Priester auf Distanz?

Mit einem internationalen Priestertreffen in Rom vom 9. bis 11. Juni 2010 endet das im Juni 2009 begonnene "Jahr des Priesters". Papst Benedikt XVI. wollte damit zu einer Erneuerung des unersetzlichen priesterlichen Dienstes beitragen. In Katechesen und bei vielen anderen Gelegenheiten hat er immer wieder auf das "Mysterium des Priestertums" hingewiesen. So sehr es dafür gültige Vorbilder braucht: Ob die Hervorhebung des heiligen Pfarrers von Ars, Johannes Maria Vianney († 1859), dabei wirklich hilfreich ist, sei dahingestellt. Der langjährige Novizenmeister der deutschen Jesuiten und designierte Provinzial Stefan Kiechle SJ hat vergangenes Jahr dazu in einem Artikel ("Priesterliches Leben in winterlicher Zeit") bemerkt: "Zu Recht ist dieser als Seelsorger und Zeuge ein Vorbild priesterlichen Dienstes, aber es wäre naiv, einfachhin die Situation seiner 230-Seelen-Pfarrei auf heutige Großgemeinden zu übertragen."

Zu Ende geht das Priesterjahr mit einer Skandalwelle, die zu einer der schwersten Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrisen der katholischen Kirche seit Kriegsende geführt hat. Seitdem der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes SJ, Ende Januar an die Öffentlichkeit trat, schien sich geradezu ein Dominoeffekt einzustellen: da eine Schule, dort ein Internat, hier ein Kloster, dort ein Kolleg, da ein Chor, dort ein Erziehungsheim ... Sexueller Mißbrauch an Minderjährigen und Schutzbefohlenen ist nicht länger ein transatlantisches Thema, weit weg in den USA oder in Irland. Diese dunkle, häßliche Seite priesterlicher Lebensführung ist nun auch in deutschen Wohnzimmern angekommen - in einem Ausmaß mit ungeahnten Dimensionen, die zunächst einmal Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit, Scham und Wut, aber auch Spott und Häme auslösten.

Daß sich über 90 Prozent der Mißbrauchsfälle im familiären Bereich, in Schulen und Sportvereinen abspielen, daß also neben Priestern und Ordensleuten auch Väter, Onkel, Lehrer, Erzieher, Ärzte, Therapeuten und Trainer betroffen sind, kann kein Trost sein. Sexueller Mißbrauch und sexualisierte Gewalt durch Priester wiegen doppelt schwer. Macht und Vertrauen wurden verraten und ausgenutzt, teilweise offenbar mit perfider Systematik: "Da ist die Fallhöhe", so Mertes, "höher als bei Mißbrauch durch einen Sportlehrer, denn der Priester handelt nach katholischem Verständnis in persona Christi. Und damit ist natürlich das Verhältnis zu Christus berührt." Experten sprechen nicht umsonst von "Seelenmord" oder "Gottesvergiftung". Die Hypothek lebenslänglicher Traumatisierungen lastet schwer auf der Kirche und ihren Priestern.

Schockiert hat nicht nur, was war. Schockiert hat auch, wie mit den Mißbrauchsfällen von kirchlichen Autoritäten umgegangen, wie bagatellisiert, relativiert und vertuscht wurde: "Kartelle des Schweigens". Offenkundig wurde damit auch ein Führungsproblem der Bischöfe und Ordensoberen. Nachdem bisher der "Anschein der Makellosigkeit" und "das Image" der Kirche wichtiger waren als alles andere, wie einzelne Bischöfe eingestanden, gilt deren Sorge nun endlich nicht in erster Linie den Tätern, sondern den Opfern und dem Bemühen um Prävention. Das ist ein Fortschritt - und ein andauernder Lernprozeß. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wurde von der Deutschen Bischofskonferenz zum Beauftragten für Fälle sexuellen Mißbrauchs ernannt. Er baut ein Büro in Bonn auf, eine Informations- und Beratungs-Hotline wurden eingerichtet, Ombudsleute wurden bestellt. Am Runden Tisch nimmt auch die Kirche Platz, neben Vertretern anderer Organisationen, denn es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem.

"Kirchlich gesehen", so Mertes in einem Interview, "fehlt noch eine geistliche und theologische Reflexion dessen, was geschehen ist." Die Kirche tut deswegen gut daran, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, die ebenfalls schuldig geworden sind. Angefragt werden können und müssen "überhöhte", ideologisierte Priesterbilder, die aus dem Geweihten einen heiligen, makellosen, sündenfreien, über alles erhabenen "Mann Gottes" machen wollen - eine Art von hybrider Immunität. Karl Rahner SJ hat das in der Priesterweihe verliehene unauslöschliche Zeichen ("character indelebilis") nicht als seinshaft (ontologisch), sondern funktional als "bleibende Inanspruchnahme eines Menschen für einen bestimmten Dienst" an Gottes Wort und Sakrament interpretiert. Das ist keine theologische Spitzfindigkeit. Priesterliche Existenz wird damit in Kategorien von Wahrhaftigkeit und Integrität statt in moralischer Überhöhung gesehen.

Die momentane Tragik besteht darin, daß medial fast nicht mehr vermittelbar ist: Die überwältigende Mehrheit von Priestern - in Deutschland etwa 15000 - übt ihren Dienst treu, verläßlich und eindeutig aus. Der Kompetenzverlust im Bereich Erziehung und Moral ist enorm. Er droht sich auszuweiten auf den Glauben insgesamt. Manche fordern ein "Bußschweigen" der Kirche in Sachen Moral - zumal sich Gläubige in Fragen der Sexualität nicht länger bevormunden lassen wollen.

Seelsorge hat - wie Pädagogik - mit Nähe und Distanz zu tun, mit dem richtigen Maß an Empathie. Distanz ist aber etwas anderes als Distanziertheit. Bischof Ackermann hat vor einer "sterilen Seelsorge" gewarnt. Es drohe jetzt ein Klima des totalen Verdachts, in dem jeder Körperkontakt und jede Begleitung von Minderjährigen durch Priester mit Argwohn gesehen werde. Schon heute seien gemeinsame sportliche Aktivitäten, die früher selbstverständlich zur Jugendpastoral gehörten, kaum noch möglich. Die "generelle Mißtrauensoptik" führe nicht zu dem vielfach geforderten entkrampftem Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, sondern zu neuen Verkrampfungen. Seelsorge kann aber nicht "mit 30 Zentimeter Abstand" betrieben werden. Das wäre verhängnisvoll. Verloren gegangen ist eine Unbefangenheit, die es für eine Seelsorge mit menschlicher Nähe braucht. Sie wiederzugewinnen, wird nicht leicht sein.

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