Joseph von Eichendorff „Die blaue Blume“ – Drei Bilder der Sehnsucht

Praktischer Hinweis: In dieser Predigt kann mit unterschiedlichen Sprechenden gearbeitet werden. Da es eine Predigt im Stil der „moves and structures“ ist, können die einzelnen moves auch durch kurze Musik voneinander abgehoben werden. Ich empfehle, den Text des Gedichts der Gemeinde zugänglich zu machen.

Die blaue Blume
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.
Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au‘n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.
Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.
Joseph von Eichendorff
(1818)

Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.

Ihr Sohn Jaden ist acht und geht in die zweite Klasse. Sein Lieblingsfach ist Religion, sie kann das fast nicht glauben. Jaden ist ein Junge! Er liebt Fußball, Autos, Zocken auf der Nintendo-Switch. Und Reli ist sein Lieblingsfach?
Egal. Nach Reli hat er immer gute Laune. Vielleicht, weil man da Themen bespricht, die man sonst eben nicht so bespricht in der Schule. So weiche, andere Themen. Und wenn sie ehrlich ist, ist Jaden eigentlich ein weicher Junge, manchmal denkt sie: Das ist, weil er keinen Vater hat. Also. Natürlich hat er einen Vater. Aber den kennt er nicht und sie will auch, dass das so bleibt. Sie kamen nicht besonders gut klar. Und zahlen tut er auch nicht. Sie findet es krass, was aus Liebe werden kann.
Geliebt haben sie sich schon sehr. Aber jetzt ist es aus und seit sieben Jahren kein Kontakt. Besser so.
Aber Jaden fragt. Seit einigen Monaten fragt er immer wieder: „Wer ist eigentlich mein Papa? Wie heißt der? Wie sieht der aus?“ (Er sieht genau aus wie Jaden, übrigens!)
Gestern kam er mit dieser Geschichte nach Hause, eine Geschichte von Jesus. Da geht es um ein verlorenes Schaf, sie kennt die auch noch von früher. Und darum, dass Gott jedes verlorene Schaf so lange sucht, bis er es gefunden hat. Sie sollten dann ein Bild dazu malen. Jaden hat ein sehr süßes Schäfchen gemalt auf einer Wiese voller blauer Blumen. Hatʼs ihr gezeigt und dazu die Geschichte vom verlorenen Schaf erzählt, und sie schaut auf dieses Bild und sieht: Zwei Menschen. Ein kleiner und ein großer. Direkt neben dem Schaf. Auf der blauen Blumenwiese.
„Das sind ich und Papa“, sagt Jaden. Und ihr drückt es den Hals zu.
Er und Papa. Neben dem verlorenen Schaf. Auf der blauen Wiese.
Manchmal beten sie. Und dann sagt Jaden: „Lieber Gott, ich möchte meinen Papa kennen.“
Wieder Kloß im Hals.
Jaden und sein Papa auf der blauen Wiese.
Sie würde es niemals zugeben, aber irgendwie wünscht sie sich, dass es einen Weg für die beiden zueinander gibt. Nur: Sie kann den Weg nicht ebnen.
Jaden und sein Papa auf der blauen Wiese.
Wer weiß.
Vielleicht findet Gott die beiden.

Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au‘n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.
Ich heiße Martin Schuller nach Martin Luther.
Mein Vater wollte, dass ich Martin heiße, er war ein religiöser Mensch, aber ein Arsch. Als ich 16 war, ist er mit einer abgehauen, da wurde es schwierig zwischen uns. Er wollte immer, dass ich weiter komme im Leben als er. Aber jetzt so richtig ein Vorbild …? Eher nicht.
Ich sollte Abi machen, aber ich hab´s nicht geschafft. Ich hab als Raumpfleger und im Callcenter gearbeitet. Eigentlich ist Pilot mein Traumberuf. Aber ich hab schlechte Augen. Fliegen als Beruf, das wärʼs. Einmal weg von der Welt und raus. Das ist mein Kindheitstraum. Irgendwie aufsteigen in eine andere Sphäre. Das wünsche ich mir immer noch, fast jede Nacht, fast jeden Tag. Heute arbeite ich als Lagerist bei einem großen Versandunternehmen. Ich arbeite Schicht. Beziehungstechnisch sag ich mal: nicht so.
Ich hatte eine Freundin, wir haben uns auf „Lovoo“ kennengelernt. Zwei Jahre Beziehung, ich mochte die wirklich, dann wurde unser Sohn geboren und irgendwie sind wir dran zerbrochen. Ich hab schon versucht, die Beziehung zu retten, vielleicht warʼs zu viel, vielleicht zu wenig. Jetzt hab ich keinen Kontakt zu meinem Sohn, ich vermisse ihn sehr, ich weiß nicht, wie es ihm geht, ich habe ihn zuletzt als Baby gesehen.
Ich will raus aus Berlin. Ich will leben wie mein Großvater. Der hat das ideale Leben gehabt. Einen Garten und dann nur von dem gelebt, was der Garten hergab: Kartoffeln, Paprika, Zucchini, Gurken, Tomaten. Und dann so Blumen, die hab ich als Kind immer gepflückt, so blaue. Bei meiner Mutter hängt ein Bild mit genau diesen Blumen an der Wand. Ein Bild aus ihrer „Heimat“, wie sie immer sagt. Na ja. Die Blumen sind jedenfalls sehr schön. Martin Luther, nach dem ich ja benannt bin, hat mal gesagt, ich hab das auf einer Postkarte neben der Tür hängen:
„Das Leben ist kein Sein, sondern ein Werden. Es ist nicht das Ende, sondern der Weg.“
Daran halte ich mich. Wenn alles scheiße ist, dann halte ich mich daran fest, an diesem Satz: „Das Leben ist kein Sein, sondern ein Werden. Es ist nicht das Ende, sondern der Weg.“
Und was nicht ist, kann ja noch werden, oder?
Ich suche … einfach … weiter.
Manchmal ist das Suchen das Einzige, was mich am Leben hält.

Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.

An jedem anderen Ort ihrer Lebensgeschichte hat sie länger gelebt als an diesem. Aber die Sehnsucht geht nach dort. Geht nach rissiger Erde, nach schindelgedeckten, einstöckigen Stubenhäusern. Geht nach der Linde auf dem Platz in dem kleinen Dorf im Fagaras-Gebirge am Fuß der transsilvanischen Alpen, das sie ihre Heimat nennt. Und an Tagen wie heute, da bohrt sich die Sehnsucht nach der Heimat so tief in ihre Magengrube, so tief. Dann muss sie raus, einmal am Kohlekraftwerk vorbei und im Dampf der Kühltürme die Grenze finden und den Übergang an diesen Ort und in diese Zeit, in die ihre unnennbare Sehnsucht sie trägt.
Martin sagt: „Mutter, das ist nicht deine Heimat.“ Sagt er. „An jedem anderen Ort deiner Lebensgeschichte hast du länger gelebt als an diesem.“ Sagt er. Und dann zitiert er Luther und sagt, sie solle nicht so festhalten.
Aber Heimat ist mehr als die Dauer eines Aufenthalts. Heimat ist der Ort, wo alles, was du bist und kannst, verwurzelt ist, denkt sie. Martins Einwand, dass sie mehr kann als Bohnen ziehen und Obststriezel backen, hört sie gar nicht mehr. Sie denkt an das Bild mit den blauen Blumen auf dem Tisch in der Stube der Großeltern. Und die Großmutter am Tisch in der schlichten siebenbürgischen Tracht. Und hört sie sagen, während sie die Finger durch den Maisgries schiebt, in ihrer freundlichen weichen Manier: „Mariechen, was kliverst du?“ Und hört sie erzählen von der verlassenen Heimat, den Hochzeiten, den Vorbereitungen, Donnerstag Brot, Freitag Hanklich, weil absolut kein andres Konfekt auf Hochzeiten erlaubt war als dieses Geschmiersel aus Eiern und ausgelassener Butter. Sie sieht sie samstags die Stufen waschen und riecht und schmeckt ihre Sarmale, die sie besonders sorgfältig wickelt, wenn sonntags der Erhardonkel zu Besuch kommt. Nie mit leeren Händen aus Bukarest.

„Die Augen zum Himmel“, hat die Großmutter immer gesagt, wenn Mariechen beim Zöpfeflechten weinte. Das war ein bisschen hart. Aber sie macht es noch immer so, heute, wenn die Tränen aufsteigen. „Die Augen zum Himmel, das Herz zum Herrn.“ Sie kennt die Psalmen, die die Sehnsucht benennen, kennt sie alle: „Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Mein ganzer Mensch verlangt nach dir, aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist. So schaue ich aus nach dir in deinem Heiligtum, wollte gerne sehen deine Macht und Herrlichkeit. Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach. Denn du bist mein Helfer, und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich.“ (Ps 63,1–3.7.8)
Natürlich weiß sie, dass es die Heimat, nach der sie sich sehnt, nicht mehr gibt. Sie weiß, dass sie die blauen Blumen vom Tisch der Großmutter niemals finden wird. Aber die Suche danach, das Träumen und innere Schauen bleibt ihr Antrieb. Bleibt ihre Lebensfahrt. Bleibt ihr Gottgefühl, ihr Schmerz und ihre Sehnsucht. Bleibt ihr Glaube, dass da einer ist, der ihr irgendwann, wenn sie hinübergeht, richtig hinübergeht, nicht nur im Dampf der Kühltürme, sondern endlich sonder Grämen aus dieser Welt in Gottes, dass da einer ist, der ihr die Tür aufmacht. Und dass sie dann alle dort im Frieden beisammen sind.
Sie, Mariechen.
Die Großmutter mit dem weichen Zungenschlag.
Der Erhardonkel.
Ihr Ehemann, der einfach irgendwann gegangen ist.
Martin.
Und ihr Enkelchen, das sie gar nicht kennt.
Dass ihr also einer die Tür aufmacht. Hinein in eine Stube warmer, ewiger Fülle. Da wird kein Schmerz mehr sein. Kein Drücken in der Magengrube wird mehr sein. Kein „Augen zum Himmel!“ wird mehr sein. Nur grenzenloses Glück wird sich vor ihr öffnen wie ein blauer Blütenkelch. Grenzenloses Glück mit allen. Und Fülle von Angesicht zu Angesicht mit ihrem Herrn. Der da ist und der da war und der da sein wird in dieser Stube, mit den blauen Blumen auf dem Tisch.

Eingangsgebet:
Barmherziger Vater,
am Ende einer Woche suche ich dich in allem,
was in mir ist.
Und da ist so viel.
Da ist Dank für das Gute, das Gelungene und Schöne.
Hier Gott: Mein Dank.
Da ist Schmerz über das Fehlgegangene,
das Abgebrochene,
das Stückwerk meines Alltags.
Hier Gott: Mein Schmerz.
Da ist Sehnsucht, die die Lücke füllen soll,
diese Lücke, die immer da ist,
mal groß, mal winzig­ klein,
aber immer da.
Hier Gott: Meine Sehnsucht.
Da ist Liebe zu so vielen und vielem
und wie lebendig ich mich in dieser Liebe fühle,
sie pocht bis in die Schläfen.
Hier Gott: Meine Liebe.
Nimm mich an mit dem Vielen, das in mir ist,
trage es mit mir in eine neue Woche,
lass mich auch in den Tagen, die kommen,
unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht finden.
Durch Christus, unsern Herrn und Bruder.

Fürbitten-Bausteine:
Herr Jesus Christus,
du hältst Ausschau nach den Verlorenen,
du suchst die Verirrten.
So bitten wir dich heute für alle,
die sich ewig auf der Suche fühlen.
Die niemals ankommen,
die rast- und haltlos werden.
Geh ihnen nach.

Psalmvorschlag: Psalm 63,2–9
Evangelium: Matthäus 18,12–14
Liedvorschläge: 325,1.2.7 (Sollt ich meinem Gott nicht singen?)

Anhang zum Gesangbuch der
Evangelischen Landeskirche
in Baden: 116, 1–5
(Da wohnt ein Sehnen tief in uns)
  503,1.2.9 (Geh aus, mein Herz)
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