärmere Afrikaner, die von den Arbeitsplätzen nach Gaddafis wirtschaftlicher Expansion angezogen worden waren, mussten nun anderswo suchen, insbesondere im Mittelmeerraum. Auf Lampedusa feierte Papst Franziskus eine Messe zum Gedenken an Tausende von Migranten, die bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen waren. Er hielt auch eine inzwischen berühmte Predigt, in der er erklärte, dass er sich verpflichtet fühlte, zu kommen, „um zu beten und ein Zeichen meiner Nähe zu geben, aber auch um unser Gewissen herauszufordern, damit sich diese Tragödie nicht wiederholt. Bitte, lass es sich nicht wiederholen!“

Lampedusa zeigt, wie die Reaktion des Papstes auf konkrete menschliche Tragödien als eine herzliche Geste begann, die in biblischen Prinzipien und der Katholischen Soziallehre verwurzelt war und sich weiterentwickelte, als er die gelebten Erfahrungen anderer aufnahm und aus einer Vielzahl von Quellen schöpfte. In Evangelii Gaudium (EG) teilte Papst Franziskus später mit, dass „Migranten eine besondere Herausforderung für mich darstellen, da ich der Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin, einer Kirche, die sich als Mutter aller versteht. Aus diesem Grund ermahne ich alle Länder zu großzügiger Offenheit“ (Papst Franziskus 2013, Nr. 210). Die jüdisch-christliche Lehre, dass die Erde nicht das endgültige Ziel der Menschheit ist, bedeutet, dass der katholische Glaube seinem Wesen nach wandernd ist – wir alle sind Migranten, „auf der Durchreise“.

Einer der einzigartigen Beiträge von Papst Franziskus zur Lösung der Migrationsfrage bestand darin, darauf zu bestehen, „persönliche Reisen“ mit Migranten und Flüchtlingen oder „Gesten der Nähe“ zu unternehmen: zu sehen, zuzuhören, willkommen zu heißen; beschützen; unterstützen und integrieren; langfristige Lösungen zu verfolgen. Er schöpft aus Jesu Worten: „Behandle andere so, wie du möchtest, dass sie dir tun“ (Lk 6,31). In seinem Apostolischen Schreiben (EG) erklärt der Heilige Vater diesen Ansatz:

„Realitäten sind größer als Ideen … Das Prinzip einer Realität, eines bereits Fleisch gewordenen Wortes, das ständig danach strebt, aufs Neue Fleisch anzunehmen, ist wesentlich für die Evangelisierung…. Dieses Prinzip drängt uns, das Wort in die Praxis umzusetzen, um Werke der Gerechtigkeit und Nächstenliebe zu vollbringen, die dieses Wort fruchtbar machen. Das Wort nicht zu verwirklichen, heißt, auf Sand zu bauen, in der Welt der reinen Ideen zu bleiben“ (Papst Franziskus 2013, Nr. 175).

Dieses Pontifikat fällt mit dem Anstieg der weltweiten Vertriebenenzahlen auf den höchsten Stand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen, was von vielen als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird. Der Begriff ist eigentlich problematisch. Er impliziert, dass die Vertriebenen, die Zuflucht suchen, die Ursache ihrer eigenen Flucht seien. Das ist schlichtweg nicht der Fall – Laudato si’ (LS) hebt das Ausmaß der klima- und armutsbedingten Migranten und derer hervor, die vor Krieg und Armut flüchten. Klug hat Papst Franziskus den Akzent verschoben, indem er darauf besteht, dass wir die Krise als eine „Krise der Solidarität“ anerkennen sollten. Seine Rede auf Lampedusa legte den Grundstein für seine Lehre über die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“, womit jene Gleichgültigkeit gemeint ist, mit der Einzelpersonen und Gemeinschaften die Menschen am Rande behandeln. Was empfiehlt der Heilige Vater? Es beginnt mit uns; um seine Rede auf Lampedusa zu paraphrasieren – wir, die wir uns „an das Leiden anderer gewöhnt haben“, wir, „die wir nur an uns denken“, wir, die „unempfindlich gegenüber den Schreien anderer Menschen“ sind. Wir glauben, dass die Essenz dieser Lehre uns alle dazu auffordert, über uns selbst nachzudenken und eine Metanoia zu erleben, eine Umkehr, die positive, menschliche Antworten auf diese verzweifelten Bewegungen von Menschen erfordert. Es ist eine Bekehrung des Herzens.

Lesbos, April 2016:
Die Kultur der Begegnung

Nach den großen Immigrationsbewegungen hauptsächlich syrischer und afghanischer Flüchtlinge nach Europa in den Jahren 2015 und 2016 besuchte Papst Franziskus am 16. April 2016 das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Diesmal verfolgte er einen ökumenischen Ansatz und trat zusammen mit Ieronymos, Erzbischof von Athen und ganz Griechenland, und Bartholomäus, Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, auf. Seine Absicht war es, einen weltweiten Paradigmenwechsel zu entfachen, um den tragischen Verlauf der Ereignisse zu ändern und diejenigen zu ermahnen, die das Schicksal von Nationen in ihren Händen hielten. Er sagte den versammelten Flüchtlingen und Migranten:

„Ich bin mit meinen Brüdern Patriarch Bartholomäus und Erzbischof Ieronymos hierhergekommen, einfach um bei Ihnen zu sein und Ihre Geschichten zu hören. Wir sind gekommen, um die Aufmerksamkeit der Welt auf diese schwere humanitäre Krise zu lenken und für ihre Lösung zu plädieren. Als Menschen des Glaubens möchten wir unsere Stimmen vereinen, um für Sie zu sprechen. Wir hoffen, dass die Welt diese Szenen tragischer und so verzweifelter Not beachtet und auf eine Weise reagiert, die unserer gemeinsamen Menschlichkeit würdig ist“ (Papst Franziskus, 2016 Nr. 2).

Wie bei seinem Besuch auf Lampedusa entspringt die Entwicklung des Denkens von Papst Franziskus über Migranten, Flüchtlinge und Menschenhandel konkreten Begegnungen. Hier sieht er sich deutlich der großen Gefahr der Gleichgültigkeit und der Ausbeutung gegenüber. Er hebt aber auch die zu wenig anerkannte Freundlichkeit und Güte hervor, die viele Menschen aufbrachten, wenn sie Migranten in verzweifelter Not begegneten. Als wäre diese Begegnung ein verborgener Schatz, gräbt Franziskus tiefer und taucht mit der Idee der „Kultur der Begegnung“ wieder auf:

„Wir alle wissen aus Erfahrung, wie leicht es für einige ist, das Leiden anderer Menschen zu ignorieren oder sogar ihre Verwundbarkeit auszunutzen. Aber wir wissen auch, dass diese Krisen das Allerbeste in uns hervorbringen können. Sie haben dies bei sich selbst und bei den Griechen gesehen, die inmitten ihrer eigenen Schwierigkeiten großzügig auf Ihre Bedürfnisse reagiert haben. Sie haben es auch an den vielen Menschen gesehen, vor allem an jungen Menschen aus Europa und der ganzen Welt, die gekommen sind, um Ihnen zu helfen“ (Papst Franziskus 2016, Nr. 3).

Das Lager Moria wurde 2020 von einigen der ansässigen Flüchtlinge selbst in Brand gesteckt, in einem verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf ihre schrecklichen Lebensbedingungen und ihre hoffnungslose Realität zu lenken. Dies ist, zusammen mit vielen anderen Beispielen, noch heute ein Zeichen für den Mangel an globalen Kapazitäten zur Bewältigung von Migration. In seiner Ansprache an den Ministerpräsidenten, die griechischen Behörden und die katholische Gemeinschaft in Griechenland sprach Papst Franziskus die kritische Frage der Bekämpfung der Ursachen als Lösung für die Migration an:

„Um wirklich mit denen vereint zu sein, die gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen, müssen wir die Ursachen dieser dramatischen Situation beseitigen: Es reicht nicht aus, uns darauf zu beschränken, auf Notfälle zu reagieren, sobald sie auftreten. Stattdessen müssen wir politische Bemühungen fördern, die breiter angelegt und multilateral sind. Es ist vor allem notwendig, dort Frieden zu schaffen, wo Krieg Zerstörung und Tod gebracht hat, und die Ausbreitung dieser Geißel zu stoppen. Dazu muss dem illegalen und legalen Waffenhandel und den damit oft verdeckten Machenschaften entschieden entgegengetreten werden; denen, die Hass- und Gewalttaten begehen, muss jegliche Unterstützung verweigert werden. Die Zusammenarbeit zwischen Nationen, internationalen Organisationen und humanitären Einrichtungen muss unermüdlich gefördert werden, und diejenigen an der Front müssen unterstützt und nicht auf Distanz gehalten werden“ (Papst Franziskus 2016, Nr. 7).

Sektion für Migration und Flüchtlinge

Unmittelbar nach seinem Besuch auf Lesbos schuf der Heilige Vater eine neue Sektion für Migranten und Flüchtlinge („Migrants- & Refugees-Section“), die mit dem „Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ verbunden ist. Sie wurde gegründet, um „insbesondere in Fragen von Migranten, Bedürftigen, Kranken, Ausgeschlossenen und Ausgegrenzten, Inhaftierten und Arbeitslosen sowie Opfern von bewaffneten Konflikten, Naturkatastrophen und allen Formen von Sklaverei und Folter kompetent zu sein“. Die von Papst Franziskus persönlich geleitete M&R-Sektion war besonders darauf ausgerichtet, seine Vision zu verwirklichen: „Auf Lampedusa und Lesbos, wichtigen Transitpunkten in Italien und Griechenland, weinte Papst Franziskus mit den dort zusammengekauerten Migranten und Flüchtlingen. Im Flugzeug zurück von Lesbos brachte er einige syrische Flüchtlingsfamilien in den Vatikan. ‚Wenn wir die Wunden von Flüchtlingen, Vertriebenen und Opfern des Menschenhandels heilen‘, sagte er, ‚praktizieren wir das Gebot der Liebe, das Jesus uns hinterlassen hat … Ihr Fleisch ist das von Christus.‘ Wie es der Papst selbst lehrt und tut, möchte er, dass auch die M&R-Sektion anderen dabei hilft, auf der ganzen Welt ihre Stimme zu erheben und zu handeln“ (M&R-Sektion, 2017).

Folglich bestand die Mission der M&R-Sektion darin, der Kirche (d.h. den Bischöfen, den Gläubigen, dem Klerus, den kirchlichen Organisationen) und allen Menschen guten Willens zu helfen, diejenigen zu „begleiten“, die aufbrechen und fliehen, die auf der Durchreise sind oder warten, die ankommen und sich integrieren wollen, und auch diejenigen, die zurückkehren. Eine der größten Errungenschaften der M&R-Sektion war die Unterstützung bei der Pflege und Vermehrung der Früchte, die der Papst bei seiner Intervention auf Lampedusa gesät hatte. Die Sektion war besonders eng darin eingebunden, die theologische und intellektuelle Grundlage für einen entschlosseneren katholischen Ansatz in Fragen der Vertreibung von Menschen weiterzuentwickeln. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie eine umfangreiche Sammlung der Lehren von Papst Franziskus über die Seelsorge für Migranten, Flüchtlinge und Opfer von Menschenhandel mit dem Titel „Lights on the Ways of Hope“. Auf einer praktischen Ebene war es diese Sektion, die die Bemühungen anführte, die zu den Zwanzig Aktionspunkten des Vatikans für die Globalen Pakte zu Migration und Flüchtlingen geführt haben, darüber hinaus zu den pastoralen Handlungsempfehlungen zum Menschenhandel, zu Binnenvertriebenen und zu Menschen, die von den Folgen der Klimakrise vertrieben werden.

Im Januar 2023 fusionierte die M&R-Sektion mit dem größeren Dikasterium. Das kann als Verinnerlichung der Lehre des Papstes über die Krise der Solidarität und eine Hinwendung zum Handeln als Ergebnis eines größeren Mitgefühls und Verständnisses gesehen werden.

Ziele für Staaten und die Zivilgesellschaft

Wie schon seine Vorgänger hat Papst Franziskus Kernelemente des christlichen Glaubens und der Katholischen Soziallehre herangezogen, um eine klare und radikale Vision für einen alternativen und humaneren Umgang mit den Herausforderungen der unfreiwilligen Migration zu entwickeln. Im Februar 2017 sprach der Heilige Vater vor dem Treffen des Internationalen Forums für Migration und Frieden in Rom. Er erklärte, dass die Antworten auf die heutigen Herausforderungen der Migration von der politischen Gemeinschaft, der Zivilgesellschaft und der Kirche gebündelt und in Form von vier miteinander verbundenen Aktionen artikuliert werden sollten: Aufnahme, Schutz, Förderung und Integration.

Die M&R-Sektion veröffentlichte daraufhin die oben erwähnten Zwanzig Aktionspunkte als Beitrag zur Ausarbeitung, Verhandlung und Annahme der „Global Compacts on Migrants and on Refugees“ bis Ende 2018 (vgl. StdZ 143, 2018, 595-601: Interview mit Michael Czerny SJ, Flüchtlingsbeauftragter des
Papstes). Diese Konsultationen bestanden im Zuhören von Bischofskonferenzen und katholischen Organisationen, die vor Ort mit Geflüchteten arbeiteten und daher eine gründliche Reflexion über die bewährten Praktiken der Kirche miteinbringen konnten, die sie im Laufe der Jahre entwickelt hatten.

Die Zwanzig Aktionspunkte basieren auf den genannten vier Maßnahmen (willkommen heißen, schützen, fördern und integrieren), die die Vision von Papst Franziskus für einen verbesserten und humaneren Umgang mit der Vertreibung von Menschen untermauern und Klarheit über die Position der Kirche schaffen. Der Heilige Vater fasst seine Empfehlungen für die Global Compacts 2018 wie folgt zusammen:

„Willkommen“ fordert dazu auf, legale Einreisemöglichkeiten zu erweitern und Migranten und Vertriebene nicht länger in Länder zu drängen, in denen sie Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind. Das erfordert auch, unsere Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit mit der Sorge um grundlegende Menschenrechte in Einklang zu bringen. Die Heilige Schrift erinnert uns: „Vergiss nicht, Fremden Gastfreundschaft zu erweisen, denn dadurch haben einige Menschen Engeln Gastfreundschaft erwiesen, ohne es zu wissen.“ (vgl. Hebr 13,2).

„Schützen“ hat mit unserer Pflicht zu tun, die unantastbare Würde derjenigen anzuerkennen und zu verteidigen, die auf der Suche nach Asyl und Sicherheit vor realen Gefahren fliehen, und ihre Ausbeutung zu verhindern. Ich denke insbesondere an Frauen und Kinder, die sich in Situationen befinden, in denen sie Risiken und Misshandlungen ausgesetzt sind, die sogar der Versklavung gleichkommen können. Gott diskriminiert nicht: „Der Herr wacht über den Fremden und erhält die Waise und die Witwe.“

„Fördern“ bedeutet, die ganzheitliche menschliche Entwicklung von Migranten und Flüchtlingen zu unterstützen. Unter vielen Möglichkeiten, dies zu tun, möchte ich hervorheben, wie wichtig es ist, den Zugang zu allen Bildungsebenen für Kinder und Jugendliche zu gewährleisten. Dies wird es ihnen nicht nur ermöglichen, ihr Potenzial zu kultivieren und zu verwirklichen, sondern auch dabei helfen, sie besser für die Begegnung mit anderen zu rüsten und einen Geist des Dialogs statt Ablehnung oder Konfrontation zu fördern. Die Bibel lehrt, dass Gott „die Fremden liebt, die unter euch wohnen, und ihnen Nahrung und Kleidung gibt. Und die Fremden sollt ihr lieben, denn ihr selbst wart Fremde in Ägypten.“

„Integrieren“ bedeutet schließlich, Flüchtlingen und Migranten die volle Teilnahme am Leben der Gesellschaft zu ermöglichen, die sie aufnimmt, als Teil eines Prozesses gegenseitiger Bereicherung und fruchtbarer Zusammenarbeit im Dienste der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung der lokalen Gemeinschaft. Der heilige Paulus drückt es mit diesen Worten aus: „Ihr seid nicht mehr Ausländer und Fremde, sondern Mitbürger des Volkes Gottes.“

Die Vergessenen ans Licht bringen

Die Herangehensweise des Heiligen Vaters hat sich deutlich entwickelt. Inzwischen richtet er seinen Blick noch mehr auf die Übel des Menschenhandels. Im Kontext von Migrationsfragen will Franziskus sich diesem Phänomen annehmen. Migranten sind sehr anfällig für Menschenhandel, da sie unter prekären Bedingungen fliehen. Sie riskieren häufig ihr Leben bei der Einreise in ein Zielland und haben Angst vor Abschiebung. Im Jahr 2014 beschrieb der Heilige Vater den Menschenhandel als „eine offene Wunde am Leib der heutigen Gesellschaft, eine Geißel am Leib Christi“. Am 29. Juli 2018 betonte Papst Franziskus vor vollem Petersplatz, dass die „Migrationsrouten oft auch von Menschenhändlern und Ausbeutern gebraucht werden, um neue Opfer zu rekrutieren“.

Papst Franziskus erkennt auch etwas Tieferliegendes. In Evangelii Gaudium spricht er von einer „Wegwerf-Kultur“, in der der Mensch als „Konsumgut“ betrachtet wird, das gebraucht und weggeworfen werden kann: „Dieses berüchtigte kriminelle Netzwerk ist mittlerweile in unseren Städten gut etabliert, und viele Menschen haben aufgrund ihrer bequemen und stillen Komplizenschaft Blut an den Händen“ (Papst Franziskus 2013, Nr. 211). Anfang 2015 widmete Papst Franziskus seine jährliche Botschaft zum Weltfriedenstag dem Menschenhandel. Er betonte, dass „wir mit einem globalen Phänomen konfrontiert sind, das die Kompetenz einer einzelnen Gemeinschaft oder eines Landes übersteigt“, und er forderte „eine vergleichbare Mobilisierung in der Größe des Phänomens selbst“. Im Jahr 2016 drängte der Heilige Vater auf die Beseitigung von Menschenhandel und Menschenschmuggel, da diese neuen Formen der Sklaverei zudem Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, die durch lokale und internationale Gesetze geregelt werden müssen.

Zwei der bislang drei verfassten Enzykliken von Papst Franziskus, nämlich Laudato si’ und Fratelli tutti, behandeln den Menschenhandel. Es mag für manche überraschend sein  zu wissen, dass der Papst in Laudato si’ im Fokus auf den Respekt vor der Natur auch auf die Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschenhandel verweist. Es ist eine ganzheitliche Sicht auf Gottes Schöpfung: Papst Franziskus weist darauf hin, dass die Fürsorge für die Natur nicht getrennt von der Fürsorge für die menschliche Person existieren kann: „Es ist eindeutig widersprüchlich, den Handel mit gefährdeten Arten zu bekämpfen und gleichzeitig dem Menschenhandel völlig gleichgültig gegenüberzustehen, sich nicht um die Armen zu kümmern oder einen als unerwünscht erachteten Menschen zu vernichten.“

Im Jahr 2018 veranstaltete die M&R-Sektion zwei Konsultationen mit Kirchenführern, Wissenschaftlern und erfahrenen Praktikern – viele religiöse Gemeinschaften, insbesondere Frauengemeinschaften, sind seit Jahren wichtige Akteure. Sechs Monate des Zuhörens und Verfassens führten zu den Pastoralen Handreichungen zum Menschenhandel, die 2019 vom Heiligen Vater genehmigt wurden. Das Dokument befasst sich mit dem, was Menschenhandel tatsächlich ist, mit der Untersuchung seiner zugrunde liegenden Ursachen und mit der Bedeutung der Anerkennung der Realität und Dynamik dieses Übels. Es schlägt empfohlene Reaktionen auf den Menschenhandel vor, einschließlich zur Betreuung von Überlebenden.

Eine weitere Gruppe vergessener Menschen sind die Binnenvertriebenen, die keine Grenzen überschreiten, aber aus den gleichen Gründen innerhalb ihres Landes flüchten: Konflikte, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen, extreme Armut, eine Mischung aus mehreren davon oder andere komplexe Ursachen. Ende 2021 gab es weltweit 59,1 Millionen Binnenvertriebene (IDMC, 2022), beispielsweise in Syrien, Venezuela, Äthiopien oder Myanmar. Wie beim Menschenhandel führte die M&R-Sektion Konsultationen mit Kirchenführern und Partnerorganisationen, die zu den Pastoralen Orientierungen für Binnenvertriebene führten, die 2020 veröffentlicht wurden. Die „Orientierungen“ sollen den Dienst der Kirche an Binnenvertriebenen in Planung und Praxis anleiten, bei Engagement, Interessenvertretung und Dialog.

Im Jahr 2021 lenkte Papst Franziskus die internationale Aufmerksamkeit auf die Notlage der durch die Klimakrise Vertriebenen, und im Jahr 2022 sammelte die M&R-Sektion das Wissen und die Erfahrung der Ortskirchen weltweit und veröffentlichte die Pastoralen Orientierungen für die Klimakrise und Vertriebe. Diese Dynamik zeigt, wie die Kirche mit den Menschen, die unterwegs sind, unterwegs ist und wie sie versucht, die Not der am meisten Vergessenen ans Licht zu bringen, Gerechtigkeit zu suchen, Bewusstsein und Wandel.

Im Zentrum der vernetzten Welt

Während seines gesamten Pontifikats hat Papst Franziskus seine Position als spirituelle und moralische Instanz auf der Weltbühne genutzt, um über Migranten zu sprechen. Er hat tiefes Mitgefühl gezeigt, ist aber auch darüber hinausgegangen, um eine radikale Vision zu entwickeln, die einen alternativen Ansatz zum Mainstream bietet und die ausgegrenzten Menschen in den Mittelpunkt der Reaktion stellt: „Eine gerechte Politik steht im Dienst der Person, aller Beteiligten; eine Politik, die Lösungen vorsieht, die Sicherheit, Achtung der Rechte und Würde aller gewährleisten können; eine Politik, die sich um das Wohl des eigenen Landes bemüht und gleichzeitig das der anderen in einer immer stärker vernetzten Welt berücksichtigt.“

Papst Franziskus konnte seine Anliegen an die Ortskirchen weitergeben, aber auch über die katholische Zuhörerschaft hinausgehen und Frauen und Männer anderer Glaubensrichtungen oder Nichtgläubige inspirieren, die in der christlichen Botschaft viele gemeinsame Werte entdeckt haben. Einer dieser Werte ist eindeutig die Notwendigkeit der „Begegnung“ als Weg, um die aus den Fugen geratene Welt, in der Flüchtlinge unsichtbar sind, im Sinne einer versöhnten Welt zu verändern, in welcher persönliche Beziehungen und die Gemeinschaft ins Zentrum rücken. Es ist diese physische, enge Beziehung zu denen am Rande, die nicht nur jeden von uns bekehren wird, sondern letztendlich politische und soziale Entscheider zu „einer besseren Art von Politik“ führen wird, wie es in Laudato si‘ Nr. 49 erklärt wird:

„Ich möchte darauf hinweisen, dass man gewöhnlich keine klare Vorstellung von den Problemen hat, die besonders die Ausgeschlossenen heimsuchen. Sie sind der größte Teil des Planeten, Milliarden von Menschen. Heute kommen sie in den internationalen politischen und wirtschaftlichen Debatten vor, doch oft scheint es, dass ihre Probleme gleichsam als ein Anhängsel angegangen werden, wie eine Frage, die man fast pflichtgemäß oder ganz am Rande anfügt, wenn man sie nicht als bloßen Kollateralschaden betrachtet. Tatsächlich bleiben sie im Moment der konkreten Verwirklichung oft auf dem letzten Platz. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass viele Akademiker, Meinungsmacher, Medien- und Machtzentren weit von ihnen entfernt angesiedelt sind, in abgeschlossenen Stadtbereichen, ohne in direkten Kontakt mit ihren Problemen zu kommen. Sie leben und denken von der Annehmlichkeit einer Entwicklungsstufe und einer Lebensqualität aus, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung unerreichbar sind. Dieser Mangel an physischem Kontakt und an Begegnung, der manchmal durch die Desintegration unserer Städte begünstigt wird, trägt dazu bei, das Gewissen zu zersetzen und einen Teil der Realität in tendenziösen Analysen zu ignorieren. Das geht zuweilen Hand in Hand mit „grünen“ Reden. Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.“

Auf seiner Reise mit Vertriebenen scheint uns Papst Franziskus zu sagen, wie sehr sie uns eine Gelegenheit bieten, verborgene Teile der Menschheit zu entdecken und unser Verständnis für die Komplexität dieser Welt zu vertiefen. Vielleicht ist und bleibt dies sein Vermächtnis: Durch Migranten und Flüchtlinge werden wir eingeladen, Gott zu begegnen und ein gerechtes Modell für unsere Gesellschaften zu finden, das eine Zukunft für alle bietet, „auch wenn es unseren Augen schwer fällt, ihn zu erkennen“ (Papst Franziskus 2020, Nr. 6 unter Berufung auf die Predigt am 15. Februar 2019). Dieser Prozess hilft nicht nur ihnen, sondern vor allem auch uns, und führt uns zu einer gemeinsamen Lebensgrundlage, die trägt.

„Jeden Tag stehen hier und in anderen Zentren so viele Menschen, vor allem junge Menschen, Schlange, um eine warme Mahlzeit zu bekommen. Diese Menschen erinnern uns an die Leiden und Dramen der Menschheit. Aber diese Warteschlange sagt uns auch, dass wir jetzt etwas tun sollen, jeder, es ist möglich. Es genügt, an die Tür zu klopfen und zu versuchen zu sagen: ‚Hier bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?‘“ (Papst Franziskus 2013, bei seinem Besuch im Centro Astalli).

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