Jüdisch-theologische Perspektiven auf JesusEin Retter für die Heiden

Jesus hat das rabbinische Judentum seit dem Mittelalter theologisch inspiriert, weil er ein Verfechter der Thora und damit des Judentums war.

Eine Statue zeigt den Kopf von Maimonides
© Pixabay

Es ist heute unstrittig, dass Jesus ein Jude war; langsam wird auch auf christlicher Seite wahrgenommen, dass sich Rabbiner seit der Antike mit Jesus beschäftigt haben. Weitgehend unbekannt ist, dass die rabbinische Diskussion Jesu Lehre und Handeln auch eine theologische Dimension einräumte. In den ersten Jahrhunderten erwähnt die rabbinische Literatur Jesus kaum. Der babylonische Talmud oder der Midrasch zeugen von wenig Kenntnis über Jesus; die Evangelien waren unbekannt und wurden nicht theologisch diskutiert (vgl. Burton Visotzky, „Jesus in der rabbinischen Tradition“, in: Das Neue Testament, jüdisch erklärt, Stuttgart 2021, 800–802). Im frühen Mittelalter waren die meisten Rabbiner von einem biblisch-talmudischen Denken geprägt, das nur zwischen Juden einerseits und Nichtjuden andererseits unterschied. Erst mit zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Kontakten zwischen Juden und Christen befassten sich Rabbiner mit dem Christentum (Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance, Springfield 1961, 4–7; 10–12).

Im sephardischen Judentum entwickelten sich unterschiedliche Perspektiven auf Jesus. Der Rambam (1135–1204), auch als Maimonides bekannt, lehnte messianische Ansprüche für Jesus ab und kategorisierte das Christentum als Awoda Sara, als ein falsches Verständnis von Gottes Willen oder eine irrige religiöse Praxis. Für Maimonides verkörperte die Christologie diesen Irrtum. Die Einheit Gottes, das heißt der reine Monotheismus, war für ihn entscheidend, wobei er von der muslimischen Theologie beeinflusst war. Maimonides erkennt jedoch an, dass das Christentum die jüdische Bibel kanonisierte; er schrieb über Jesus: „Dennoch ist die Absicht des Schöpfers der Welt nicht in der Macht des Menschen zu begreifen, denn Seine Wege sind nicht wie unsere Wege, noch sind Seine Gedanken, unsere Gedanken [Jesaja 55,8]. Letztendlich dienen alle Taten Jesu von Nazareth (…) nur dazu, den Weg für das Kommen des Messias und die Verbesserung der gesamten Welt zu bereiten und die Völker anzuspornen, gemeinsam Gott zu dienen, wie es heißt [Zefania 3,9]: ‚Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, dass sie alle des Ewigen Namen anrufen und ihm einträchtig dienen.‘ Die ganze Welt ist bereits mit der Hoffnung des Messias, der Thorah und den Mizwot erfüllt. Diese Dinge sind auf die entferntesten Inseln verbreitet wordenn“.

Damit gibt Maimonides Jesus auch eine theologische Dimension: Jesus ist Teil von Gottes Plan bei der Erlösung der Welt. Sicherlich ist das eine inklusivistische Position, auch als Gegenpolemik zur christlichen antijüdischen Erfüllungstheologie zu verstehen, aber sie bedeutet, dass Jesus von Gott für die Völker gesandt wurde.

Andere sephardische Rabbiner dieser Zeit äußern sich sogar noch universeller; so meinte Nathaniel Al-Fayyumi (1090–1165), der im Jemen lebte, dass Gott verschiedene Religionen kreierte, da die Völker unterschiedlich sind und jedes eine eigene Unterweisung bekommt. Dafür hat jedes Volk seine Thora. Das ist ein spektakulärer Ausdruck, denn er bedeutet, dass auch andere Botschaften über andere Propheten, die Gott schickt, Thora sind, also göttliche Lehre an die anderen Völker. Al-Fayyumi erkennt damit letztlich auch Jesus als Propheten Gottes an. Andere Religionen sind also nicht nur einfach erlaubt, sondern sie haben ihren Ursprung in göttlicher Offenbarung, damit „die Welt nicht ohne Religion bleibt“ (Bustan al-Uqal).

Aschkenasische Rabbiner, die mit dem Christentum viel vertrauter waren, weil sie in christlichen Ländern lebten, äußerten sich in Bezug auf Jesus und die Christologie deutlich direkter. Raschis Enkel, die Ba’alei Tosafot, debattierten darüber, ob Juden mit Christen Geschäfte machen dürfen. Der jüngere Enkel, Rabbenu Tam (1100–1171), erlaubte das, wie andere Tosafisten auch. Grund war, dass die Christologie kein Awoda Sara ist. Christen dürften zu Gott ein anderes Wesen hinzufügen, da dies „kein Name des Götzendienstes“ sei, denn ihre „Absicht gilt dem Schöpfer des Himmels“ – das heißt, sie meinen den Gott Israels. Dieses „Hinzufügen“ (hebr.: Schituf) von „etwas anderem“, nämlich Jesus (und damit christologische Konzepte), das den reinen Monotheismus zu kompromittieren schien, sei für Nichtjuden nicht verboten. Jesus ist für die aschkenasischen Rabbiner des Mittelalters also zumindest für Nichtjuden akzeptabel.

Der deutsche Rabbiner Jacob Emden (1697–1776) schrieb ausführlich und wohlwollend über das Christentum. Wie Maimonides verstand er das Christentum als Erfüllung der Prophezeiung, dass sich die Erkenntnis Gottes eines Tages über die ganze Erde verbreiten wird. Gott habe den Christen Prophezeiungen, Gesetze und Regeln gegeben. Folglich haben die Christen „ihre Bauwerke“ auf der „gemeinsamen göttlichen Thora“ errichtet, und so ist auch ihr Zusammenschluss, ihre Gemeinde „um des Himmels willen“ da und wird Bestand haben. Für Emden ließ Jesus „der Welt eine doppelte Güte zuteilwerden. Einerseits stärkte er die Thora von Moses in majestätischer Art (…) und keiner unserer Weisen sprach jemals nachdrücklicher über die Unveränderlichkeit der Thora. Andererseits beseitigte er die Götzen der Völker und verpflichtete die Völker auf die sieben Noachidischen Gebote, sodass sie sich nicht wie wilde Tiere des Feldes aufführten, und brachte ihnen grundlegende moralische Eigenschaften bei“ (Seder Olam Rabba, 32b–36). Damit gab auch Emden Jesus eine theologische Dimension. Er sei ein Messias, ein Erlöser gewesen – für die Nichtjuden, die er vom Götzendienst befreite und auf eine ethisch-moralische Grundlage verpflichtete. Dadurch rettete Jesus die Heiden. Emden betonte gleichzeitig, dass Jesus die Thora nicht verändern, sondern sie – im Gegenteil – sogar stärken wollte. Das Judentum sollte bestehen bleiben. Jesus wird nicht nur im Judentum verortet, sondern ein Gelehrter und Verfechter des Judentums. Mehr noch, Jesus hat sogar eine theologische Bedeutung für Juden.

Trinität als Ausdruck des Geheimnisses Gottes

Der litauische Rabbi Elijahu Zwi Soloweyczyk (1805–1881) argumentierte, dass die Lehren Jesu und Moses’ vereinbar seien. Er hoffte, das „Missverständnis“ und die „Uneinigkeit“ zu überwinden, damit Juden „Hand in Hand mit unseren christlichen Brüdern wandeln“ und das messianische Wort des Propheten Micha sich erfüllen wird (Die Bibel, der Talmud, und das Evangelium, Leipzig 1877). In der englischsprachigen Übersetzung ergänzte er, dass Juden, die das Christentum für Götzendienst hielten, die Trinität missverstehen. Trinität beinhalte nicht, dass Jesus Gott war, sondern sei nur Ausdruck des Geheimnisses Gottes. Rabbiner Israel Lipschitz (1782–1860) definierte das Christentum als eine göttliche Religion; ähnlich auch Rabbiner wie Samson Raphael Hirsch (1808–1888) und David Zwi Hoffmann (1843–1921).

Es gab immer wieder auch antichristliche Polemik, die keinen großen Einfluss auf die halachischen Diskussionen hatte, wohl aber auf das liberale Judentum. Abraham Geiger nahm die Grundidee von Leon da Modena auf. Geiger beurteilte Jesus sehr positiv, verstand ihn aber nur als Juden seiner Zeit. Alles Weitere sei nur spätere „Sagenbildung“. Er wollte Jesus vom paulinischen Christentum zurück ins Judentum „holen“. Damit fokussierte sich die jüdisch-liberale „Leben-Jesu-Forschung“ auf die „Heimholung“ Jesu und lehnte jegliche theologische Bedeutung für das Christentum ab. Für Ludwig Philippson (1811–1889), dem einflussreichsten deutschen reformjüdischen Theologen seiner Zeit, entwickelte sich das Christentum unter dem Einfluss des Paulus zu einer dogmatischen, mystischen Religion, die jüdische und heidnische Elemente vereinte. Leo Baeck nahm diese Position auf und folgerte, dass das Christentum nicht nur die Lehre der Gemeinde Jesu, sondern auch den Monotheismus verlassen habe. Er spricht dem Christentum den „Sinn der Einigkeit und Einzigkeit Gottes“ ab und kategorisiert es durch die Gottwerdung Jesu als Götzendienst oder zumindest vom reinen Monotheismus ausschließend.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts erschwerte der Antisemitismus, der Nationalsozialismus und ähnliche Bewegungen ein Gespräch zwischen Juden und Christen zunehmend. Doch trotz der Ablehnung durch die Kirchen und dem Horror der Judenverfolgung entwickelten orthodoxe Rabbiner wie Chaim Zwi Taubes (1900–1966) rabbinische Positionen weiter. Für Taubes war das Christentum eine göttliche Offenbarungsreligion, allerdings galt ihm Paulus und nicht Jesus als der Religionsstifter, der mit „himmlischer Machtbefugnis ausgestattet“ war, und der „Heilsplan Gottes lautete: Die Juden bleiben bei ihrer alten und (…) bewährten Form der metaphysischen Lebensversicherung (…) den Heiden hingegen werde dasselbe, nur in einer etwas anderen (…) Form gegeben und dadurch das Leben wieder geschenkt. Das lag auch im Plane Israels“. Israel wollte die heidnischen Völker nie besiegen, sondern sie trösten und ihnen neue Lebensströme zuführen. Das Christentum hat somit Tote wieder lebendig gemacht und absterbende Völker zu neuem Leben“ (Judentum, Christentum und Islam, 1940).

Nach der Shoa und enttäuscht über die Kontinuität der antijüdischen Theologie der Kirchen inklusive anhaltender Missionsbemühungen Juden gegenüber, äußerten sich die Rabbiner eher zurückhaltend bis ablehnend. Das änderte sich nach der katholischen Erklärung „Nostra aetate“. Gerade in den USA und Israel entwickelten sich daraufhin neue jüdische Positionen. Rabbiner Irving „Yitz“ Greenberg meinte, dass selbst Juden, „die wenig von Jesu Botschaft akzeptieren“, dennoch „Jesu Dienst als spiritueller Messias für die Heiden wertschätzen“ sollten, denn „er ist kein falscher Messias, sondern ein verhinderter Erlöser für die Völker“. Das beinhaltet eine hohe Wertschätzung Jesu, denn negativ ist nur ein falscher Messias. Demgegenüber ist ein gescheiterter Messias jemand, „der die richtigen Werte hat und den Bund aufrechterhält, aber das endgültige Ziel nicht erreicht“. Greenberg setzt Jesus mit den großen Propheten in der jüdischen Tradition gleich. Michael Wyschogrod (1928–2015) argumentierte gar, dass Inkarnation dem Judentum nicht grundsätzlich fremd sei und die Christologie, die sich auf das Innewohnen des Göttlichen in einem Menschen (Jesus) konzentriert, im Judentum eher auf eine Konzentration des Innewohnens des Göttlichen im Volk Israel konzentriert, in einer göttlichen Gegenwart an bestimmten Orten, wie dem Allerheiligsten im Tempel in Jerusalem.

Das Christentum als ein Geschenk an die Völker

Zentrale Bewertungen von mittelalterlichen bis zu zeitgenössischen Rabbinern finden sich in den beiden orthodoxen rabbinischen Erklärungen zum Christentum, „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ von 2015 und „Zwischen Jerusalem und Rom“ von 2017. Während die Erklärung 2015 zurückhaltend meinte, dass Christen ein „besonderer Status gebührt“ (gemeint ist ein theologischer Status), heißt es in der Erklärung von 2017 unter Bezugnahme auf Maimonides, Emden und andere Rabbiner explizit, dass Jesus einen theologischen Status hat und das „Christentum weder ein Zufall noch ein Irrtum ist, sondern göttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker.“

Es hat sich gezeigt, dass das orthodoxe Judentum das Christentum und Jesus schon lange diskutiert und oft positiv bewertet hat. Das Christentum wurde eben nicht (nur) als Götzendienst bezeichnet; nicht erst mit der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert begann eine objektive Beschäftigung. Gerade orthodoxe Rabbiner im deutschsprachigen Raum schufen die Grundlage für eine „jüdische Theologie des Christentums“ und einen theologischen jüdisch-christlichen Dialog. Sie sind es, die auch eine theologische Perspektive auf Jesus von jüdischer Seite ermöglichen, Jesu Rolle als messianisch und theologisch würdigen und auch traditionelle Konfliktpunkte, wie Trinität und Inkarnation, als christliche Glaubensgrundlagen akzeptieren.

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