Die Wochensprüche im August 2021

1. August 2021

9. Sonntag nach Trinitatis

Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern. Lukas 12,48

„Das Evangelium ist nichts für Feiglinge!“ So könnte man die Botschaft der Texte an diesem 9. Sonntag nach Trinitatis zusammenfassen. Und anders herum: In der Nachfolge leben – und nicht nur darüber reden/predigen – erfordert sehr viel Mut. Vertraute Sicherheiten und Routinen, die mir gedient haben, mit denen ich versuchte, die Welt zu verstehen, die mein Denken und das darauffolgende Handeln stabilisierten – sie werden von diesem merkwürdigen Prediger der Liebe radikal, von der Wurzel her, in Frage gestellt. Neues wird erst erlebbar, indem den Gefühlen der Katastrophe, des Zusammenbruches Einlass in unsere Seele gewährt wird. „No risk – no fun!“
Und woran ist Neues mit Sicherheit zu erkennen? An Gefühlen von Angst, die bis hin zu Panik reichen können. Die große Frage ist: Wie damit umgehen? Standhalten – oder ausweichen? Vor dieser Frage stand Paulus in Damaskus, vor dieser Frage stand der blutjunge Jeremia, vor dieser Frage stand Jesus im Garten Gethsemane, vor dieser Frage stand Dietrich Bonhoeffer – vor dieser existenziellen Frage steht jeder Mensch. Und die Antwort ist nicht nur in Worten zu finden – die entscheidende, gültige Antwort gibt das Leben selbst. Es ist die ganzheitliche Glaubwürdigkeit der Gedanken und Taten eines Menschen, die vor Gott zählt. Gott trägt mich nicht durchs Leben – aber er stellt meine Füße auf weiten Raum (Ps 31,9). Es ist der Raum seiner großzügig-barmherzigen Liebe. Sie ist jedem Lebewesen geschenkt.

8. August 2021

10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag)

Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist. Dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.
Psalm 33,12

Es sind keine schönen Erinnerungen, die sich um diesen Israelsonntag ranken. Er steht zeitlich in Zusammenhang mit dem jüdischen Festjahr, und zwar dem 9. Aw. Hier erinnert sich die jüdische Gemeinde traditionell der Zerstörung des „ersten Tempels“ von Jerusalem 586 v. Chr., der Zerstörung des „zweiten Tempels“ 70 n. Chr., der blutigen Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 135 n. Chr. und der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Erst der Holocaust hat in unseren Tagen einen eigenen Gedenktag erfordert. Es geht also um viel Leid, das unseren Glaubensgeschwistern angetan worden ist. Hinzu kommen eigene Erinnerungen an Leid, das wir anderen zugefügt haben, und an Leid, das wir selbst zu ertragen hatten. Und das alles gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch und besonders für die Gegenwart: Es gibt keine Gegenwart ohne Leid in dieser Welt. Ohne Leid, das wir zufügen – sei es anderen, sei es uns selbst; und ohne Leid, das wir zu ertragen haben, das uns zugefügt wird.
Und wie geht die jüdische Gemeinde mit solch leidvollen Erinnerungen um? Nun … – sie erzählen einander Geschichten. Verbunden mit der Idee, dass von Geschichten etwas Heilsames ausgehen kann. Vorausgesetzt, wir lassen uns mit Herz und Seele auf sie ein. Ansonsten entsteht „Erbaulichkeit“: Wellness ohne Tiefgang.
Von daher schlage ich vor, als Vorbereitung auf diesen Sonntag folgende Geschichte zu meditieren. Sie wird im jüdischen Gottesdienst gerne am 9. Aw erzählt, Martin Buber hat sie in seinen „Chassidischen Erzählungen“ gesammelt:
Am Tag der Zerstörung
„Man fragte Rabbi Pinchas: ‚Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?’
‚Das Korn’, sprach er, ‚das in die Erde gesät ist, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprieße. Die Kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit eingeht. Gestalt ausziehen, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts. In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses. Das ist die Macht der Erlösung. Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst. Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren.‘“

15. August 2021

11. Sonntag nach Trinitatis

Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.
1. Petrus 5,5,b

„Die Demut wirkt wie die Biene, die im Stock den Honig bereitet. Ohne sie geht alles verloren“, schreibt Teresa von Avila zu Beginn ihres zeitlos gültigen Buchs „Die innere Burg“. Und sie verbindet die Demut mit Selbsterkenntnis: Letztere sei durch nichts ersetzbar, „so hoch die Seele auch stehen mag“. Selbsterkenntnis aber geschieht durch die Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und aus ihnen zu lernen. Wie die Bienen hinausfliegen, um den Nektar zu sammeln, so solle es die Seele mit der Selbsterkenntnis halten. „Glaubt es mir und fliegt zuweilen aus, um die Größe und Majestät Gottes zu betrachten. Da wird die Seele ihre Niedrigkeit eher entdecken, als in sich selber.“ (Diogenes Taschenbuch 1979; S. 30: alle Zitate) Demut ist also für Teresa ein Geschehen „dazwischen“. Sie lässt sich nicht „machen“. Die Annahme, Demut über Gebet, Meditation oder Psychotherapie herstellen zu können, ist selbst hochmütig. Staunen, sich wundern, sich anmuten lassen von dem, was gerade ist – und immer wieder akzeptieren, es so nicht selbst gemacht zu haben – in dieser Haltung entsteht und geschieht Demut. Von daher ist es logisch, dass Gott den Hochmütigen „widersteht“. Der Hochmütige braucht keinen Gott, weil er „alles selbst kann“. Umso größer ist seine Verzweiflung, wenn die Wirklichkeit ihm seine Ohnmacht vor Augen führt. In der ersten Ausgabe der „Zeit“ im neuen Jahr lautet ein Leitartikel: „Die Stärke der Demut“. Das ist die Kraft, sich und anderen die eigenen Zweifel und Schwächen einzugestehen. Nicht Gott sein zu müssen – welch eine befreiende Erkenntnis, gerade auch für Menschen in leitenden Positionen.

22. August 2021

12. Sonntag nach Trinitatis

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Jesaja 42,3a

Es gibt Menschen, denen sieht man ihr Geknickt-Sein an: der Kopf leicht zu Boden geneigt, die Schultern hochgezogen. „Wie ein geprügelter Hund“ sehen sie aus. Ihre Augen sind matt. Es fehlt das Leuchtende. Wo eine Flamme brennen, ein Licht leuchten sollte, erinnert ein mattes Glimmen an Feuer und Licht. Es ist leicht, solchen Menschen die Kategorie „Depression“ überzustülpen. Verstanden ist damit noch wenig. Hört man solchen Menschen einfühlsam zu, so wird deutlich, dass in ihrer Leib-Seele etwas geronnen, im schlimmeren Fall etwas zerbrochen ist. Oft erzählen diese Menschen von quälenden Wiederholungsträumen, dass sie an einer Aufgabe scheitern. Sei es, eine Prüfung zu bestehen, sei es, einen Berg zu besteigen, sei es, ein Gewässer zu überqueren. Oft werden sie in Träumen verfolgt, meist von einem Unbekannten. Oder aber sie sind selbst Verfolger: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (Apostelgeschichte 9,4b) Die große Frage ist: Wie geht es jetzt weiter? Saul hat die Kraft, sich von diesen Worten in der Tiefe berühren zu lassen. Er hält sein Erblinden aus. Und wird allmählich in einen Paulus transformiert: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2,20a) Es ist die Kraft, die seinem Hass auf Jesus Einhalt zu gebieten vermochte. Nicht Gott löscht unser Lebenslicht aus, nicht Gott zerbricht unser Rückgrat: Es ist unser ungehemmter Hass, der dies tut. Und es ist unsere (menschliche) Lebensaufgabe, diesem Hass Einhalt zu gebieten, damit unsere Fähigkeit für Liebe zunehme und wachse.

29. August 2021

13. Sonntag nach Trinitatis

Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25,40b

Am Nachbartisch in einem Café unterhalten sich zwei Frauen: „Ich bin froh, wenn sie endlich stirbt. Jeden zweiten Tag muss ich ihr diese Spritze geben – und als Dank dafür fährt sie ihre Krallen aus und versucht mich zu kratzen!“
Und sie bekommt zur Antwort: „Deine Katze ist dein Meister! Gerade so, wie du mit ihr umgehst, gerade so gehst du mit dir selbst um.“
„Das verstehe ich nicht! Wenn die blöde Katze wenigstens so etwas wie Dankbarkeit zeigen würde!“
„Tja – da bist du ganz alleine auf dich gestellt. Bist du bereit, dich um sie zu kümmern. Einfach so. Ohne etwas dafür zu bekommen. Weil du so leben willst.“ Schweigen. Schließlich wechselt die Besitzerin der offenbar unheilbar kranken Katze das Thema.
Ich denke, jeder zu sich selbst ehrliche Mensch kennt die Unlust, sich dem Schwachen, Ungenügenden, Mühsamen zuzuwenden. Alte ins Altenheim, Kranke ins Krankenhaus, Obdachlose ins Obdachlosenasyl, Tiere ins Tierheim. Sicher: Es gibt die Helferinnen, die Pfleger, die Mitarbeiterinnen in Auffangstationen von Tieren, die Ärzte und Therapeutinnen. Sie haben ihr Leben der Zuwendung zu schwachen, hilfsbedürftigen Lebewesen verschrieben. Oft ist ihnen nicht bewusst, wie sehr die schwachen Seiten der anderen auch mit ihren eigenen schwachen Seiten zu tun haben. Und wie sehr sie sich unbewusst wünschen, dass sie auch einmal so betreut würden, wie sie es selbst tun. Oft hatten sie schon als Kinder den Auftrag, sich um ihre schwachen, hilfsbedürftigen Eltern zu kümmern. Und bekamen dafür mehr oder weniger Anerkennung. Am schwierigsten aber ist es, „einfach so“ für den anderen, den mir je und je Anvertrauten da zu sein. Ohne Hoffnung, ohne Wunsch, ohne Erwartung. Nicht einmal auf Dank. Das ist „Geben pur“. Einfach so. Dieses uneigennützige Geben ist nur in und aus Liebe möglich. Dieses Geben ist nur möglich, wenn Christus, der die Liebe ist, in mir lebt. Und zwar ebenfalls ohne Hoffnung und Erwartung auf einen „Lohn“ – weder im Diesseits noch im Jenseits!

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