"Mit einem Haifischbiß"Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff in ihren Romanen

Die in Berlin lebende österreichische Publizistin und Literaturkritikerin Sigrid Löffler stellt das Romanwerk der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff vor, die zuletzt durch ihren hintergründigen Roman "Blumenberg" Aufsehen erregte.

Sibylle Lewitscharoff weiß wohl, daß sie aufpassen muß. Sie läuft heutzutage Gefahr, Applaus von unerwünschter Seite zu erhalten. Denn die Zeitgeist-Fraktion, die sich seit einigen Jahren im deutschen Feuilleton bemerkbar macht und die liebend gerne diese Autorin für sich reklamieren würde, entspricht nicht ihrem Geschmack. Dem grassierenden deutschen Feuilleton-Katholizismus, für dessen "Spiritual Turn" zumeist ästhetische Gründe und ein Streben nach Distinktionsgewinn ausschlaggebend scheinen, käme es sehr zupaß, mit dem Namen Lewitscharoff angeben zu können - dem Namen einer Autorin, die von Buch zu Buch an Reputation gewinnt und an Preiswürdigkeit zulegt (allein im Jahr 2011 wurden ihr vier renommierte Literaturpreise zugesprochen).

Gefeiert - und vom Feuilleton-Katholizismus vereinnahmt?

Doch mit dieser Gesellschaft und deren unterschiedlichen religiösen Attitüden haben Lewitscharoffs Romane, wenn man sie nur genauer liest, nichts gemein. Weder finden sich darin Belege für jenen spirituellen Aristokratismus, dessen Liebäugeln etwa mit der lateinischen Messe nach tridentinischem Ritus sich vornehmlich elitärem Dünkel verdankt - wofür Peter Sloterdijk die Spottformel vom "parakatholischen Eleganz-Phänomen" geprägt hat - noch spricht aus ihnen ein bürgerlicher Restaurationswunsch, der sich an der Wiederentdeckung von Messerbänkchen, Stecktuch, Tischgebet und sonntäglichem Kirchenbesuch gleichermaßen ergötzen und emporranken möchte. Und erst recht haben Lewitscharoffs Bücher nichts zu tun mit jenem schnöseligen Mitläufer-Katholizismus, der den Glauben nur hervorkehrt, um auf alle Fälle auf der Siegerseite zu sein, sofern er Spiritualität nicht überhaupt als Wellness mißversteht, dienlich einzig zur Optimierung der eigenen Work­Life-Balance.

Jeder Versuch, diese Autorin für gleich welche Form von Feuilleton-Katholizismus zu vereinnahmen, muß allein schon daran scheitern, daß Sibylle Lewitscharoff, die 1954 in Stuttgart geborene Tochter einer deutschen Mutter und eines bulgarischen Vaters, mütterlicherseits dem schwäbischen Pietismus entstammt und diesem auch verbunden ist, wiewohl sie gelegentlich nicht ungern ihr Mütchen an ihm kühlt und ihre polemischen Krällchen an ihm schärft. Ihr privates Christentum, wie auch immer es beschaffen sein mag, scheut jedenfalls die Ostentation. Nichts könnte dieser diskreten Autorin fremder sein und ferner liegen als die modischen Glaubensverrenkungen von Schriftsteller-Kollegen wie Martin Walser oder Martin Mosebach. Sie hat nichts gemein mit Walsers so eitel wie penetrant zur Schau gestelltem Greisen-Flirt mit dem Glauben ("Mein Jenseits") oder mit Mosebachs erlesenen präkonziliaren Rückständigkeiten und preziösen anti-modernen Ressentiments ("Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind").

Daß Lewitscharoff an der Berliner Freien Universität Religionswissenschaft bis zum Magistergrad studiert hat, ist für den spirituellen Habitus ihrer Werke weitaus bedeutsamer und prägender, als es der katholisch parfümierte Zeitgeist je sein könnte. Gleichwohl läßt sich nicht übersehen, daß sich dieser Zeitgeist mit seinem Interesse an einer Renaissance spiritueller Themen dem zunehmenden Erfolg von Lewitscharoffs Werk als durchaus förderlich erweist. Und das ist genau der Punkt, an dem sie aufpassen und sich vor Vereinnahmungen und Etikettierungen hüten muß. Mit dem mancherorts ausgerufenen und herbeigeredeten religiösen Revival in der deutschen Gegenwartsliteratur haben Lewitscharoffs Romane wenig zu tun - dafür sind sie zu eigensinnig, zu vieldeutig, zu verschmitzt.

Dieses Romanwerk entzieht sich jedem Versuch einseitiger Festlegung und einengender Zuordnung. In seinem eigentümlichen Amalgam aus Humor und Tiefsinn, aus schrägem Witz und Glaubensspekulation läßt es sich keineswegs auf die Erörterung spiritueller Probleme reduzieren, auch wenn darin die Lust an metaphysischen Großfragen immer wieder durchschimmert. Wenn darin Glaubensfragen angepackt werden, dann geschieht das robust und verwegen, mit viel Sprachwitz und ohne jede Salbung, denn diese Autorin hat es faustdick hinter den Ohren. Sie findet ein Vergnügen daran, religionsphilosophische Verzwicktheiten zu thematisieren, sie mindestens locker anzuspielen. Sie überrascht gerne mit leichtfüßigen Exkursionen in christliche Jenseitswelten. Sie liebt es, die ernstesten Dinge in einem hintersinnigen und anspielungsreichen Parlando heiter zu umkreisen, in einem unvergleichlichen Mix aus ironisch verkappter Glaubensfreude, verschmitzter Heilsgewißheit und vertrackter Lust an philosophischer Grübelei.

Erzählerische Rösselsprünge

In jedem ihrer bisher sechs Romane überraschte Lewitscharoff mit einem neuen Tonfall und einer Beimischung ungewohnter und unvorhersehbarer Referenz­systeme. Sie speist ihre Romanwelten gerne mit einer Kombination aus pop-kulturellen und anspruchsvollen geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen, mischt etwa Pop-Musik, Filmwelt oder Underground-Kunstszene mit Themen wie Trauer- und Erinnerungsarbeit für die Toten. Sie versteht es, desaströse Familiengeschichten aus der adretten bösen Schwabenwelt mit einem feinen Netz biblischer Motive und mythologischer Anspielungen zu überziehen. Sie fischt im Drüben, spinnt Jenseitswelten aus und holt sie ins Erzählbare herüber, und sei's im unterhaltsamen Vehikel einer Road Novel wie "Apostoloff", sei's in Form einer betrunkenen Stuttgarter Kaffeehaus-Phantasie wie "Consummatus" oder eines philosophischen Capriccio wie "Blumenberg". Die gegensätzlichsten Erzählwelten gehen in ihren Büchern die verrücktesten und vergnüglichsten Verbindungen ein.

Lewitscharoffs erzählerische Rösselsprünge erheitern und verblüffen ob ihrer Quecksilbrigkeit und Eleganz. Im Roman "Montgomery" erkor sie einen Wahl-Römer, einen deutsch-italienischen Filmproduzenten namens Montgomery Cassini-Stahl, als ihren Protagonisten und verwickelte ihn zugleich in mörderischen Familien-Hader, in eine große Liebesgeschichte und in ein Filmprojekt über Jud Süß Oppenheimer als Gegenentwurf zu dem notorischen Nazi-Hetzfilm. Als Schauplatz wählte sie die römische Filmstadt Cinecittà mit allen Fellini-Assoziationen, die dieses Ambiente mit sich bringt, und mixte solcherart Kino-Glamour und Filmträume mit Zeitgeschichte und scharfzüngiger Kritik am schwäbischen Wirtschaftswunder.

Als nicht minder originell erwies sich die Mischung der Tonfälle und Erzählwelten im Roman "Consummatus". Darin bekommen wir es mit einer Wanderer-Phantasie aus dem Totenreich zu tun, mit einer Paraphrase über den Orpheus-Mythos, doch versetzt mit Pop-Musik und bevölkert mit deren Ikonen. Da treiben Andy Warhol und die todessüchtigen Stars seiner Factory, Jim Morrison und Edie Sedgwick, ihr Unwesen, und in der Heldin Joey, einer deutsch-amerikanischen Musikerin, ist als Modell die Sängerin Nico (Christa Päffgen) von "Velvet Underground" deutlich zu erkennen. Doch darunter liegt, quasi als Cantus firmus, das Lachen Jesu, das aus dem Jenseits herüberschallt, vielleicht aber nur für den Romanhelden Ralph im Zustand fortschreitender Betrunkenheit vernehmbar ist.

Zwischen den Sphären: "Consummatus"

"Consummatus" spielt in zwei Sphären: in einem Stuttgarter Kaffeehaus und in der Jenseitswelt. Die beiden Sphären wirbeln unentwegt durcheinander, vermischen und durchdringen sich, die Stimmen von hier und von drüben fallen einander ins Wort, sind aber jederzeit an der unterschiedlichen Druckerschwärze erkennbar: Die Gespenster-Passagen der Jenseitswelt sind in zartem Grau gedruckt und kreiseln wie helles Schneegestöber durch den Satzspiegel, deutlich abgesetzt gegen den sattschwarzen Druck der Stimme des Ich-Erzählers Ralph. Wenn sich im spätwinterlichen Flockenwirbel die Totengespenster nähern, dann sind auch die Buchseiten plötzlich voller Schneeflocken.

Der Lehrer Ralph, der im Café Rösler sitzt und in einem großen inneren Monolog bei zahlreichen Wodkas sein verunglücktes Leben inspiziert und auswertet, erweist sich als moderner Orpheus: Er trauert um seine Eltern, die bei einem Flugzeugabsturz in Afrika ums Leben kamen; vor allem aber trauert er um seine Geliebte Joey, deren Tod er ungewollt verursacht hat - er hat sie im Rückwärtsgang im toten Winkel mit dem Auto überfahren. Das ungleiche Paar, der brave schwäbische Beamte und die drogensüchtige, selbstzerstörerische Pop-Ikone, hatte eine stürmische Liebesaffäre durchlebt, "glorreiche Tage, fies und wild und selig". Diese Liebe war Ralphs einzige kurze Auszeit aus der Bürgerlichkeit, ein Schritt beiseite aus der biederen Lehrer-Existenz, ein Schritt ins Brenzlige und Ungebändigte, ins vollgekiffte und zugedröhnte Chaos der Gefühle, ein Schritt auch ins Totenreich.

Ralph konnte in Joey, der Untergeherin, diesen Zug zum Tod spüren - als Bedrohung und als Verlockung. Er hat versucht, seine Joey, eine andere Eurydike, "aus dem Totenreich herauszutrauern", doch das ist ihm nicht gelungen. Er konnte sie nicht festhalten, hat sie im entscheidenden Augenblick losgelassen. Als ein Gezeichneter ist er aus der Jenseitswelt zurückgekehrt. Seither lassen ihn die Toten nicht mehr ruhen. Er ist der Mann, der seine Toten immer um sich hat. Sie begleiten ihn auf allen seinen Wegen, umschwirren ihn auf der Straße wie Flockengestöber, als trudelnde Schnee-Schemen, wirbeln aber auch fürwitzig durchs Kaffeehaus, rumoren um ihn herum, machen sich zwitschernd unter den kaffeetrinkenden Stuttgarter Damen breit und schwatzen auf ihn ein, während er trinkt und grübelt, über Gott und die Welt nachdenkt und müßig über allerlei metaphysische Fragen meditiert.

Die Zurufe aus der Jenseitswelt klingen meist biblisch und nach Luther-Deutsch, oft auch bloß dreist oder ironisch. Gerne geben sie sich waghalsig und ungeniert zitathaft: "Glaube ist eine verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade. Solche Zuversicht macht fröhlich, trotzig und lüstig gegen Gott und alle Creaturn." Ralph hat sich an die Präsenz seiner Toten gewöhnt, am leichtesten erträgt er ihre Gesellschaft im Freien:

"Das Totengelichter, sonst so gierig, alles mitzuerleben, in unpassenden Momenten mitzugrinsen, Worte in meine Worte zu werfen, hier begegnet es mir heiter. Im Gestöber ist für Leichtigkeit und lockere Distanznahme gesorgt."

Ein Paradoxon macht Ralph vor allem zu schaffen: Gottes umfassende Wirksamkeit und zugleich verstörende Unwirksamkeit. Über die Gottsucherei seiner Pubertätsjahre, als er sich "über Gotteserweisen und Gottesproblemen die Stirnhöhlen eitrig grübelte", wähnt er sich zwar längst hinaus; doch immer wieder, zwanghaft, sucht ihn ein Bild heim - das Bild von einer Schleuse, die die Toten ansaugt und hinter der man Jesus lachen hört:

"Schwarz war's und schluckte alles Licht, das Loch, vor dem ich zurückzuckte. Aus der Entfernung wirkte es winzig, stand man davor, wurde es einem groß und größer. Und in der Mitte, ganz gegen die Erwartung, in der es nur ein Hinab gab und sonst nichts, saß eine Schraube. Die Toten benahmen sich nicht weniger ängstlich als ich, wenn sie sich dem Rand des Loches näherten und sachte, sachte wieder umkehrten. Es roch nach Lorbeeröl und Kampfer, aber nur schwach. Das Loch funktionierte nach Art einer Schleuse, in der die tote Materie gelängt und gewandelt wurde. Anziehend wirkte es nicht allein wegen seiner feierlichen Schwärze, die einen leichten Taumel erzeugte, je länger man hineinsah und nichts sah, sondern mehr durch das Gelächter, das aus ihm kam. Leises, leises Lachen, so heiter und verführerisch, bei näherem Hören trocken. Jesus, es ist Jesus, der da drüben lacht und lockt."

"Apostoloff" - ein Vaterhaß-Buch

Womöglich noch halsbrecherischer und abgefeimter ist der Sphären-Mix, den Lewitscharoff in ihrem Roman "Apostoloff" anrührt. Sie verschränkt darin mindestens dreierlei Romane miteinander: eine makabre Bestattungsgroteske, eine komisch verkorkste Familiengeschichte und einen satirischen Reisebericht. Ihre Ich-Erzählerin ist, wie die Autorin selbst, eine Deutsch-Bulgarin aus Stuttgart- Degerloch, deren Gedanken um die zwei Haupt-Ärgernisse ihres Lebens kreisen: den bulgarischen Vater und das bulgarische Vaterland.

Dieser Vater, Kristo, ein Bulgarien-Flüchtling und einst Frauenarzt und Frauenschwarm in Stuttgart, hat sich mit 43 Jahren erhängt, was ihm die Tochter nicht verzeihen kann. Jetzt reist sie gemeinsam mit ihrer Schwester nach Bulgarien, in ebenso makabrer wie luxuriöser Mission: Die beiden begleiten die Urne ihres Vaters, die gemeinsam mit den Urnen von 18 weiteren verstorbenen Exil-Bulgaren von Stuttgart nach Sofia überführt und in der alten Heimat prunkvoll zur ewigen Ruhe gebettet werden soll. Die Kosten für diesen aufwendigen Trauerkondukt trägt ein reicher Exil-Bulgare, der sich damit einen Herzenswunsch erfüllt. Danach machen die beiden Schwestern, chauffiert von einem bulgarischen Verwandten namens Apostoloff, noch eine Spritztour zu den sogenannten Sehenswürdigkeiten der Schwarzmeerküste.

All das erbost die Ich-Erzählerin ganz ungemein. Ihre Laune ist biestig. Finster hockt sie auf der Rückbank des klapprigen Daihatsu und läßt eine große Familienverdammungssuada vom Stapel, immer wieder interpunktiert von sarkastischen Schimpftiraden, in denen mit allem abgerechnet wird: mit den stalinistischen Scheußlichkeiten, die ihr entlang der verschandelten Küste unentwegt ins Auge springen, überhaupt mit dem ganzen, inbrünstig verabscheuten Bulgarien, mit den Absurditäten dieses Pompfüneberer-Konvois, und vor allem mit dem vermaledeiten treulosen Kristo, "diesem Aas von einem Vater". "Apostoloff" erweist sich als eine Road Novel, als ein Vaterhaß-Buch (in dem sich naturgemäß ein Buch der enttäuschten Vaterliebe verbirgt) und als ein Selbsterkundungs-, Selbstverspottungs- und Selbstverurteilungswerk der Ich-Erzählerin.

Durch diese singuläre Erzählstimme werden alle narrativen Stränge zusammengehalten. Die Schwester auf dem Rücksitz ist ein fideles Schandmaul: Sie spottet, lästert, höhnt und schmäht, verurteilt, verdammt und verunglimpft - und all dies immer schlagfertig und mit hochkomischer, kunstvoll scheelsüchtiger Verdrossenheit. Das sind Bosheitsarien, die sich durchaus mit Thomas Bernhard messen können. Nichts ist vor ihrer scharfen Zunge sicher: Sibylle Lewitscharoffs Stellvertreter-Stimme schont nichts und niemanden, am allerwenigsten sich selbst.

Um so überraschender wirkt es, wenn in diese eher diesseitig gestimmte Mißgelauntheit der Erzählerin plötzlich helle Jenseits-Gedanken hereinfunkeln, etwa wenn das Lästermaul plötzlich "einen Glücksschub, eine Lüpfung" erfährt und sich zu Spekulationen über die hierarchischen Engel-Geschwader im bulgarischen Himmelsraum aufgelegt findet:

"Denkt euch hoch hinauf, sehr hoch, genügend weit weg vom Elend des Landes, wo Bulgarien nicht mehr nach Bulgarien riecht - hoch oben in reiner Luft, da knackt's und knirscht's, hört ihr? - immerzu - Knacken und Knirschen, weil die Engel mit ihren großen Flügeln eng nebeneinanderstehen - der ganze Himmel stopfvoll mit Engeln, wovon sich Chöre erheben, Chöre sich setzen, Chöre entkräftet nach unten zu liegen kommen, und unaufhörlich geraten ihre großen Flügel durcheinander, verfitzen sich ineinander, der ganze bulgarische Himmel ist voller goldflammender Flügel, die knacken und knirschen, man hört das Geräusch sogar durch den Lobgesang hindurch, der natürlich ebenso unaufhörlich ertönt, da immer einige Chöre am Singen sind. Iss bitte deinen Engelsalat und sei eine Weile still, sagt meine Schwester."

Gut versteckt an anderer Stelle findet sich in "Apostoloff" die aufschlußreiche Bemerkung:

"Warum ist Hans Blumenberg so ein aufregender Philosoph? Er war Löwenphilosoph. Nachts hatte er einen versöhnlichen Löwen neben seinem Schreibtisch liegen, der's aber doch auf die eine oder andere Kraftprobe ankommen ließ. Blumenberg ist an seinem Löwen gewachsen."

"Blumenberg": Hommage und Heiligenlegende

Und schon haben wir den Nukleus für Lewitscharoffs jüngsten, ihren sechsten Ro­man vor uns: "Blumenberg". Ihre große Kunst, das Schwierige leicht und unterhaltsam zu machen, ohne es zu verflachen, zeigt sich nirgends unwiderstehlicher, virtuoser und quecksilbriger als hier. Wie könnte man dieses Buch etikettieren? Es ist ganz sicher kein biographischer Roman über den Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996), auch wenn er sich an dessen Lebensdaten orientiert. Realistisches Erzählen hat Lewitscharoff immer schon als schnöde und vulgär verabscheut. Die biographischen Details und die persönlichen Schrullen stimmen allerdings, man kann den realen Blumenberg im Roman erkennen - den dritten charismatischen Philosophen seiner Zeit, neben und in Konkurrenz zu Jürgen Habermas in Frankfurt am Main und Jacob Taubes in Berlin; den Nachtarbeiter und Stubenhocker mit seinen 36 000 Karteikarten in seinem Studierzimmer in Altenberge; den brillanten Redner, dessen wöchentliche Vorlesungen in Münster intellektuelle Ereignisse waren, rhetorische Glanzauftritte, gestürmt vom studentischen wie auch vom städtischen Publikum.

Auch mit den Grundbegriffen und Grundmotiven von Blumenbergs Denken treibt die Autorin ihr anmutiges Spiel. Man kennt den Philosophen als modernen Agnostiker und Skeptiker, der gleichwohl theologisch hoch gebildet und von der Kirchengeschichte fasziniert war. Er liebte es, in seinen Schriften den ganzen Fundus der Geistes- und Kulturgeschichte heranzuziehen, und gerne benutzte er als Ausgangspunkt seiner Reflexionen die Bibel, die Malerei oder die Musik. Blumenberg schrieb anschaulich und redete gern in Bildern (was ihn in den Augen der philosophischen Zunft verdächtig machte und zum Feuilletonisten stempelte). Die heiklen Übergänge von Begriffen in Metaphern waren seine Spezialität, den Absolutismus der Wirklichkeit wollte er nicht gelten lassen, und die Letzten Dinge waren sein Revier: Tod und Sterblichkeit, Unglück und Providenz, die Trostbedürftigkeit und Trostunfähigkeit des Menschen. Seine metaphysische Lehre zersplitterte er in ein Kaleidoskop von funkelnden Erleuchtungsmomenten und gleißenden Gedankenbildern. Verständlich, daß Blumenberg für Lewitscharoff einen höchst attraktiven Romanhelden darstellt. Zudem kann sie an ihm abermals erproben, was sie schon in den Romanen vorher am liebsten tat: mit den Toten sprechen. Und überdies ergibt sich im Finale wiederum ein ganz eigentümlicher Ausblick in eine Jenseitswelt.

Als eine Art Hommage an den Philosophen wird man den Roman sicher lesen dürfen. Doch indem die Autorin ihrem Helden einen extravaganten zweiten Protagonisten beigibt, verwandelt sie "Blumenberg" in etwas ganz Eigenartiges, ganz und gar Unmodisches - in eine moderne Heiligenlegende. Sie legt dem Philosophen in einer Mainacht des Jahres 1982 einen leibhaftigen Löwen auf den Teppich seiner Studierklause. Da liegt er nun, der Löwe, "habhaft, fellhaft, gelb", später auch im Hörsaal und auf der Rückbank von Blumenbergs Auto, für keinen sichtbar außer für ihn selbst (und für eine fromme alte Nonne). Und das, obwohl Blumenberg zwar ein gelehrter Einsiedler, aber doch beileibe kein Kirchenvater ist, der wie Hieronymus im Gehäus einen wilden Löwen zähmen und deshalb als sein Wappentier beanspruchen könnte, wie wir das aus den Bildern von Albrecht Dürer oder Antonello da Messina kennen. Blumenberg selbst hat dafür eine naheliegende Erklärung: "Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht."

Was aber hat der Löwe zu bedeuten? Da es sich weder um einen Studenten-Ulk noch um Wahrnehmungsstörungen des Professors handelt, ist der Löwe keine Halluzination, kein Phantom, keine Chimäre. Er ist auch keine Allegorie, keine Metapher und kein Fabellöwe. Er ist eine poetische Fiktion - ein Zeichen, ein Wunder, eine Epiphanie. Und es spricht für Lewitscharoffs brillante Erzählkraft, daß der Löwe vollkommen glaubhaft ist und als poetische Fiktion von der ersten Sekunde an überzeugt - als Einbruch der Anderswelt, des Absoluten, als "eine Traumgeburt von unbedingter Präsenz", wie sie schreibt, mit leichter Verbeugung in Richtung George Steiners Essay "Von realer Gegenwart". Sie nennt den Löwen auch einen "Zuversichtsgenerator", einen Tröster und mächtigen Beschützer. Oder, mit Augustinus gesprochen, eine "göttliche Erleuchtung des Seinsgrundes". Sie macht Blumenberg zu ihrem Schutzpatron gegen den Absolutismus der Wirklichkeit in der Kunst. Und sie nimmt sich damit die poetische Freiheit, über die reale Welt hinaus zu erzählen, in eine Jenseitswelt hinein, in die der Roman am Schluß dann ernstlich einbiegt, mit Anspielungen von Platon bis Samuel Beckett, aber auch mit ein paar anmutigen christlichen Verweisen und mit hübscher Reverenz vor Blumenbergs Werk "Höhlenausgänge".

Daß sie auch die realistischen Erzählweisen beherrscht, zeigt Lewitscharoff quasi mit der linken Hand. Sie läßt in einer Nebenhandlung vier Studenten und Bewunderer Blumenbergs jäh und jung und grausig sterben. So kann sie diverse Erzähl-Modi ironisch durchprobieren, die sie sonst verschmäht - die Tatort-Prosa, das Melodram, den Exotik-Thriller. Und wir lernen: Koryphäen sind eben gefährlich.

Was tut ein Roman, was eine Erzählung?

"Was tut ein Roman, was in kürzerer Form die Erzählung?", fragte Sibylle Lewitscharoff im Vorjahr im Zuge ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen: "Mit einem Haifischbiß reißen sie ein Stück aus der Zeit, schnappen sich ein Stück der Schöpfung und bearbeiten es nach Gutdünken." Daran freilich, daß es Gottes Schöpfung ist, mit der sie in ihren Romanen nach Gut- und Kunstdünken verfährt, gibt es bei Sibylle Lewitscharoff keinen Zweifel.

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