Ein Dialog über die KircheSystemtheorie, Konstruktivismus und Ignatianische Spiritualität

Jan-Christoph Horn verbindet ignatianische Spiritualität mit Konzepten aus Systemtheorie und Konstruktivismus. Intention des Dialogs sind theologisch anschluss-fähige Gedanken über eine Kirche, die sich selber besser versteht. Es ergeben sich Folgerungen für die Kirchlichkeit der Kirche und (Führungs-)Handeln in ihr. Der Autor ist Theologe, Supervisor und Organisationsberater, unter anderem für die Kirche in Münster.

Auf einer Wanderung kann es passieren, dass man auf andere Wanderer trifft, die in die gleiche Richtung laufen. Mag der Startpunkt auch ein unterschiedlicher sein und das Ziel ein Verschiedenes – man teilt für eine Strecke Weg und Zeit, spricht miteinander. Und wenn es am Ende heißt, sich zu trennen, so besteht womöglich Erstaunen vor der Begegnung, die einen nicht unberührt ließ. Womöglich hat man auf dem eigenen Weg etwas Neues wahrgenommen, weil der Andere meinte: „Schau mal, da!“

So eine Wanderung ist der Dialog zwischen christlicher Spiritualität ignatianischer Lesart und systemisch-konstruktivistischen Konzepten, wie sie z.B. in Supervision, Coaching und Organisationsberatung auch in kirchlichen Beratungsdiensten eingesetzt werden. Eine solche Wanderung hat dabei sowohl mit der Ähnlichkeit zu tun, mit der beispielsweise in systemisch-konstruktivistischen Konzepten und dem Exerzitienbuch des Ignatius Erkenntnisprozesse geführt werden, als auch mit dem Unterschied zwischen einer deontologischen Steuerungs- und Erkenntnistheorie auf der einen und der das Geheimnis Gottes erspürenden Glaubenshaltung auf der anderen Seite.

Während der Unterschied zur Klärung dessen beiträgt, dass systemisch-konstruktivistische Konzepte der Beratung und ignatianisch geprägte Weisen der Geistlichen Begleitung und Exerzitienarbeit weder verwechselt sein dürfen noch zu gemeinsamer Identität verwoben werden können, scheint an der Ähnlichkeit in der Weise der Betrachtung und Erschließung von Wirklichkeit ein für die zeitgenössische Kirche interessanter Hinweis auf: Systemdenken und kybernetische Erkenntnisprozesse kommen der Kirche ignatianisch vermittelt innwendig entgegen, vorsichtiger formuliert: solche Beratungskonzepte stehen zur Theologie nicht im offenen Widerspruch. Wenn dem so ist, haben sie konzeptionell etwas zur „Kirchlichkeit der Kirche“ beizutragen. Berechtigt achtsam bleibender Widerstand vor Vereinnahmung ist als Spannungs- und damit Energieflussregulator Element des Dialogs.

Systemtheorie und Konstruktivismus

Weder die Systemtheorie noch der Konstruktivismus sind in sich geschlossene  Theoriegebäude. Wären sie das, wäre das, was sie konzeptuell behaupten, widerlegt. Sowohl die Systemtheorie als auch der Konstruktivismus stehen auch für sich und kümmern sich um unterschiedliche Dinge: Die Systemtheorie ist eine Theorie des Denkens in komplexen Ganzheiten, der Konstruktivismus eine Erkenntnistheorie. Ein Ursprung liegt in der Steuerungstechnik komplexer Apparaturen. Bekannt geworden ist die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann, an der kritisiert wird, dass sie keine politische Theorie ist, weil sie zwar beobachtet, aber nicht sagt, was die Beobachtung bedeutet.

Denn systemisches Denken ist Denken in Systemen, was mit dem alltagssprachlichen Denken von Systemen nur bedingt etwas zu tun hat. Wer die Ordnung einer Bibliothek oder das Spiel einer Fußballmannschaft ein System nennt, löst das Systemische des Systems auf, reduziert einen komplexen Funktionszusammenhang auf etwas „nur Kompliziertes“. Eine komplexe Ganzheit vieler Variablen gibt es dann „wirklich“. Aber hat jemand schon mal ein Tiefdrucksystem von sich sagen hören: „Ich bin ein Tiefdrucksystem“? Nein, ein System entsteht einzig im Auge eines Beobachters, der bestimmte Zusammenhänge von anderen unterscheidet. Systeme bestehen nicht aus Sachen, sondern aus Kommunikationen. So wird aus einer Serie von Starkregenereignissen nur für jene eine Folge des Klimawandels, die sich entscheiden, bestimmte Zusammenhänge mitzusehen – Sinn und Bedeutung entstehen. Wenn in der psychologischen Diagnostik aus einem hibbeligen Kind ein Kind mit Überintelligenz wird, hat sich vermutlich nicht das Kind, sondern der Blick auf das Kind verändert.

Selbst wenn sich alle einig darüber wären, dass etwas ist, wie es ist, gibt es dieses Sein nicht automatisch. Sonst gäbe es in vielen Kinderzimmern echte Monster unter dem Schrank. Umgekehrt gibt es Dinge, die in der Landschaft stehen, aber auf der Landkarte nicht eingezeichnet sind. Sagt ein Wanderer, der mit seiner Wanderkarte vor einem Leuchtturm steht: „Hier gibt es keinen Leuchtturm“. Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Aus seiner Perspektive ist wahr, was er sieht, weil wirksam ist, was es bedeutet. Dies ist ein genügsamer Wahrheitsbegriff, in welchem nicht Letztgültigkeit entscheiden wird. Hypothesen sind deshalb die maximale Weise von Annahmen, die man gelten lassen kann. Sie zu überprüfen heißt nicht, die Ursache eines „Ding“ zu wissen, sondern seine Wirkungen zu beobachten. Und – um der Komplexität gerecht zu bleiben: Der Beobachter sollte sich bei seiner Beobachtung selber beobachten.

Die Systemtheorie ist eine kybernetische Theorie. Der griechische Kybernos ist der Steuermann, der sein Boot in der Kommunikation mit Wind und Wellen von A nach B steuern möchte. Er ist nicht mit einem Navi auf der rechten Spur einer Autobahn unterwegs, sondern Teil einer Ganzheit, deren Ganzes er nicht weiß, weswegen er beobachten muss. Er kann die Kommunikation zwischen ihm, Steuerrad, Ruder, Segel und Wind nicht kontrollieren, aber er kann die Verbundenheit mit den Elementen nutzen, um sein Ziel zu erreichen. Ein System ist eben kein Ganzes, sondern eine unterschiedene Ganzheit – der Unterschied zwischen „allem, was möglich ist“ und „dem, worauf reagiert wird“. Ein System ist die Einheit der Unterscheidung zu einer Umwelt. So unterscheidet eine Kaffeemaschine als System, dass sie nach empfangenem Druckimpuls auf einen bestimmten Knopf einen Kaffee zubereitet. Der Knopf ist eine relevante Umwelt. Wer an einer anderen Stelle drückt und sich wundert, dass nichts passiert, könnte meinen, dass die Maschine kaputt ist. Dabei kann ein Unterschied, der im System nicht hergestellt wird, keine Wirkung haben.

Wahrheit ist kein Zustand, sondern eine Unterscheidung.

Leitprinzip eines Systems ist nicht ein bestimmter Wert, sondern die Viabilität (Gangbarkeit) seiner Prozesse. Ob ein katholischer Priester oder eine freie Trauerpredigerin die Beerdigung gestalten dürfen, macht nur für jene einen Unterschied, die zwischen Priester und Predigerin einen Unterschied sehen. Umgekehrt kann das System als solches nichts anderes, als den einmal getroffenen Unterschied zu reproduzieren: Die Wiederholung von (für das System) Wahrem erzeugt Wahres. Systeme bestätigen sich ständig selbst. Entsprechend führt nur die Einflussnahme auf das, was Einfluss nimmt, zu einer Systemveränderung: Verändere die relevanten Umwelten eines Systems und du forderst „das System“ heraus, seine Systemgrenzen zu validieren. Eine Lehrerin kann noch so viele Fünfen verteilen – die Schüler:innen werden erst dann die Rolle der Lehrkraft und die Bedeutung versetzungsgefährdender Noten akzeptieren, wenn sie Lehrerin und Note als relevante Umwelten (an)erkennen und ihr System (z.B. des Lernens) darauf einrichteten. Veränderung lässt sich nicht von außen injizieren, sondern das System nur pertubieren. Eltern, die sich ein aufgeräumteres Zimmer ihres Kindes wünschen, erreichen das nicht mit besseren, sondern nur mit anschlussfähigen Argumenten.

Systemisches Denken ist kein Denken in Kausalitäten, aus der an irgendeiner Stelle Evidenz entsteht. Systeme sind in sich geschlossene Ganzheiten, bei der die Wahrheit auf sich selber zurückgeführt wird. Wer nur schlecht kochende Männer erlebt hat, für den können Männer nicht kochen. Aber ist damit objektiv wahr, dass dem so ist? Systemisches Denken verzichtet auf diesen Begriff, weil er unnötig abkürzt. Gleichwohl verzichtet es nicht auf den Gehalt dessen, worauf man z.B. seine eigene Lebenswirklichkeit aufbaut. Das ist durchaus etwas Echtes. Die Systemtheorie wäre verkürzt dargestellt, wenn man sagen würde: Weil es die Wahrheit nicht gibt, gibt es keine Wahrheit. Das entspricht nicht der Beobachtung: Es gibt Dinge, die ein Mensch für sich als „wahr“ empfindet. Ob die Liebe der Partnerin oder des Partners oder die Gegenwart Gottes. Was soll daran falsch sein? Wahrheit ist kein Zustand, sondern eine Unterscheidung. In beiden Fällen ist es: Sinn.

Aus der Systemtheorie leitet sich so eine konstruktivistische Epistemologie ab. Für den Dialog, der hier geführt werden soll, ist wichtig, dass wir auf einen systemischen Konstruktivismus treffen. Der Konstruktivismus kennt auch andere Quellen. Eine systemische Wirklichkeitskonstruktion leitet sich aber nicht aus dem Zufall, dem Egal oder der sagenumwobenen Zahl 42 als Antwort auf alle Fragen des Universums ab (wie in Douglas Adams Science-Fiction-Klassiker „Per Anhalter durch die Galaxis“), sondern aus einem in sich geschlossenen, sich selbsterhaltenen Regelkreis, der zwar nicht ontologisch behauptet sein kann, aber echt ist, weil er wirkt, und der, weil er wirkt, verantwortet sein muss. Systemisch-konstruktivistische Konzepte leugnen die Wirklichkeit nicht. Es geht nicht darum, die Wirklichkeit einer Wand, einer Krebserkrankung, einer Blumenwiese oder des Corona-Virus zu leugnen. Es geht um Bedeutungszusammenhänge.

Ein systemisch geprägter Konstruktivist wie Heinz von Foerster kritisiert also einerseits den Begriff einer ontologischen, als in ihrer Begründung aus sich herausführenden Wahrheit, weil hierbei der blinde Fleck der Beobachtung – der Beobachter – nicht mitgesehen wird. Aber man kann als Beobachter für sich und zu anderen sagen, was wahr (im Sinne von gültig, wichtig, relevant) ist. Aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive ist halt nur mitgesagt, dass es immer auch ganz anders sein könnte, weil die Beobachtung sich nicht auf eine Substanz, sondern auf eine Unterscheidung bezieht. So ist das eucharistische Brot nicht heilig, sondern wird es in der Bedeutungszuschreibung eines Gläubigen (= einer Beobachterin). Aber das Glaubensbekenntnis ist nicht weniger „wahr“, nur weil es entschiedene Unterscheidung ist.

Eine systemisch-konstruktivistische Perspektive verlangsamt den Vorgang der Bedeutungszuweisung, weil sie nicht aus „blinden“ Vorannahmen heraus aus A sofort B ableitet, sondern den Beobachter dieser Setzung mit einbezieht. Und jeder Beobachter ist für die Wahrheiten, die er sich (und anderen) schafft, verantwortlich. Freiheit und Autonomie des Menschen gehen folglich im systemischen Konstruktivismus nicht verloren. Der Personen- und Identitätsbegriff wird zwar aus jeder Form transzendentaler Begründung herausgeholt, löst sich aber nicht auf, weil auch konstruierter Sinn Sinn ist. Das ist für die Dialogfähigkeit mit christlicher Theologie eine notwendige Bedingung.

Ignatianische Relektüre

Systemische und konstruktivistische Gedankenbilder lassen sich schon in der griechischen Philosophie finden. Als geisteswissenschaftliche Strömungen wurden sie aber immer dann en vogue, wenn sich die Menschheit mit umfassenden Umbrüchen konfrontiert sah. Denn sie vermögen konzeptionell mit Unsicherheiten umzugehen. Während einer solchen Zeitenwende hat auch Ignatius von Loyola gelebt. Im 15. und 16. Jahrhundert erlebten die Menschen in Mitteleuropa eine Reihe von Erschütterungen bis dato sicher geglaubter Ansichten im Weltbild. Normierende Ordnungen früherer Tage waren nicht mehr brauchbar. Es musste vieles neu entwickelt, gestaltet und geordnet werden. Auch Ignatius von Loyola war, biografisch motiviert, jemand, der das Verhältnis von Gott, Individuum und Welt reformulierte und gemeinsam mit seinen Gefährten Menschen auf ihrem Weg darin einübte.

Ignatius war nicht mit „Systemgedanken“ unterwegs. Er war ein volksfromm geprägter, über tief empfundene Sinnesdrücke in der göttlichen Anschauung verhafteter Mensch. Aber ein erfahrungsbezogener Wissensbegriff, die Relevanz selbstreferentiell-beobachterbezogener Erkenntnis, der Prozesscharakter von Lebenswegen, die Entscheidungsfindung durch Unterscheidung, das Nachgehen wachstumsförderlicher Empfindungen – darin ist er den denkerischen Neuaufbrüchen der Neuzeit nahe, in der auch Systemtheorie und Konstruktivismus einen Nährboden haben. Was Ignatius im „Prinzip und Fundament“ seiner Geistlichen Übungen als Sinn beschreibt, nämlich die „strukturelle Kopplung“ des Mehr-Gottes durch das Mehr-des-Menschen, wie er den Übenden zirkulär durch die vier Wochen der Exerzitien leitet, wie er als Ordensoberer Kommunikation gestaltet – all das hat (es muss oft betont werden) keine Quelle in Systemtheorie und Konstruktivismus, noch haben diese jemals Interesse an einem „Bruder Ignatius“ gezeigt, wie etwa die Umweltbewegung an einem „Bruder Franziskus“. Aber der Eindruck entsteht, dass da zwei Wanderer aus dem gleichen Brunnen Wasser schöpfen.

Ignatius versteht Glauben als durchformte Erfahrung. Er legt keinen formalen Lehrkanon des Glaubens fest, sondern injiziert Glaubenswachstum. Er leitet dazu an, aus der Wahr(!)nehmung dessen, was ein Mensch bei sich erspürt, Sinn zu konstruieren. Der ignatianischen Spiritualität unterliegt ein Wissensbegriff, der über das Verständnis von allgemein bekannten und vermeintlich objektiven Kenntnissen hinausgeht. Ignatius gibt vielmehr die Anweisung, die Differenz zwischen einem und einem anderen Moment der Wahrnehmung des gleichen Gegenstands in den Blick zu nehmen. Auf gleiche Weise geht die systemisch-konstruktivistische Umweltdifferenz vor: Wirklichkeit entsteht aus der Reflexion eines Verhältnisses. Dieser Prozess endet auch für Ignatius nie. Das „magis“ ist kein „finis“. Das Vorläufige, aber Gangbare genügt.

Man kann sagen: Ignatianische Spiritualität ist eine Spiritualität der Beobachtung, eine kybernetische Spiritualität. Sie versteht weder Gott noch den Menschen als Gegenstände, sondern in Beziehung zu sich, zueinander und zu allen Dingen. Sie erkennt den Trugschluss, dass eine Beobachtung auf ihre eigenen Schlüsse hereinfallen kann und übt deswegen in die Indifferenz ein. Sie ist für diesen Weg theologisch immer wieder gescholten worden, bis hin zum Vorwurf des Pelagianismus. Den Willen Gottes nicht als geordnete Hierarchie und das Verhältnis des Menschen zu Gott nicht kausal, sondern als nur bis zum Punkt relativer Sicherheit individuell zu entdeckende Bestimmtheit zu verstehen, löste und löst Befremden und Faszination aus. So werden ignatianisch geprägte Menschen gerne zu Geistlichen Begleiter:innen gewählt, aber (bisher) selten zum Papst.

Ignatius hat im eigenen Leben erfahren, was passieren kann, wenn der Mensch zu wissen meint, was das Richtige sei, und dem in schwärmerischem Explorieren oder Selbstkasteiung nachgeht: Trostlosigkeit und die Abwesenheit von (innerer) Liebe. Er führt den Weg geistlichen Suchens deswegen in strenger Nüchternheit und eng an den Weg Jesu gebunden, in seiner Nachfolge, die kein simples Kopieren der Handlungen Jesu ist, sondern ein Nachahmen, ein Unterscheiden auf das, was für das eigene Tun aus dem Geist Jesu kommt und was nicht. Und er bekennt eine erste Unterscheidung: Es gibt Gott. Auf ihn hin ist alles Suchen ausgerichtet, zu seiner größeren Ehre. Seine Ewigkeit sind Ursprung aller Gnade, allen Trostes und aller Weisung. Aber: aus einer Erfahrung, nicht aus einer Ontologie heraus platziert sich der Gedanke, dass der Mensch nicht auf sich selber zurückgeworfen ist. Weder das „Subjekt Mensch“ noch das „Objekt Gott“ sind vorgedacht wie Stanzfiguren.

Theologische Anfragen

Jede aufgeklärte Theologie behauptet Gott nicht, sondern sucht, beschreibt, bekennt ihn aus Beobachtungen heraus, die dann als „Offenbarung“ bezeichnet werden und Glauben zur Folge haben können. Und doch ist das Gottesverständnis der Knackpunkt des Dialogs auf unserer Wanderung. Eine Verständigung wird es nicht geben. Eine theoretische Epistemologie und eine glaubende Spiritualität sind einander nicht vermittelbar. Aber es gibt eine interessante Parallelität in der Form letzter Erkenntnis, die dialogfähig hält.

Weder das „Subjekt Mensch“ noch das „Objekt Gott“ sind vorgedacht wie Stanzfiguren.

Auch die Systemtheorie unterliegt ja dem Verdacht, dass sie in sich deswegen ganz schlüssig sei, weil sie sich ihre Vorannahmen aussucht, sie also irgendwoher nimmt. In der Formentheorie von George Spencer Brown ist jedoch mit mathematisch-logischen Operatoren darstellbar, dass die Kausalität eines Entweder-Oder auf eine Unterscheidung zurückzuführen ist, die in sich alle Möglichkeiten trägt: Am Anfang war nicht die Unterscheidung, sondern die Möglichkeit zum Unterschied. Der Reiz dieser gedanklichen Spitzfindigkeit trägt nur ein Risiko in sich: Es könnte alles auch ganz anders geworden sein. Mit diesem Risiko kann man leben – auch geistlich, auch theologisch. Mit Karl Rahner: Der Mensch als Hörer:in des Wortes ist eingeladen, Gott zu erkennen, aber es ist auch möglich, dies nicht zu tun. Die Ablehnung Gottes als Glaubensakt, aus einer Gewissensentscheidung heraus, ist geradezu notwendig, weil nur die freie Entscheidung für Gott eine glaubende Entscheidung sein kann.

Für Ignatius war Gott real. Aber Gottesbegegnung kann aufgrund der Gebundenheit des Menschen an seine Sinne nur durch Wirklichkeitsentfaltung geschehen: Gott suchen und finden in allen Dingen (= in allen Beobachtungen). Ignatius definiert folglich keinen Gott, der aus einer unterschiedslosen Ewigkeit daherkommt und angesichts dessen der Mensch nur in Ohnmacht frei wird. Denn Ohnmacht rettet nicht. Gott als Bezugspunkt menschlicher Sehnsucht nach Heil und Rettung der Seele ist in ignatianischer Lesart nicht der Unterschied, sondern die Unterscheidung. Gott ist keine Umweltvariable, Gott ist die Form, die die Einheit des Unterschieds von System und Umwelt zusammenhält und deswegen alle Möglichkeiten in sich birgt. Und so ist der Glaube an Gott nie entschieden, sondern immer die Unterscheidung von Wirkungen: Geist und Aber-Geist, Trost und Nicht-Trost, Frucht und Nicht-Frucht. Aber gibt es diesen Gott dann? Doch, er ist absolut real. Wie die Liebe, die zwei Verliebte spüren – aber auch nur sie.

Niemand kann Gott denken, ohne sich (= eine Beobachterin) mitzudenken – das ist eine theologische Provokation. Doch „Gott ist der Ewige“ als ewige Wahrheit zu behaupten, ist erkenntnistheoretisch nicht plausibel. Es als entschiedene Wahrheit zu sagen aber ist ein Zeugnis. Ein Zeugnis, das einen Zeugen braucht. Es ist eine Wahrheit, der die absolute Sicherheit abgeht, damit es eine Entscheidung sein kann. Es ist kein Gottesbeweis, aber ein Gotteserweis, der nicht beliebig ist, weil er Wahlmöglichkeiten entscheidet und Gott im eigenen Leben verortet. Fragil ist das nur für den, der nach Absicherung außerhalb sucht. Doch ist die menschliche Erfahrung mit dem Leben und dem Glauben nicht die eines Tastens und Schreitens, ein fortwährendes Erkennen und Bekennen?

Bedeutung des Dialogs
für die Kirchlichkeit der Kirche

Die Wanderung durch die Theorie war ein langer Gang. Aber er war nötig, um die Gedanken, die sich aus dem Dialog ergeben, gut genug abzusichern. Der Punkt, an dem sich das Gespräch zwischen ignatianischer Spiritualität und systemisch-konstruktivistischen Konzepten als dialogfähig erweist, ist, dass die entschiedene Verantwortung –das Bekenntnis zu einem Gott, den es gibt – nicht ausschließt, dass vor der Entscheidung die Unentschiedenheit gestanden hat. Ignatius hat die Fragilität seines Lebens als „Möglichkeitsraum“ gedeutet und die für ihn positiv wirkenden Entscheidungen als Gnade Gottes bezeichnet, weil er der Verkündigung Jesu von diesem Gott Bedeutung zugemessen hat. Nicht das Linear-Kausale, sondern das Denken in Möglichkeiten und die Entscheidung durch Unterscheidung hat ihm geholfen, sein Leben in allen Wendungen und Brüchen vor Gott zu verstehen. Die Geistlichen Übungen üben – so gesagt – darin ein, systemisch(er) zu denken. Dies ist geradezu kein Widerspruch zum Glauben, weil Gottesbegegnung im ignatianischen Sinn nicht die Entschiedenheit in der Deutung, sondern die Einübung in die Unterscheidung ist. „Gott“ ist mehr meine Verantwortung als seine.

Die ignatianische Spiritualität findet kirchlicherseits Unterstützung für persönliche und synodale geistliche Wege. Doch die systemisch verstärkte ignatianische Spiritualität als ekklesiologisches Leitprinzip und als organisationsführende Kultur in der Kirche hat darüber hinaus Konsequenzen: Die Organisation von Kirche ist herausgefordert, dass Struktur und Inhalt ihres operational geschlossenen Systems energetisch offen bleiben muss. „Es könnte immer alles ganz anders sein“ ist in einer ignatianisch geprägten Dogmatik kirchlicher Organisation kein Paradoxon, wie man bei Papst Franziskus, dem Jesuiten, beobachten kann.

Die Folge dessen ist relevant, weil kirchliche Akteur:innen so daran erinnert werden, dass ihr Glaubens- und Ordnungssystem nicht einer Setzung, sondern einer entschiedenen Unterscheidung entsprungen ist. Am Anfang war das Chaos, nicht das Lehramt. Auf das Chaos folgte ein Wort – eine Unterscheidung. Damit ist eine Leitungs- und Führungsverantwortung in Kirche formuliert, die nicht auf der Wirkung von Macht basiert, sondern machtvolle Wirkungen reflektiert, Evaluation von Maßnahmen als Lernereignis versteht und Verantwortung für das, was sie setzt, übernimmt. Ignatianische Spiritualität und systemisch-konstruktivistische Epistemologie sind also aus konzeptionell gleichen Gründen sehr unterschiedliche Unruhestifter für die Organisation von Kirche. Sie sind eine Inspiration für eine theologisch verantwortete Organisationstheorie.

Was wäre noch gewonnen, wenn eine ignatianisch vermittelte, systemischere Haltung Kulturmerkmal der Kirche wäre? Man kann beispielsweise nun verstehen, dass ein rechtskonservativer und ein linksprogressiver Christ beide in ihrem Verständnis von Kirche Recht haben, weil sie Unterschiedliches bezeichnen. Ihr Diskurs über die zukünftige Gestalt der Kirche macht deswegen auch keinen Unterschied, er läuft in stabiler Reziprozität eigener Unterscheidungen. Aufschlussreich wird es erst dann, wenn beide über die getroffenen Unterscheidungen, also ihre jeweils relevanten Umwelten reden (= Beobachtung 2. Ordnung) und diese mit- und aneinander überprüfen, um gemeinsam neue Unterschiede zu benennen. Dafür müssen sie die Reproduktion von immer gleichen Beobachtungen unterbrechen und innerlich frei genug sein, anzuerkennen, dass am Ende nicht das Eine oder das Andere, sondern etwas ganz anderes herauskommen könnte. So wie synodale Prozesse aus geistlichen Gründen nicht als Kirchenparlament mit Mehrheitsprinzip verstanden werden sollten, sondern als ein Hören, ein Unterscheiden, ein Indifferent machen, um dann langsam genug zu deuten, so verweisen systemische Gründe ganz ähnlich darauf, dass erst „hinter“ die Unterscheidung geschaut werden muss, um einen anderen Unterschied zu machen: Welche Muster, mentalen Modelle, Episteme triggern eigentlich das, was der eine und der andere gleichermaßen „Wahrheit“ nennt?

Am Dialog theologisch bedeutsam ist der Befund, dass christlich-bekennende Weltdeutung innerhalb poststrukturalistischer Konzepte möglich bleibt. Kirchliches, näherhin sakramentales Handeln zu verantworten ist möglich, weil nicht ein Gehalt von Wahrheit verteidigt werden muss, sondern die Sinnkonstruktion als Wahrheitsereignis verstanden sein kann. Was ist z.B. die Akklamation der Gemeinde nach dem Ruf des Priesters „Geheimnis des Glaubens!“ anderes als die Aufforderung an Beobachter, einen Unterschied zu bezeichnen? 

Systemische Konzepte in Supervision, Coaching und Organisationsberatung der Kirche müssen schließlich aufgrund der Dialogfähigkeit nicht mehr über den Umweg der humanistischen Psychologie legitimiert werden, sondern finden einen Haltepunkt im Markenkern der Kirchlichkeit: Gott ehren durch die prozessorientierte Begleitung und Beratung von emanzipatorischen Entwicklungsprozessen bei Menschen, Gruppen, Institutionen. Deren Ergebnisse nicht vorhersehbar sind, die eine Wendigkeit im Denken und Handeln verlangen, die frei genug sein müssen, das „Andere“ zu beobachten und unterscheiden zu können. Systemische Interventionen in kirchlichen Kontexten sind nicht nur Werkzeug, sondern Ausdruck der Kirchlichkeit der Kirche. Dass systemische Berater:innen meistens spirituell lebendige Menschen sind, sei als Phänomen hinzugelegt.

Zwei Wanderer, die sich Impulse geben: Mehr war nicht zu erwarten. Mehr ist auch nicht möglich. Mehr nicht? Nicht weniger! Doch am Ende bleiben Erkenntnistheorie Erkenntnistheorie und Spiritualität Spiritualität. Da, wo in der Unterscheidung der Form der Systemiker einen Winkel (als Hinweis auf die unentschiedene Form) zeichnet, bekennt der Christ anbetend Gott. Der systemische Konstruktivismus sieht sich von keiner Gnade abhängig. Gleichzeitig fehlt sie ihr als Verheißung.

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