Ein Interview mit Prof. Dr. mult. Wassilios E. FthenakisDeutschlands Bildungssystem 2.0

Damit individuelle Bildungsbiografien erfolgreich verlaufen können, müssen sich Institutionen mit den Familien und anderen Bildungsorten der Kinder noch besser aufeinander beziehen. Dies gilt für alle Institutionen, nicht nur für die Kitas.

Viel ist in den letzten Jahren an unserem Bildungssystem reformiert und repariert worden und die Kitas sind weitgehend als erste Stufe des Bildungssystems anerkannt. Dennoch fordern Sie eine grundlegende strukturelle Reform des Bildungssystems. Warum?

Wassilios E. Fthenakis: Die empirische Forschung belegt: Das deutsche Bildungssystem begünstigt Bildungsungerechtigkeit, auch weil Bildungseffekte von Bildungsstufe zu Bildungsstufe verloren gehen. Hinzu kommt, dass Übergänge im Bildungsverlauf die jüngeren Kinder, die Jungen, die Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligen. Die Bildungsziele brechen beim Übergang auf die nächste Stufe zusammen und sie müssen neu konstituiert werden. Schließlich lässt die Regulierung des Systems zu wünschen übrig. Generell ist das Bildungssystem auf Nichtkommunikation und Nichtkooperation aufgebaut. All das ist wenig geeignet, um hohe Bildungsqualität zu sichern. Diese und viele weitere Aspekte müssen in ein Reformprogramm einbezogen werden. Davon sind wir allerdings noch weit entfernt.

Was ist bisher geschafft worden?

Wassilios E. Fthenakis: Einige Reformen sind auf den Weg gebracht worden, etwa die Bildungspläne, die eine lange Phase der Beliebigkeit in den Einrichtungen des Elementarbereichs beenden sollten. Allerdings beherrschten das Feld bislang mehr Strukturdebatten. Der Ausbau der Angebote für unter dreijährige Kinder zählt dazu. Diese aber sind nur bedingt geeignet, die Bil dungsqualität zu verbessern. Die Kehrseite etwa der 16 verschiedenen Bildungspläne ist eine starke Diversität, was das generelle Problem Deutschlands verstärkt, ein ungerechtes Bildungssystem zu pflegen.

Was ist die jetzt größte Herausforderung?

Wassilios E. Fthenakis: Wir haben mit den Institutionen übergreifenden Bildungsplänen, beispielsweise mit dem Hessischen Bildungsplan, einen Anfang eingeleitet. Er muss konsequent bis zu 18 plus weitergeführt werden. Auch eng damit verbunden haben wir die Lernortorientierung der Bildungspläne eingeleitet, die noch ihrer Umsetzung auf Bundesebene harrt. Bildungssysteme wurden geschichtlich von oben nach unten entwickelt. Wenn jedoch reformierte Bildungssysteme nicht mehr lediglich auf Wissensvermittlung, sondern auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und kindlicher Kompetenzen – von Anfang an – fokussieren, dann haben wir die historische Chance, ein konsistentes Bildungssystem von unten nach oben zu entwickeln. Das ist die größte Herausforderung, die der Bewältigung bedarf.

Auch auf der inhaltlich-pädagogischen Ebene haben Sie deutliche Kritik an der derzeitigen Ausrichtung. Was sollte Ihrer Meinung nach im Fokus stehen, damit unsere Kinder auf die zukünftige Welt vorbereitet werden?

Wassilios E. Fthenakis: Das erste, was wir verändern müssen, ist die theoretische Grundlage, auf der das Bildungssystem aufbaut und die bei der Organisation von Bildungsprozessen herangezogen wird. Wir müssen lieb gewordene konstruktivistische zugunsten sozial-konstruktivistischer Positionen verlassen. Letztere implizieren ein verändertes Verständnis von Entwicklung und Lernen, das mehr den Prämissen der Welt des 21. Jahrhunderts entspricht. Wir müssen endlich dazu übergehen, Bildung nicht als primär individuellen, kindzentrierten, sondern als sozialen Prozess zu verstehen, der in einen sozialen und kulturellen Kontext eingebettet ist und sowohl von Fachkräften bzw. Eltern als auch von Kindern aktiv kokonstruiert wird. Wenn diese Position akzeptiert wird, dann ist die Folge davon, ein neues didaktisches Konzept – das der Ko-Konstruktion – einzuführen, von dem inzwischen bekannt ist, dass es eine höhere Bildungsqualität sichern kann.

Was würde ein solches Konzept – konsequent umgesetzt – verändern?

Wassilios E. Fthenakis: Ein solches Konzept verändert nicht nur die Qualität der Fachkräfte- Kind-Beziehung, es hat auch gravierende Folgen für die Organisation von Bildungsprozessen und Bildungssystemen. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass in dialogisch organisierten Gesellschaften unsere Kinder selbst die Qualität ihres Lernprozesses verändert haben: Anstelle des individuellen Lernens tritt das kooperative Lernen in den Vordergrund. Und neue Technologien verändern nicht nur das Leben, sondern auch die Art und Weise, wie wir lernen. Unsere Bildungssysteme waren ausschließlich auf die reelle Welt der Kinder fokussiert. Nun ist die virtuelle Welt eine neue Realität für jedes Kind geworden.

Wie können die reelle und die virtuelle Welt zur Bereicherung kindlicher Bildungsbiografien konstruktiv verbunden werden?

Wassilios E. Fthenakis: Wie wir die beiden Welten konstruktiv zur Bereicherung individueller kindlicher Bildungsbiografien verbinden werden, bleibt nach wie vor eine Herausforderung. Es gibt bereits Ansätze darüber, wie man zum Beispiel Human Computers in den Bildungsprozess sinnvoll einbeziehen und die Fachkraft-Kind-Beziehung zu einer triadischen erweitern kann. Neue Technologien werden unverzichtbar, wenn wir die Ziele Individualisierung und Zugang für alle erreichen möchten, und sie bieten neue Chancen, Bildungsprozesse, über den engeren sozialen und kulturellen Raum, kooperativ zu gestalten. Ein großes Hindernis stellen allerdings die nach wie vor ausgebliebene Reform der Ausbildung der Fachkräfte und eine chronische Unterfinanzierung des Elementar- und Primarbereichs dar. Wir müssen dazu übergehen, endlich die Finanzierung des Bildungssystems – sowohl die Höhe der Investitionen als auch die Prioritätensetzung betreffend – neu zu überdenken.

Dies würde eine tief greifende Reform des Bildungssystems nach sich ziehen.

Wassilios E. Fthenakis: Wenn wir unsere Kinder auf eine tief greifend veränderte Welt vorbereiten möchten, dann sind Reformen auf all diesen angedeuteten Ebenen unverzichtbar. Und dabei sollten wir berücksichtigen, dass hohe Bildungsqualität über Prozesse, weniger über Strukturen, gesichert werden kann. Es mangelt nach wie vor an elaborierten Konzepten zur Organisation von Bildungsprozessen. Ein erfahrungsgeleitetes Paradigma dominiert, fachliche Begründung stellt eher die Ausnahme dar. Wir organisieren Bildungsprozesse in Bildungsräumen, die sich als hinderlich für eine hier angedeutete Reform erweisen, und wir nutzen viel zu wenige Ressourcen, die in außerschulischen Bildungsorten verfügbar sind.

In Ihren Reformvorschlägen gehen Sie auch stark auf die Effekte der informellen Bildungsorte ein. Wo sehen Sie deren Stärken und wie kann das mit der institutionellen Bildung gekoppelt werden?

Wassilios E. Fthenakis: In der Forschung gibt es seit den 1960er-Jahren einen bis heute konsistenten Befund: Außerinstitutionelle Faktoren bestimmen in höherem Maße kindliche Entwicklung als bildungsinstitutionelle. Nach dem paradigmatischen Wechsel, demzufolge moderne Bildungssysteme nicht lediglich auf Wissensvermittlung, sondern auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und kindlicher Kompetenz fokussieren, erfolgte eine Neubestimmung dieser Bildungsorte. Neuere Bildungspläne beziehen sie direkt ein und weltweit hat man begonnen, Forschung auf diesem Gebiet zu organisieren beziehungsweise bereits konkrete Maßnahmen einzuleiten. Es liegen bereits gesicherte Erkenntnisse für die Bedeutung der außerschulischen Bildungsorte aus Kanada, Deutschland und anderen Ländern vor, die nahelegen, die Ressourcen des Sozialraumes des Aufwachsens unserer Kinder stärker in das Bildungskonzept einzubeziehen. Gegenwärtig stehen wir vor der Herausforderung, Kinder mit Fluchterfahrung in Deutschland aufzunehmen und für sie geeignete Angebote zur Verfügung zu stellen. Bisherige Erfahrungen, auch Forschungsbefunde, belegen, dass wir uns mit einem doppelten Problem konfrontiert sehen.

Was genau ist die Problemlage?

Wassilios E. Fthenakis: Einerseits erwies sich das bisherige Bildungsangebot als bedingt geeignet, um diesen Kindern in den Bildungsinstitutionen zu helfen, und andererseits wurde die Erwartung nicht erfüllt, über einen Bildungsansatz auch Integration zu erreichen. Deshalb habe ich jüngst einen anderen Weg empfohlen, nämlich eine Kombination aus einem (erweiterten) Bildungsansatz und einem Integrationsansatz.

Was beinhaltet Ihr neues Konzept?

Wassilios E. Fthenakis: Lediglich auf die Stärkung der Sprachkompetenz im Deutschen zu beharren, reicht nicht aus, um diesen Kindern effektiv zu helfen. Neben dem Erwerb der Sprachkompetenz müssen weitere Kompetenzen in den Fokus kommen: die Stärkung von Widerstandsfähigkeit, um die traumatischen Erfahrungen zu bewältigen, die Stärkung des Selbstkonzeptes, um den Mut aufzubringen, erworbene Sprachkenntnisse für kommunikative Zwecke einzusetzen, und vieles mehr. Auf der anderen Seite sollte Kindern und deren Familien geholfen werden, eine positive soziale und kulturelle Einbettung in ihrer neuen Umgebung zu erreichen. Das von mir entwickelte MAPpy-Konzept leistet diese Aufgabe und nutzt zugleich neue Technologien. MAPpy stellt eine Verniedlichung zweier Wörter dar: MAP = Karte und App = die technologische Lösung der Vermittlung (py). Kindern und ihren Familien wird die unmittelbare Umgebung aus einer Ressourcen- Perspektive präsentiert. Es wird ihnen geholfen, ein klares Bild von ihrer Umgebung zu entwickeln, das ihnen Orientierung und Sicherheit ermöglicht. Sie lernen verfügbare Ressourcen ihrer (neuen) Umgebung zu nutzen, soziale und Arbeitskontakte zu knüpfen, angebotene Hilfen in Anspruch zu nehmen und auf diese Weise ihre Integration zu erreichen.

Nach wie vor spielt die Familie in der Bildungsbiografie der Kinder eine zentrale Rolle. Werden diese in den institutionellen Bildungseinrichtungen genug berücksichtigt?

Wassilios E. Fthenakis: Wir haben lange Zeit außerfamiliale Angebote sowohl von jenen der Familie als auch von denen der Grund schule abgegrenzt. Es hieß ja, der Elementarbereich leistet einen familienergänzenden Beitrag, der sich von dem der Grundschule prinzipiell unterscheidet. Unter dem Druck der Familien wurde diese Theorie der separaten Welten infrage gestellt und das Konzept der sogenannten Elternarbeit eingeführt, die sich als wenig effizient und für Eltern und Einrichtungen als kaum befriedigend erwies. In den Bildungsplänen, die ich verantworte, habe ich deshalb das Konzept der „Bildungspartnerschaft“ eingeführt.

Was bedeutet das konkret für die Praxis?

Wassilios E. Fthenakis: Die „Bildungspartnerschaft“ bietet eine Alternative zur bisherigen Elternarbeit und hat eine neue Qualität im Verhältnis und im Umgang der Bildungsorte untereinander eingeführt. In der bisherigen Auslegung der „Elternarbeit“ dominierte die institutionelle Perspektive. Möglichkeiten einer Mitwirkung durch die Familie waren beschränkt und in der Regel vor dem Hintergrund bildungsinstitutioneller Interessen legitimiert. Die Beziehung zwischen Bildungsinstitution und Familie war asymmetrisch organisiert, zulasten der Familie. Weitere Bildungsorte wurden weitgehend vernachlässigt. Eine Mitwirkung im Sinne einer Ko- Konstruktion war weder dem Verständnis noch den konkreten Formen nach gegeben. Die „Bildungspartnerschaft“ stellt einen grundsätzlich veränderten Rahmen zur Kooperation zwischen Familie, Bildungsinstitutionen und weiteren Bildungsorten bereit. Sie beruht auf der Annahme, dass kindliche Entwicklung und Bildung sich an verschiedenen Orten, in erster Linie in der Familie, vollziehen. Mithilfe der Bildungspartnerschaft werden die Ressourcen all dieser Bildungsorte in den Dienst der kindlichen Entwicklung gestellt. Sie verpflichtet alle Ko-Konstrukteure zur kooperativen, symmetrisch organisierten Haltung. Voraussetzung dafür ist die geteilte Bereitschaft, ko-konstruktiv, auf der Grundlage gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung, den Diskurs zu gestalten. Der bildungsinstitutionelle Beitrag legitimiert keinen besonderen Machtanspruch und keine privilegierte Stellung im Kontext der Ko-Konstrukteure. Jüngst bin ich einen weiteren Schritt gegangen und habe den familiären Alltag zu dem für das Kind wichtigsten Bildungsort konzeptualisiert. Darin sehe ich eine konkrete Möglichkeit, wie man außerinstitutionelle Ressourcen stärken kann und vielleicht sollte.

Wie kann man die Einbeziehung der Eltern verstärken?

Wassilios E. Fthenakis: Eltern weisen heute einen hohen Bildungs- und Informationsstand auf. Durch fortschreitende Individualisierung und (kulturelle) Vielfalt der Familienformen, aber auch durch die starke Bereitschaft der Eltern, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren, verändert sich die Familienlandschaft radikal. Alte Konzepte greifen nicht mehr. Auf der anderen Seite gab es in den letzten zehn Jahren eine Vielzahl von Publikationen, die konkrete Hilfen bereitstellen, wenn es darum geht, den Beitrag der Familien mit dem der Bildungsinstitutionen sinnvoll und produktiv zu verknüpfen. Die Notwendigkeit dafür haben auch empirische Studien geliefert, wie etwa das „Effektive Provision of Pre-School Education“-Projekt aus England. Sie zeigten, dass sich „gute“ von den „weniger guten“ Einrichtungen dadurch unterscheiden, dass sie eine enge Kooperation mit den Familien ihrer Kinder pflegten. An sich waren diese Erkenntnisse bereits aus den Evaluationsstudien des „Head Start"-Programms der 1960er-Jahre in den USA bekannt. Was heute benötigt wird, ist eine begründete und auf den neueren Erkenntnissen aufbauende Konzeption, um die Kooperation zwischen Familien und Bildungsinstitutionen ko-konstruktiv zu ermöglichen, nicht nur im Elementarbereich, sondern über alle Phasen des Bildungsverlaufs. Das stellt nach wie vor eine Herausforderung dar.

Eine abschließende Frage: Sehen Sie tatsächlich realistische Chancen auf eine grundlegende Reform unseres Bildungswesens, wenn schon ein Bundesqualitätsgesetz für Kitas am Widerstand der Länder zu scheitern droht?

Wassilios E. Fthenakis: Reformen in Deutschland müssen auf verschiedenen Ebenen wirken: Auf der individuellen Ebene bedarf es einer Änderung unserer Haltung. Wir müssen bereit sein, unsere Konzepte zu verändern. Auf der strukturellen Ebene müssen solche Reformen in 16 Bundesländern umgesetzt werden. Beides zusammen verlangsamt den Reformprozess und bringt das Land in die Defensive. Das wird auf allen Ebenen des Reformprozesses manifest, am eindrucksvollsten die virtuelle Transformation betreffend. Die Nicht- Verabschiedung beziehungsweise die Nicht-Initiierung eines Bundesqualitätsgesetzes ist ein Beispiel dafür, wie Reformen in Deutschland behindert werden, obwohl sie überfällig sind. Meine nunmehr über 50-jährige Erfahrung, zum Teil als aktiver Mitgestalter solcher Reformprozesse, lehrt mich, dass die Zeit, die dafür benötigt wird, länger als woanders dauert, aber der Reformprozess, wenn er schon einmal begonnen hat, dafür konsistent seinen Weg weitergeht. Man benötigt Geduld, in gewisser Hinsicht Hartnäckigkeit im Sinne der Konsistenz, eine gute Portion Optimismus und manchmal ein wenig Glück. Trotzdem sollten wir alle daran denken, dass wir uns, in Zeiten schnellen Wandels, den Luxus nicht erlauben dürfen, Reformen nicht rechtzeitig einzuleiten und nicht mit dem notwendigen Tempo zu begleiten. Denn wer zu lang an der Vergangenheit hängt, verpasst oft die Zukunft.

Prof. Dr. mult. Wassilios E. Fthenakis leitete das Staatsinstitut für Frühpädagogik. Zudem war er Honorarprofessor für angewandte Entwicklungspsychologie und Familienberatung an der Universität Augsburg und später ordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie an der Freien Universität Bozen/ Italien. Er ist Experte in der Kindheits- und Familienforschung und verantwortlich für die Bildungspläne in Hessen und Bayern. Seit 2006 ist er Präsident des Didacta-Verbandes.

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