Den Planeten anblicken

Vor einem Jahr, im Dezember 2018, schwebte der deutsche Astronaut Alexander Gerst 400 Kilometer über der Erde in der Aussichtskapsel der internationalen Raumstation ISS. Die Kamera war auf ihn gerichtet. Im Hintergrund war die Erde zu sehen, weiße Wolkenfelder auf hellblauem Grund. Er sprach in die Kamera hinein: „Liebe Enkelkinder, wenn ich so auf den Planeten runterschaue, dann denke ich, dass ich mich bei euch entschuldigen muss.“ Seine Generation, sagt er, werde die Erde wohl nicht im besten Zustand an die nachfolgenden Generationen übergeben. Und dann zählt er auf: Hemmungslose Rodung der Wälder, Müll in den Meeren, Bodenschätze, welche die Menschen viel zu schnell verbrauchen, sinnlose Kriege, die da unten auf der Erde geführt werden. Schließlich ermuntert er die Enkelkinder, es besser zu machen, ihre Träume zu leben und – so schließt er wörtlich – „niemals ganz erwachsen zu werden“.

Bedenkenswert an dieser Szene ist zunächst der Moment der Ergriffenheit. Alexander Gerst ist berührt vom Anblick der Schönheit des Planeten, aber auch vom Innewerden seiner Verletzlichkeit und seiner Verletzung. Die Ergriffenheit führt ihn zugleich zur Liebe zu seinen Enkelkindern, die auf diesem wunderschönen Planeten leben und weiterleben werden, länger noch als er, der ziemlich alte Mann. Der Blick auf das Ganze des Planeten und der Herzensblick auf die Enkelkinder gehören zusammen, ergänzen und bestärken einander.

Ich hoffe, ich vereinnahme weder Alexander Gerst noch den heiligen Ignatius, wenn mich Gersts Blick an die Betrachtung des Ignatius von Loyola über die Menschwerdung (Exerzitienbuch 101 ff.) erinnert. Zunächst der Blick auf das Ganze: „Betrachten … wie die drei göttlichen Personen die ganze Fläche oder Rundung der ganzen Welt voller Menschen schauten.“ Auch sie sind ergriffen, „da sie sahen, dass alle zur Hölle herabsteigen“, und beschließen, „dass die zweite Person Mensch werde, um das Menschengeschlecht zu retten. Und so senden sie, als die Fülle der Zeiten gekommen ist, den heiligen Engel Gabriel zu unserer Herrin.“

Mit der „Herrin“ ist Maria gemeint. Sie steht für die andere Seite des Kon­trastes, für den winzigen Ort Nazaret. Der ist genauso wichtig wie die „Rundung der ganzen Welt“. Die betrachtende Person soll im zweiten Schritt der Übung „zusammenstellen“, was sie „im Raum“ sieht: „Die große Fassungskraft und Rundung der Welt sehen, worin so viele und verschiedene Völker wohnen; ebenso danach“ – und im Kontrast dazu – „das Haus und die Zimmer unserer Herrin in der Stadt Nazaret in der Provinz Galiläa.“ Die Aufmerksamkeit für das Große und das Kleine gehören zusammen. Das ist die „göttliche“ Weise der Wahrnehmung. Man kann sie sich auch als Mensch zu eigen machen – wenigstens übungsweise. In einer Festschrift 100 Jahre nach der Gründung des Jesuitenordens steht ein berühmtes Diktum über Ignatius, das Hölderlin seinem Hyperion voranstellte: „Non coerceri maximo tamen contineri minimo divinum est – vom Größten nicht begrenzt sein, dennoch vom Kleinsten umfasst sein, das ist göttlich.“ Darum geht es.

Und dann folgt die erstaunliche Schlussaufforderung von Alexander Gerst: „Werdet niemals erwachsen!“ Sich das Kind in der erwachsenen Person zu erhalten hat zunächst damit zu tun, sich ergreifen zu lassen – und zwar vom Ganzen, bevor man in die Einzelheiten geht. Und zugleich vom Winzigen. Durch die Menschwerdung Gottes im Kind wird das Kindhafte hervorgehoben und geadelt, das alle Menschen in sich vorfinden dürfen, wenn sie nur tief genug hinter die Kulissen der Verzweiflung über sich selbst und über die Zeitläufte blicken: Hoffnung wider alle Hoffnung (vgl. Röm 4,18); Hoffnung, dass es möglich ist, den Urenkeln einen besseren Planeten zu hinterlassen. Klein anfangen und zugleich groß denken.

Seit einigen Monaten ziehen Jugendliche auf die Straße, um für den Erhalt des Planeten zu demonstrieren. Man mag unterschiedlicher Meinung darüber sein – aus der Sicht des Pädagogen sehe ich eher sorgenvoll darauf –, wie ein 16-jähriges Mädchen vor den Mächtigen der Welt in New York einen Gefühlsausbruch hat, mit dessen Folgen für sich selbst es noch viele Jahrzehnte lang wird leben müssen. Man mag auch darüber streiten – aus der Perspektive des Schulleiters halte ich an der Systematik der Schulpflicht fest –, wie man angemessen mit deren Bruch umgeht, die zum Provokations-Konzept von „Fridays for Future“ dazugehört. Man mag auch, wenn man sich als hartgesottener Fachpolitiker versteht, mit dem üblichen „Aber, aber“ darauf hinweisen, dass es zur Reduzierung des CO²-Ausstoßes vieler kleiner Schritte bedarf, die mühsam austariert werden müssen und die mit den Verträglichkeitsgrenzen der primär Betroffenen sowie mit Gerechtigkeitsfragen in Beziehung gesetzt werden müssen, um nicht kontraproduktiv zu wirken. Stimmt alles. Doch ohne die Basis der Ergriffenheit und auch der kindhaften Hoffnung für das Ganze der Welt geht es nicht. Deswegen ist die Übung heute aktueller denn je: „Die Rundung der ganzen Welt voller Menschen“ betrachten, und auch „das Zimmer in der Stadt Nazaret“.

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