Rezensionen: Wissenschaft & Bildung

Schinaia, Cosimo: Pädophilie. Eine psychoanalytische Untersuchung. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018. 319 S. Gb. 36,90.

Vor allem seit den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche ist Pädophilie ein zwar allenthalben, aber nicht immer mit der nötigen Sachkenntnis und Sensibilität diskutiertes Thema. Der Begriff wird häufig als Synonym für jede Form sexuellen Missbrauchs Minderjähriger benutzt, was das Bild verfälscht und weder den Opfern, noch den – zuweilen psychisch kranken – Tätern gerecht wird. Dass die wissenschaftliche Psychoanalyse, für die Pädophilie eine Herausforderung darstellen müsste, dieses Thema vielfach ängstlich vermeidet und tabuisiert, ist angesichts des öffentlichen Diskurses zu bedauern, zumal in der Psychoanalyse sowohl die Opfer- als auch die Täterperspektive eine zentrale Rolle spielen.

Schinaias Buch, in Italien 2001 erschienen, beinhaltet eine wissenschaftlich qualifizierte und zugleich sozial sensible psychoanalytische Untersuchung des Wesens und der Folgen der Pädophilie. In der spärlichen psychoanalytischen Literatur zu diesem Thema ist das Buch eine erfreuliche Ausnahme. Dass es nun auch in deutscher Sprache vorliegt, ist der Berliner Psychologin und Therapeutin Angelika Ebrecht-Laermann zu verdanken, die auch das Vorwort verfasst hat.

In einer längeren „Einführung in die zweite Ausgabe des Werks in seiner italienischen Fassung“ geht der Autor einerseits auf die oben bereits angeklungene Angst vor der Pädophilie und auf den Zusammenhang von Medien und gewaltbereiter Haltung ein und macht andererseits einen längeren Exkurs über den auch unter Papst Franziskus noch als widersprüchlich wahrgenommenen Umgang der katholischen Hierarchie mit Klerikern, die Minderjährige sexuell missbraucht haben.

Im ersten Kapitel setzt sich Schinaia mit sozialen und kulturellen Aspekten auseinander, die den Diskurs der Pädophilie begünstigen. Im zweiten Kapitel geht es um Mythos und Pädophilie, im dritten um Märchen und pädophile Phantasien. Es folgen Untersuchungen zur Geschichte der Pädophilie und zur Pädophilie in den Theorien der Medizin und der Psychiatrie (Kap. 4/5), bevor der Autor zu seinen psychoanalytischen Thesen zur Pädophilie kommt (Kap. 6): Der Autor unterscheidet Pädophilie als Perversion und als Perversität. Geht es bei Letzterer um reine sexualisierte Gewalt, also letztlich um die Vernichtung des anderen, so ist die Perversion eher mit einer Psychose als Folge eines erlittenen Traumas zu vergleichen und dient der Abwehr, Kontrolle und Vermeidung schwerer psychotischer Ängste.

Sodann unternimmt der Autor einen Ausflug in die Welt der Romane, um anhand von literarischen Personen unterschiedliche pädophile Persönlichkeiten und Haltungen zu beschreiben, bevor er die Wesensmerkmale pädophiler Beziehungen noch einmal systematisch darstellt (Kap. 7/8). Ein Fallbeispiel einer pädophilen Beziehung leitet über zur Darstellung der aufreibenden Auseinandersetzung der Arbeitsgruppe mit den schwierigsten Aspekten von Therapien pädophiler Patienten (Kap. 9/10).

Dass ein Buch sich so umfassend und zugleich differenziert mit den komplexen kulturellen, klinischen und gesellschaftlichen Aspekten der Pädophilie auseinandersetzt und allen allzu schematischen Betrachtungsweisen entgegentritt, kann helfen, viele – auch in der kirchlichen Hierarchie vorhandene – falsche und oberflächliche Vorstellungen zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern zu korrigieren. Opfern wie Tätern soll so eine zielgerichtete psychotherapeutische Behandlung ermöglicht werden.

Hans Zollner SJ

 

 

Lukas, Elisabeth: Frankl und Gott. Erkenntnisse und Bekenntnisse eines Psychiaters. München: Neue Stadt 2019. 188 S. Gb. 20,–.

Die von Viktor E. Frankl (1905-1997) begründete sinnzentrierte Logotherapie verhält sich dem Klienten gegenüber zwar weltanschaulich neutral und kann auch von areligiösen Therapeuten praktiziert werden. Sie ist aber in ihrem Bekenntnis zur unbedingten Sinnhaftigkeit des Lebens durchaus religiös fundiert, mit unverkennbarer Affinität zur Seelsorge. In welcher Art von Glauben hat sie Frankl, der täglich seine jüdischen Gebete verrichtete, verankert? Elisabeth Lukas, die Frankls Denken und seine Person wie sonst wohl niemand kennt, vermittelt in diesem Buch in gemeinverständlicher Form ein Gesamtbild, indem sie die einschlägigen Aussagen Frankls knapp zitiert, erläutert und auf die jeweiligen Fundstellen in seinen Werken verweist.

Sie zeigt, wie er im Kampf gegen den Nihilismus von einem „metaklinischen“ Menschenbild ausgeht, das über den physischen und psychischen Bereich hinaus als dritte Dimension das „Geistige“ (Noetische) postuliert, das uns befähigt, uns von Triebimpulsen, Stimmungen und sozialen Einflüssen zu distanzieren und in Freiheit sinngebende Werte zu erstreben. In dieser Dimension wurzele das Gewissen als Sinn-Organ, das trotz möglicher Missdeutungen intuitiv einen transsubjektiven Sinn erfasse. Im Gewissen melde sich ein transzendenter Auftraggeber, den Frankl gegen alle jüdische Zurückhaltung „Gott“ nennt. Diese zum Menschsein gehörende Gottbezogenheit sei oft „verdrängt“ und darum „unbewusst“. Doch Mensch sein und in psychohygienisch gesunder „Selbsttranszendenz“ leben, heiße „hingegeben (sein) an ein Werk, dem sich der Mensch widmet, an einen Menschen, den er liebt, oder an Gott, dem er dient.“

Leiden erhält für Frankl erst „von der Überwelt“ her einen letzten Sinn, den wir allerdings so wenig erkennen wie Ijob. Nichts ist mehr sinnlos, wenn wir einen „Über-Sinn“ (Vorsehung) annehmen. Diese Annahme begreift Frankl in Anlehnung an Kants Postulate der praktischen Vernunft als denknotwendigen und denkunmöglichen Grenzbegriff: als „Glaubensakt“. Der allerhöchste Wert, der „Über-Sinn“, ist für ihn kein Es, sondern ein Du (Martin Buber), eine „Überperson“, nur glaubbar und so wenig verstehbar, wie es Menschengedanken für ein Tier sind.

Der Mensch soll denn auch nicht von, sondern zu Gott sprechen; das Gebet mache ihn als Du präsent. Freilich wird unserem Gebet „vom unendlich fernen Grund des Seins“ keine Antwort zuteil. Er ist „der immer Schweigende – aber auch der immer Gerufene.“ Eine Gotteskindschaft (Vaterunser) kann sich Frankl nicht vorstellen, eine geschichtliche Gottesoffenbarung, gar eine Menschwerdung, wohl auch nicht. Er meint, die Menschen könnten in jeder Religion den einen Gott finden.

Frankls sinnzentrierte und transzendenzbewusste Spiritualität wirft zweifellos philosophische und theologische Fragen auf. Lukas hat nicht die Absicht, sie zu erörtern, sondern will dem Leser ein verlässliches Panorama anbieten, das er besinnlich betrachten oder auch kritisch weiterdenken kann. Das ist ihr hervorragend gelungen.            

Bernhard Grom SJ

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