Interview mit Gerald Hüther"Durch Lieblosigkeit geht Lernfreude verloren"

Um ihre Lebenswelt neugierig und selbsttätig erkunden zu können, brauchen Kleinstkinder pädagogische Fachkräfte, die in sich selbst ruhen. Gerald Hüther spricht über individuelle Prozesse, von denen alle profitieren.

© Wolfgang Würker

Herr Professor Hüther, Sie testieren Erwachsenen – und somit auch pädagogischen Fachkräften – einen häufig lieblosen Umgang mit sich selbst. Wie definieren Sie diese Lieblosigkeit?

Ein liebloser Umgang mit sich selbst drückt sich darin aus, dass die betreffende Person wenig Interesse daran hat, sich selbst zu fragen, was ihr guttut. Stattdessen erwartet sie eher von anderen, dass diese sie glücklich machen.

Und wer lieblos mit sich selbst umgeht, verhält sich auch lieblos gegenüber anderen, so Ihre Erkenntnis. Sie schildern, dass die Erwartungen mancher U3-Fachkräfte mit den eigentlichen Bedürfnissen der Kinder nichts zu tun haben.

Weder Fachkräfte noch Eltern gehen wohl davon aus, dass sich ein Kleinkind aus eigenem Antrieb mehrere Stunden am Tag in einer Kita aufhalten möchte. Allen Erwachsenen ist also klar, dass ihre eigenen Erwartungen nicht mit dem eigentlichen Bedürfnis des Kindes, nämlich Zuhause bei Mutter oder Vater zu sein, übereinstimmen. Zur professionellen Kompetenz der Fachkräfte gehört es dann, dem Kind dabei zu helfen, sein wirkliches Bedürfnis nach Verbundenheit mit den primären Bezugspersonen nicht mehr so deutlich wahrzunehmen und sich daran zu gewöhnen, dass es in der Einrichtung von Personen betreut wird, die ihm zunächst fremd sind. Manchmal klappt das gut, dann sind alle zufrieden. Manchmal gelingt es nicht so gut. Dann fühlt sich das Kind in der Einrichtung nicht wohl und die Fachkraft ist frustriert und mit sich selbst unzufrieden. Manche hadern dann auch mit dem betreffenden Kind und fangen an, es negativ zu bewerten, weil es sich nicht so einfügt, wie sie das erwartet haben. Dann – und erst dann – wird es für alle Beteiligten schwierig.

In welchen Situationen erleben die Jüngsten ihre Fachkräfte noch als lieblos?

Viele Fachkräfte verhalten sich etwa lieblos, wenn sie nicht spüren, was ein Kind gerade braucht, oder wenn sie es nicht bei etwas unterstützen, das ihm alleine noch nicht gelingt. Ebenso lieblos ist es, zu früh einzugreifen und dem Kind dadurch die Möglichkeit zu rauben, selbst herauszufinden, wie etwas funktioniert. Aber auch den Jüngsten nicht dabei zu helfen, ihr Gegenüber als eine eigenständige Person mit eigenen Absichten und Bedürfnissen wahrzunehmen ist lieblos, weil die Kinder so nicht lernen können, dass es beim spielerischen Ausprobieren durchaus Grenzen gibt.
All das kann Fachkräften passieren, wenn sie dieses unbedingte Interesse an der Entfaltung des Kindes nicht deutlich genug vor Augen haben. Etwa, weil sie aufgrund schlechter beruflicher Rahmenbedingungen überlastet sind.

Welche Folgen hat all dies für die Kinder?

Die Kinder leiden unter der Lieblosigkeit ihrer Bezugspersonen. Denn durch das mangelnde Interesse an ihrer Entfaltung werden ihre zentralen Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten verletzt. Die Kinder müssen dann einen Weg finden, diesen Schmerz zu überwinden.

Sie stellen die provokante These auf, dass dieser durch Lieblosigkeit ausgelöste Prozess die Kinder dumm macht.

Zur Entfaltung ihrer Entdeckerfreude und Gestaltungslust, zur Aufrechterhaltung von Neugier, Einfühlungsvermögen und Schärfung ihrer Selbstwahrnehmung, haben Kinder keine Gelegenheit, solange sie etwas belastet. Das passiert, wenn sie lieblos behandelt werden. Denn ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich dann auf mögliche Wege, ihre Bedürfnisse nach Verbindung und Autonomie zumindest ersatzweise zu stillen. Manche schlagen oder verjagen andere Kinder und verschaffen sich so Anerkennung; manche mimen den Clown oder den Angeber und erhalten so die gewünschte Aufmerksamkeit. Und wieder andere ziehen sich zurück und wollen gar nicht mehr dazugehören. Wie auch immer die individuellen Lösungen aussehen, um den gefühlten Schmerz abzustellen: Sie gehen alle mit der Unterdrückung der ursprünglich jedem Kind angeborenen Freude am Lernen einher.

Fachkräfte verhalten sich ja nicht bewusst lieblos und werden dies vermutlich als unfairen Vorwurf wahrnehmen. Was entgegnen Sie ihnen?

Es geht nicht um Schuld. Alle versuchen, es so gut zu machen, wie es ihnen möglich ist. Fachkräfte sind ja selbst durch eine Kindheit gegangen, in der sie all das am eigenen Leib erfahren haben. Sie mussten dann ebenfalls nach einigermaßen brauchbaren Lösungen suchen – die mehr oder weniger fest im eigenen Gehirn verankert wurden. Das kann ihnen niemand zum Vorwurf machen. Aber vielleicht können sie versuchen, es künftig etwas anders zu machen. Eben etwas liebevoller, zunächst erst einmal im Umgang mit sich selbst.

Doch wie können sie sich liebloses Verhalten sich selbst gegenüber bewusst machen – und vor allem dieses ändern?

Kognitiv geht das nicht. Man muss es ausprobieren, beim Essen, beim Medienkonsum, bei der Freizeitgestaltung oder eben auch bei der Arbeit. Es gibt immer eine Gelegenheit, sich zu fragen, ob das, was man da gerade macht, einem wirklich guttut. Dann kann man es auf andere, liebevollere Weise versuchen und wird feststellen, dass dies so viel mehr Freude macht und dadurch auch vieles leichter wird.

Wie können sich Mitglieder eines Kita-Teams gegenseitig in diesem Prozess unterstützen?

Sie können darüber reden und einander ermutigen, endlich ehrlich zu sich selbst zu sein. Möglicherweise wird ihnen dabei ihr liebloses Verhalten sich selbst gegenüber erstmals richtig bewusst. So würden sie wieder mit dem unbefangenen, vorurteilsfreien, von seiner Lebendigkeit begeisterten Kind in Kontakt kommen, das sie ja alle selbst einmal waren, das sie aber irgendwann unbemerkt in sich zugeschüttet haben, um möglichst gut zu funktionieren und anerkannt zu werden.

Was Fachkräfte durch die Reflexion ihres Verhaltens gewinnen können, haben Sie geschildert. Wie aber profitieren die Kinder davon?

Wenn Fachkräfte zuversichtlich und glücklich, und deshalb nicht mehr so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, können sie sich den Kindern wirklich ganz zuwenden. Das überträgt sich auf die Mädchen und Jungen und sie beginnen, frei, unbekümmert und spielerisch die Welt zu entdecken.

Die Fragen stellte Katrin Imbery.

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