Kinder in der Krise

Seit einigen Wochen wendet sich die öffentliche Aufmerksamkeit endlich mehr den Schäden zu, die Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit erlitten haben, Schäden insbesondere durch die Kita- und Schulschließungen, durch den Ausnahmebetrieb mit Wechselunterricht, Digitalunterricht, Masken, Testungen, Impfdebatten, durch die Schließungen von Sportvereinen, Ferienfreizeiten, und vieles andere mehr. Selbstkritische Stimmen aus Politik und Medien sind da zu hören. Die Bundesregierung legte im Mai ein Aktionsprogramm „zum Aufholen nach Corona“ auf. Umfang: Zwei Milliarden Euro. Vier Themen greift das Programm auf: 1. Abbau von Lernrückständen. 2. Förderung frühkindlicher Bildung („Sprach-Kitas“ und Elternkurse für belastete Familien). 3. Unterstützung von Ferienfreizeiten und außerschulischen Angeboten. 4. Stärkung der Schulsozialarbeit.

Das alles ist zu begrüßen – wenn man auch aus pädagogischer Perspektive zur Überschrift „Aufholen“ kritisch anmerken darf, dass sie für die Kinder und Jugendlichen zunächst einmal nach noch mehr Druck klingt. Bildung braucht Zeit, innere Ruhe und Muße, gerade auch soziale und charakterliche Bildung. Der familiäre und schulische Ausnahmezustand der letzten eineinhalb Jahre hat diesen Raum für sehr viele zugemacht. Er muss überhaupt erst wieder geöffnet werden. Doch immerhin: Wo etwas geflickt werden kann, da soll auch geflickt werden, und das auch ruhig unter Einsatz von Geldmitteln.

Das Programm der Bundesregierung wird allerdings nicht reichen, die langfristigen Schäden bei Kindern und Familien zu beheben, und beansprucht dies wohl auch nicht. Die Schäden liegen tiefer, im Bereich des Vertrauens. Da ist das Gefühl, alleingelassen worden zu sein. Besonders nachhaltig wird es bei Kindern zurückbleiben, die in prekären Familienverhältnissen zu Hause sind. Gewichtige Stimmen aus dem Bereich des Kinderschutzes wie zum Beispiel die des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung schlugen schon im März 2020 Alarm. Sie prallten an einer befremdenden Gelassenheit ab, Kollateralschäden im Bereich des Kinderschutzes in Kauf zu nehmen, mehr noch: Sie setzten sich dem Vorwurf aus, gefährlich zu sein, da sie den Infektionsschutz schwächen. Es wird Jahre dauern, bis Schäden durch familiäre Gewalt in den Jahren 2020/2021 sichtbar werden.

Kinder und Jugendliche waren einer überfordernden Komplexität von Urteilen ausgesetzt. Ihr Wunsch, die Freunde in der Schule wiedersehen zu können, sowie ihr Recht auf Bildung konkurrierten mit ihrem Verantwortungsgefühl dafür, das Erziehungs- und Lehrpersonal in den Schulen nicht zu gefährden oder nicht als „Pandemietreiber“ zu wirken. Kinder und Eltern wurden in diesem ethischen Dilemma allein gelassen, ganz besonders auch von den öffentlichen Äußerungen von GEW und Lehrerverbänden. Diese reduzierten ihr Selbstverständnis zeitweise völlig auf Interessensvertretung der Lehrkräfte und deren Schutz vor Infektion durch Kinder. Manche Lehrkräfte verhielten sich vor Ort dementsprechend. Die Belegschaften von Kitas und Schulen waren meist gespalten und konnten den Kindern wenig orientierungsgebende Antworten geben. Als gewaltfreier Diskursort über diese Themen fielen die pädagogischen Institutionen deswegen weitgehend aus. Die Kinder und Jugendlichen waren in den Debatten einer sich polarisierenden Gesellschaft allein gelassen.

Die Wissenschaft beteuerte zwar, dass Corona kein Killervirus wie z.B. Ebola sei, aber die Botschaft kam bei Kindern und Jugendlichen nicht an. Für sie wurde Corona faktisch zum Killervirus erklärt. Die Politik warnte die Kinder davor, Oma und Opa zu Weihnachten zu besuchen, weil es sonst vielleicht das letzte Weihnachten mit ihnen sein könnte (Angela Merkel am 10.12.2020 im Bundestag). Man darf sich nicht wundern, wenn Kinder und Jugendliche solche Botschaften sehr ernst nehmen, Waschzwänge oder andere Symptome extremer Schuldgefühle entwickeln, weil sie im Discounter einen alten Menschen aus Versehen angerempelt haben. Und auch dies gehört zu den bleibenden Wunden, die in der Corona-Zeit geschlagen wurden: Aggression von Kindern (und Erwachsenen) gegen Kinder und Jugendliche, die ihnen – in Zukunft besonders: ungeimpft – zu nahekommen. Sollten tatsächlich die Kitas und Schulen im neuen Schuljahr komplett geöffnet werden, ist damit zu rechnen, dass auch unter den Kindern (wie unter Eltern, Lehrerinnen und Erziehern) hochemotionale Debatten darüber anschwellen werden, welche Zwangsmaßnahmen aufrechterhalten oder sogar draufgesattelt werden sollen.

Kinder und Jugendliche brauchen bedingungslose Zusage von Nähe und Akzeptanz. Dazu gehört, dass ihnen verlässlich die volle Zugänglichkeit der Bildungsinstitutionen zugesagt wird. Pandemiebekämpfung braucht für eine überschaubare Zeit ein flächendeckendes Distanz-Reglement. Das soll nicht bestritten werden. Ein Jahr ist für Kinder allerdings wie zehn Jahre. Und das ist zu viel.

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