Der Brexit und die Kirche

Großbritannien plant, zum 29. März 2019 die EU zu verlassen. Welche Rolle spielte und spielt die katholische Kirche im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung im Königreich? Msgr. Patrick Hugh Daly stammt aus Irland und ist Pfarrer im Erzbistum Birmingham. Er war von 2013 bis 2016 Generalsekretär der Kommission der Bischofskonferenzen der EU (COMECE).

Am 29. März hat das Vereinigte Königreich (UK) vor, aus der Europäischen Union auszutreten [Stand: 12. März, Anm. d. Red.]. Der Austrittsprozess brachte den Begriff „Brexit“ hervor – aus „Britain“ und „Exit“. Vor knapp 50 Jahren noch, am 1. Januar 1973, trat das UK zusammen mit Dänemark und mit dem benachbarten Irland, mit dem es eine lange, verwickelte, konstruktive aber schwierige Beziehung hat, welche den Austrittsprozess wesentlich beeinflusst, in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein: voll bewusst der Tatsache dass es sich, wenn auch mit Verspätung, an ein einzigartiges politisches Projekt anschloss, das „eine immer engere Union“ mit den anderen europäischen Mitgliedsstaaten anstreben würde.

Wie die anderen EWG-Mitgliedstaaten opferte das UK einen gewissen Anteil seiner nationalen Souveränität dem Gemeinwohl der Gemeinschaft. Ein Brexit bedeutet demnach nicht nur den Austritt aus der EU, sondern auch das Aufgeben eines politischen Projekts und den Abschied von dem vorwiegend konstruktiven Beitrag dreier Generationen britischer Politiker und Beamten zur Gestaltung der heutigen EU. Ob die auf diese Art zurückgewonnene Souveränität eine Chimäre oder ein substantieller Gewinn sein wird, kann niemand voraussagen. Man wird Jahrzehnte brauchen, um die Auswirkungen dieses historischen Austritts auf die hochkomplexen Beziehungen zwischen modernen Staaten zu ergründen.

In diesem Moment dreht sich das Austrittsabkommen zwischen Premierministerin Theresa May und der EU-Kommission um den Austritt des UK aus der Zollunion und dem Einheitsmarkt: einem der vier Grundbedingungen der EU nach Maastricht. Großbritannien betont demgegenüber seinen Wunsch nach der Position eines stark bevorzugten Staates im Handelsbereich und nach engster Freundschaft mit den G7 und den G20.

Die Katholische Kirche und Europa

Im UK spielt die katholische Kirche heute keine leitende Rolle. Jeder zehnte englische Bürger ist katholisch. In Schottland und Wales sind es etwas weniger; in Nord-Irland ist etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung katholisch. Auf dem britischen Festland hielt sich die katholische Kirche aus verschiedenen historischen Gründen aus der Parteipolitik heraus, jedoch, wiederum aus historischen Gründen, muss sie das Problem des Brexits und dessen Folgen auf eigene Weise ansprechen. Deswegen ist es wichtig, die Auswirkungen des Brexits auf die Position der katholischen Kirche in England und Wales gegenüber ihrem kulturellen europäischen Erbe abzuschätzen sowie gegenüber dem Erbe des EU–Projekts selbst, zunächst aus der Sicht eines Außenseiters.

Die britische katholische Kirche legte immer besonderen Wert auf ihre Beziehung zu Rom und zum Heiligen Stuhl.1 Unbestreitbar ist die Unterstützung des Heiligen Stuhls für das europäische Projekt, angefangen mit dem Vertrag von Rom 1957 bis zu dessen 60. Jahrestag, der am 25. März 2017 ebenda gefeiert wurde.2 Auf dem Familienfoto vom Vortag, mit Papst Franziskus vor dem spektakulären Hintergrund von Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle, fehlt eine Regierungschefin – Theresa May. Obwohl er der erste nicht-europäische Papst seit mehr als tausend Jahren ist, erkennt Papst Franziskus die Wichtigkeit der EU für europäische Staatsbürger und unterstützt mit Enthusiasmus die Werte und Zielsetzungen des europäischen Projekts.3 Deshalb steht die katholische Kirche von England und Wales, ohne das Resultat der Volksabstimmung von 2016 infrage zu stellen, nun im Zustand einer gewissen Verlegenheit, die ihre anglikanische Schwesterkirche nicht hat.

Die Bischöfe von England und Wales sind bekannt für ihr Interesse am Europa-Projekt und ihre Unterstützung. Über mehrere Jahre, bis finanzielle Einschränkungen es nicht mehr ermöglichten, bestand innerhalb der Bischofskonferenz eine heterogene Arbeitsgruppe von Geistlichen, pensionierten Diplomaten, Mitgliedern des Oberhauses und, im Falle des kroatischen Diplomaten Chris Cviic, einem der hervorragendsten, erfahrensten und klügsten Europaexperten der Nachkriegszeit.

Zwei der Bischöfe, die als Vorsitzende des Europäischen Ausschusses (European Affairs Committee EAC) amtierten, hatten besondere persönliche und familiäre Verbindungen zur europäischen Politikwelt: Der Vater von Erzbischof Maurice Couve de Murville (†2007) war Cousin von General Charles de Gaulles Außenminister, ebenfalls Maurice Couve de Murville genannt (†1999). Und der Vater von Bischof Crispian Hollis war Parlamentsabgeordneter und Mitglied des Europäischen Rats. Beide Bischöfe vertraten England und Wales bei der COMECE.

Alle Themen, die Kirche und Politik kontinentweit berührten, waren von Interesse für den Ausschuss. In den 1990er-Jahren waren die vorherigen COMECON-Länder [Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe der Staaten des ehemaligen Ostblocks, Anm. d. Red.] im Fokus, in denen die Kirche sich noch bemühte, aus dem Schatten der Vergangenheit hervorzutreten, und für die der Beitritt zur EU ein Ziel war, das alle anstrebten. Damals war kein Mitgliedstaat enthusiastischer über die Erweiterung von 2004 und die Binnenmigration aus den ehemaligen kommunistischen Staaten als das UK.

Die katholischen Bischöfe begrüßten die Erweiterung von 2004, besonders weil die erste Welle der Immigranten in das UK jung und katholisch war. Die Besucherzahl katholischer Messen erlebte einen plötzlichen Aufschwung. Wenn das Bischofskomitee das Thema Europa behandelte, geschah das immer im Sinne des europäischen Einigungsprojekts.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Bischöfe von England und Wales 2014 noch den Aufruf von Kardinal Reinhard Marx – damals Präsident der COMECE – an alle EU-Bürger unterstützten, an den europäischen Parlamentswahlen teilzunehmen und mit ihren Abgeordneten in Verbindung zu treten: Kaum zwei Jahre, bevor Premierminister David Cameron ein Referendum über die EU-Angehörigkeit abhalten lassen sollte, war klar, dass das UK aus Sicht der katholischen Bischöfe ein langfristiges Mitglied der EU sei und dass die Bürger, die sie in ihren Kirchen und außerhalb ansprachen, sich das Projekt persönlich aneignen sollten.

Das Referendum 2016

Referenden sind üblich in Ländern, die eine geschriebene Verfassung haben. In Irland beispielsweise, einer Republik mit einer 1937 festgesetzten Verfassung, verlangt jede gesetzliche Änderung derselben eine Volksabstimmung.4 Im UK ist das anders, da es über keine Verfassung in diesem Sinne verfügt. Referenden gehören nicht zur politischen Tradition des UK und sind ein ausländischer Import, der in den vergangenen Jahrzehnten bloß zweimal angewandt wurde, und zwar beide Male in Bezug auf Europa: Zuerst mit der Frage, ob das UK Mitglied der EU werden solle, sodann mit der Frage, ob es Mitglied bleiben oder austreten solle. Jede Einschätzung der Auswirkungen des 2016er-Referendums muss die Tatsache, dass eine Volksabstimmung einen Fremdkörper in der britischen Parlamentsdemokratie darstellt, im Auge behalten.

Was das Referendum 2016 anbetrifft, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die Katholiken im UK – immerhin acht Millionen! – sich zur EU anders positionierten als die restliche Bevölkerung. Im März 2016 besuchte Paul Gallagher, Erzbischof von Liverpool und seit 2014 Sekretär für die Beziehungen mit den Staaten im Vatikanischen Staatssekretariat (auch „Vatikanischer Außenminister“ genannt) London, wo er sich mit Regierungsmitgliedern und mit Parlamentsabgeordneten im Palast von Westminster traf. Mit der angemessenen diplomatischen Umsicht rief Gallagher dazu auf, dass das UK in der EU bleiben möge: Er mahnte, dass die EU beim Austritt des Königreichs geschwächt werde. Kardinal Vincent Nichols, Erzbischof von Westminster und Vorsitzender der Bischofskonferenz von England und Wales, war noch umsichtiger: Er meinte, dass die katholische Kirche im allgemeinen jene Kräfte bevorzuge, die eher vereinigend als spaltend wirken, und deutete an, dass er das Verbleiben des UK in der EU bevorzugen würde. Beide hohen Geistlichen betonten allerdings, dass, egal was käme, sie das Resultat des Referendums respektieren würden. Somit ist die derzeitige öffentliche Position der Bischöfe nach dem Votum, dass sie den Brexit als den Weg vorwärts ansehen.

Die Bischöfe sind sich bewusst, dass im Vorfeld des Referendums 2016 und in den intensiven öffentlichen Debatten in beiden Häusern des Parlaments die britische Politik der letzten achtzehn Monate dominiert hat und es anscheinend auch weiterhin tun wird. Ebenso wissen sie, dass katholische Politiker unter den lautesten Kritikern der EU zu finden waren und die eifrigsten Austrittsbefürworter sind. Ein beträchtlicher Teil der UKIP-Mitglieder [„UK Independence Party“, Partei für die britische Unabhängigkeit, Anm. d. Red.] im Europäischen Parlament sind Katholiken. Der Parlamentsabgeordnete für Staffordshire beispielsweise, Bill Cash, ist ein leidenschaftlicher Gegner der Zugehörigkeit des UK zur EU – ebenso wie Iain Duncan Smith, ehemaliger Vorsitzender der konservativen Tory-Partei und danach lange Zeit Regierungsminister. Beide sind Katholiken und Austrittsbefürworter. Der Leiter der Europäischen Forschungsgruppe („European Research Group“ – ein rechtskonservativer Thinktank der Tories), Jacob Rees-Mogg, ist Sohn des höchst einflussreichen ehemaligen Herausgebers der Tageszeitung „Times“ (auch ein Katholik) und einer der extremsten EU-Austrittsbefürworter im Parlament. So besteht eine beträchtliche Gruppe von Fackelträgern für den Brexit aus intelligenten, redegewandten und engagierten Katholiken. Die Bischöfe verbergen alle Verlegenheit über diesen unbequemen Zusammenhang.

Das Ergebnis des Brexit-Referendums 2016 bringt die Katholiken von England in eine ambivalente Position.5 Einerseits wissen sie, dass Papst Franziskus, den viele bewundern, eine positive Einstellung zum EU-Projekt hat. Manche hörten bestimmt Erzbischof Gallaghers Aufruf an die Parlamentsabgeordneten, auf das Verbleiben des UK in der EU zu hinzuwirken. Aufmerksame Katholiken erkennen auch die langjährigen Bemühungen ihrer Bischöfe, das Europaprojekt als ein erhabenes Ideal, von der Soziallehre der katholischen Kirche inspiriert, ins allgemeine Bewusstsein zu bringen.

Durch das Votum der Volksabstimmung von 2016 ist die englische katholische Kirche nicht mehr im Einklang mit den Kirchen der anderen 27 EU-Staaten. Im März 2016, vor dem Referendum, bestätigte Erzbischof Gallagher, dass die Kirche das Ergebnis der Volkstimme vollständig respektieren würde. Dies ist auch die Einstellung der Bischöfe vor Ort. Kein Bischof, kein Vertreter der Kirche, weder hierzulande noch in der EU, stellte den Mehrheitsentscheid für den Austritt aus der EU infrage. Zugleich aber hat kein Bischof die Optionen und Hoffnungen, die wiederholt in der Bischofkonferenz zum Europatag ausgesprochen wurden, zurückgezogen. Dennoch wird die zukünftige Stellung zu Europa, insoweit sie von den katholischen Kanzeln in England angesprochen wird, geändert werden müssen.

Die katholische Kirche von England und Wales ist nicht die dominierende christliche Präsenz im Vereinten Königreich. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben sich die ökumenischen Beziehungen stark verbessert, und die lange Benachteiligung der katholischen Kirche veränderte sich grundsätzlich, als der Katholizismus in den Hauptstrom der britischen Gesellschaft trat. Das geschah, als alle christlichen Konfessionen gegenüber einer immer stärker säkularisierten Weltanschauung in der Gesellschaft an Boden verloren. Die sozialpolitische Identität des Katholizismus definiert sich durch seine besondere Verbindung zum Papst und seinem europäischen Erbe. Die vom Brexit bedingte Neupositionierung zu diesem Erbe fordert die katholische Kirche besonders heraus.

Der englische Katholizismus überlebte das 17. und 18. Jahrhundert hauptsächlich dank seiner Verbindungen zu Europa. Die Priesterseminare, die Weltgeistliche erzogen, die benediktinischen Klöster, die ihre Mönche als Missionare aussandten, die Jesuiten, von denen einige Märtyrer wurden, kamen alle vom europäischen Festland. Im frühen 19. Jahrhundert stellten eine wesentliche Zahl der in Großbritannien arbeitenden Priester französische Migranten; fünfzig Jahre später bestanden die meisten damals aufgebauten Gemeinden aus zahlreichen Migranten aus Irland. Die Mehrzahl der heutigen katholischen Gemeinden hat einen hohen Anteil von Italienern und Polen der zweiten Generation, deren Eltern sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien ansiedelten. Dass die Iren leidenschaftliche Unterstützer des Europa-Projekts sind, fügt eine besondere Wendung zur Brexit-Geschichte hinzu.

Obwohl die europäischen Wurzeln ein integraler Teil des britischen katholischen Erbes sind, ist der hohe Anteil der EU-Bürger in allen Kirchengemeinden bemerkenswert. Katholische Schulen beherbergen viele Kinder von EU-Migranten, deren Eltern seit der 2004-EU-Erweiterung im UK arbeiten. Der Ortspfarrer, der mehr als 25 Jahre lang mit Erasmus-Austauschstudenten gearbeitet hat und ihr Seelsorger war, muss nun mit den Sorgen vieler EU-Bürger zurechtkommen, die sich um ihren Status nach dem Brexit ängstigen. Die für ihre Kinder erhoffte Zukunft im Königreich, auf die sie in katholischen Schulen vorbereitet werden, steht infrage. Das Ergebnis des Brexit-Referendums verstört viele EU-Bürger, die sich hier eingelebt haben, insbesondere wegen der überbewerteten Migrationsfrage, die anscheinend einen starken Einfluss auf die Abstimmung hatte.

Die Post-Brexit-Herausforderung

Die Globalisierung der Wirtschaft und die hohe Zahl von Einwanderern, die den Diskurs nicht nur in Europa, sondern weltweit verändert hat, berühren das UK auf eigenartige Weise. Das hat auch das Bewusstsein der englischen katholischen Kirche in Bezug auf die universale Dimension ihrer katholischen Identität geschärft. Schon die Tatsache, dass Englisch die Stelle von Latein (auch die von Französisch, das die Verkehrssprache der frühen EU gewesen ist) als lingua franca eingenommen hat, hat die universale Anziehungskraft des Katholizismus im UK gefördert. Es ist ein glücklicher Zufall, dass so viele englische katholische Priester ihre Seminarausbildung in Rom bekamen und dass Priester von ganz Europa den Wunsch haben, eine Zeit lang in englischen katholischen Gemeinden zu arbeiten. Unsere europäischen Wurzeln verschwinden nicht mit dem Austritt des UK aus der EU. Der englische Katholizismus, mit seiner unumgänglich historischen und weiterlebenden europäischen Identität, bleibt mit seinem Erbe in Verbindung und ist sich seiner weiteren Mission bewusst.

Auch wenn das UK nicht mehr ein Mitglied der EU sein sollte,6 wird es weiterhin die Erhabenheit des Europa-Projekts schätzen, und es verpflichtet sich weiterhin zum Streben nach der Erhaltung des Friedens, das zu ihrer Zeit Schuman, De Gasperi und Adenauer motivierte. Der Beitrag, den das UK für die EU in den 43 Jahren, in denen es sein Mitglied gewesen sein wird, geleistet hat, wird auf beiden Seiten des Kanals anerkannt. Das Eintreten der katholischen Kirche für das EU-Projekt und seine Ideale besteht weiterhin, auch wenn das UK nicht mehr in der EU ist. Es gibt keinen Grund, weswegen die englischen Katholiken der EU nicht jeden Erfolg wünschen sollten, zusammen mit der Bestrebung, möglichst enge Beziehungen zu der politischen Familie, zu der das UK so lange gehört hat, zu erhalten. 

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