Asketische Traditionen und der Missbrauch geistlicher AutoritätIm Sog der Opferspiralen

Die Bereitschaft, Verzicht zu üben und Opfer zu bringen, erscheint in manchen Fällen fast grenzenlos. Dabei muss Askese nicht streng und außergewöhnlich sein, sie kann im Kleinen beginnen. Doch es können sich gefährliche Abhängigkeiten entwickeln.

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Bekanntlich ist die Askese der eigentliche Weg zur Macht.“ Diese kühne These vertrat der französische Religionssoziologe Roger Caillois 1950 in seinem Buch „Der Mensch und das Heilige“ (München, 1988, 30). Woran er dabei nicht in erster Linie dachte: Häufig ist es die Askese der Anderen, die der Macht ihren Weg bahnt. Jene Askese, die Religionsführer aller Art von ihren Gläubigen erbitten, erschleichen, verlangen oder erzwingen.

Ein extremes Beispiel geschah im Frühjahr 2023 in Kenia, wo sich mehr als vierhundert Anhängerinnen und Anhänger einer Endzeitsekte zu Tode hungerten. Viele Menschen, die meist aus unfreiwilliger Armut und Hunger kamen, waren dem Heilsversprechen gefolgt, dass nach dem freiwilligen Hunger das Paradies auf sie warte, in dem sie Jesus begegnen würden. Etliche Opfer, besonders Kinder, aber auch Frauen, sollen von Sektenmitgliedern gewaltsam zum Hungern gezwungen worden sein. Der Pastor selbst hingegen hungerte nicht mit, angeblich, weil er als Letzter in den Tod gehen wollte.

Von außen betrachtet wirkt es oft unglaublich, worauf Menschen sich in geistlichen Gemeinschaften einlassen. Die Bereitschaft, Opfer zu bringen, erscheint in manchen Fällen fast grenzenlos. Die Dokumentation des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel „Seelenfänger“ führt das im Blick auf die aufgelöste „Katholische Integrierte Gemeinde (KIG)“ vor Augen. Ehemalige Mitglieder bezeugen finanzielle Ausbeutung, spirituellen Missbrauch und allgemein einen Machtzugriff, der selbst in das Liebesleben (Heirat, Kinder, Scheidung) eingriff. Wer engagiertes Mitglied sein wollte, musste zugunsten der Gemeinde auf vieles verzichten. Aber warum lassen sich Menschen auf Gemeinschaften ein, die so viel von ihnen verlangen?

Askese muss nicht unbedingt streng und außergewöhnlich sein. Sie kann im Kleinen beginnen, um Schritt für Schritt ganz groß zu werden.

„Ein Brötchen. Bohnen, gelöffelt aus der Dose. Zum Nachtisch eine Orange. Die Mahlzeiten bei den Jugendtreffen der christlichen Gemeinschaft von Taizé sind traditionell karg. Der Stimmung nimmt das nichts, im Gegenteil.“ Wer nach Taizé fährt, weiß, dass hier kein Luxus zu erwarten ist. Trotzdem genießt der Ort seit Jahrzehnten den Zustrom junger Menschen, die ganz begierig darauf sind, an diesem einfachen Leben teilzuhaben. Von Gemeinschaft und Engagement, Gebet und Gesang versprechen sie sich einen Aufschwung, der ihrem weiteren Leben Orientierung bietet und nachhaltig Sinn verleiht. Der Verzicht, den sie üben, befeuert geradezu die Begeisterung, ja die überschäumende Lebenslust.

Das Paradox „Askese als Lebenselixier“ hat eine lange Tradition. Der entscheidende Punkt ist hierbei, dass sie zunächst nicht erzwungen wird. Menschen verzichten auf den Gebrauch von Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, und stellen sie Anderen zur Verfügung, ohne eine Gegengabe zu verlangen. In dieser Verschwendung macht die Freiwilligkeit den Verzicht zu einem Opfer im Sinn von Sacrifice. Solche Opfer bringen Menschen, jung wie alt, nur dann, wenn es um etwas Größeres, Höheres geht, in dessen Dienst sie sich stellen. Sie sind davon überzeugt, dass sich die Opfer, die sie bringen, lohnen werden.

Das Lukasevangelium spricht sogar von der Extremform des Sacrifice: „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer das eigene Leben dagegen verliert, wird es gewinnen“ (Lk 17,33). Das hier thematisierte Verschwendungsparadox setzt darauf, dass durch einen bestimmten Lebensverlust ein ungleich höherer Lebensgewinn zu erzielen ist. Das Paradox kennen Eltern besonders gut, die für ihre Kinder alles zu geben bereit sind – und zugleich sagen, dass ihnen unsagbar mehr geschenkt wird. Im Christentum steht das Kreuz für die Bereitschaft, notwendigenfalls einen unerträglichen Verlust an Leben auf sich zu nehmen, um Anderen Leben zu ermöglichen.

In vielen Fällen stärkt Askese, obwohl eine Schwächung zu erwarten wäre. Leben bricht auf, ruft neues Leben hervor, potenziert sich. Von der Kraft, die hier am Werk ist, wollen viele profitieren. Im Hochmittelalter standen die Körper von Asketen daher hoch im Kurs, wie der Mediävist Jacques Dalarun in seinem Klassiker „Erotik und Enthaltsamkeit“ feststellt (Erotik und Enthaltsamkeit. Das Kloster des Robert von Arbrissel, Frankfurt 1987). Die vom Verzicht gezeichneten Körper „zu sehen, besser noch sie zu berühren, hieß, ein wenig teilhaben am Verdienst ihrer Askese. Ihr Körper, der umso kostbarer zu sein schien, als die Eremiten ihn selbst herabgewürdigt hatten, übte eine magische Kraft aus. Er hatte über alle Maßen gelitten und für viele gesühnt, und jetzt ging ein Segen von ihm aus“ (46).

Nun könnte man meinen, dies sei archaisch und passe nicht mehr in die heutige Zeit. Aber ein Blick auf Neue Geistliche Gemeinschaften und Bewegungen zeigt, dass auch hier die Askese mit ihrem vermeintlichen Segenspotenzial eine wichtige Rolle spielt. Das betrifft beispielsweise das große Engagement und damit die Ressourcen Zeit und Arbeitskraft. Aber auch finanziell wird Mitgliedern viel abverlangt. In Bezug auf junge Menschen ist ein markanter Punkt auch der „Kampf um sexuelle Reinheit“. Von heutigen Jugendlichen heißt es allgemein, dass sie sexuell schon früh aktiv sind, viel ausprobieren und regelmäßig Pornografie konsumieren. Wer sich hingegen dazu verpflichtet, vor und außerhalb der Ehe keinen Sex zu praktizieren und stattdessen mit Gott intim zu sein, setzt eine klare Unterscheidung, eine Abgrenzung. Mit ihr wird das erzielt, was der Soziologe Pierre Bourdieu einen Distinktionsgewinn nennt.

Bei diesem Distinktionsgewinn spielt der Glaube, eine besondere göttliche Erwählung zu haben, eine zentrale Rolle. Céline Hoyeau, französische Journalistin der Tageszeitung „La Croix“, stellt in ihrem Buch „Der Verrat der Seelenführer“ heraus, dass es in den Neuen Geistlichen Gemeinschaften nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil um nichts weniger geht als um die Rettung der Kirche (vgl. Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften, Freiburg 2023, 61–93).

Aktuell formuliert es die „Gemeinschaft der Seligpreisungen“ so: „Die Gemeinschaft ist stark von der Überzeugung bewegt, dass der Herr bald kommt und dass man sein Kommen beschleunigen kann, indem man durch den Lobpreis, die Schönheit der Liturgie und das geschwisterliche Leben das Himmelreich vorwegnimmt.“ Die Rettung der Kirche, gar die Vorwegnahme des Himmelreichs – welch hohe Ziele. Wer sich in einer Gemeinschaft engagiert und in den Dienst dieser höheren Sache stellt, wähnt sich in besonderer Weise göttlich erwählt. Hieraus entsteht ein spirituelles Elitebewusstsein: Wer bei uns mitmacht, dient dem Reich Gottes. Wer dazu nicht bereit oder in der Lage ist, gehört nicht dazu.

In Gemeinschaften bestärken Menschen sich gegenseitig im Bewusstsein außergewöhnlicher Erwählung, wodurch sich diese immer mehr „hochschaukelt“. Das spirituelle Elitebewusstsein wächst. Zugleich bestärkt es die Opferbereitschaft, denn: „Wir sind besser als die Anderen. Die Anderen sind viel zu lau. Wir folgen Jesus und sind bereit, die Konsequenzen zu tragen.“ Aus dieser Überzeugung heraus kann das gemeinschaftliche Gebet an einem besonderen Ort zu besonderem Anlass und in möglichst großer Versammlung zu einer berauschenden Machterfahrung werden.

Die Offenlegungen von Betroffenen und die Forschungen in Journalismus und Wissenschaft haben in den letzten Jahren jedoch gezeigt, dass ein solcher elitärer Erwählungsglaube für die Mitglieder von Gemeinschaften und Bewegungen sehr gefährlich werden kann. Je stärker der Erwählungsglaube und je höher das Ziel, desto höher wird die Verletzungsgefahr.

Hoyeaus Buch dokumentiert zahlreiche Fälle, in denen sich spiritueller Missbrauch, Ausbeutung durch Geld und von Arbeitskraft bis hin zu sexueller Gewalt einnisten und systemisch werden. Sie fokussiert auf jene Gründer von Gemeinschaften, die jahrelang als charismatische Menschen, überzeugende Prediger, sensible Seelenführer, herausragende Mystiker hofiert und geradezu wie Heilige verehrt, dann aber seit 2002 als Missbrauchstäter enttarnt wurden. Mit dem „Sturz der Sterne“ wurde klar: Spiritueller Missbrauch wirkt sich bei Betroffenen verheerend aus und kann bis zur Zerstörung der Persönlichkeit führen (103–106). Und mehr noch: „Spiritueller Missbrauch in der Kirche führt nicht immer zu sexuellem Missbrauch, aber er ist das Vorzimmer dazu“ (Blandine de Dinechin und Xavier Léger, Abus spirituels, Montreal 2019, 19).

Woran lässt sich erkennen, dass in einer Gemeinschaft oder Bewegung geistlicher Missbrauch und spirituelle Entgleisung – und häufig daran anschließend sexuelle Gewalt – eine Gefahr darstellen? De Dinechin und Léger zeigen in ihrem bahnbrechenden Buch Indizien auf.

Als Erstes nennen sie den Stolz auf „Missionserfolge“. Diese erhöhen den Druck auf Mitglieder, selbst zu solchen „Erfolgen“ beizutragen (73–78). Wer mithalten will, muss immer mehr persönliche Opfer bringen, um zum Erreichen der hohen Ziele beizutragen. Das zweite Indiz mag überraschen: „die Gemeinschaft strahlt Freude aus“ (78–81). Erwählte strahlen von innen. Freude wird damit zum Erkennungszeichen der angeblichen Erwählung, sodass es zu einer Art Freuden-Zwang kommt. Die offensiv missionarische Ausrichtung erzeugt den Eindruck von Ordnung und Disziplin, übt aber zugleich Homogenisierungsdruck aus: Das ist das dritte Indiz. Kritische Stimmen, die den Mythos der außergewöhnlichen Erwählung antasten, werden systematisch unterdrückt. Spiritueller Stolz und Diskreditierung anderer Menschen, die nicht zur Gemeinschaft gehören (viertes Indiz), führen zur Isolation von Menschen außerhalb der Gemeinschaft (Familie, Berufswelt, Freunde und Freundinnen), die häufig „Weltmenschen“ genannt werden. Der Druck unter den Mitgliedern kann so hoch werden, dass Mobbing irgendwann zum Alltag gehört (fünftes Indiz).

Selbstverständlich können Menschen Opfer bringen und sich selbst verschwenden, um sich in den Dienst einer höheren Sache zu stellen. Selbstverschwendung ist ein Lebensprinzip, ohne das es kein Leben geben kann. Aber die Berührung mit dem Heiligen setzt unkalkulierbare Machtwirkungen frei und birgt daher Verletzungsgefahr. Menschen sind überaus bereit, Opfer zu bringen für das, was ihnen heilig ist. Das Problematische hieran: Je „heiliger“ etwas zu sein scheint, desto höher steigt die Opferbereitschaft; je mehr Opfer man bringt, desto heiliger wird das, worum es geht. So können Opferspiralen entstehen, bis es zu jenem Kipppunkt kommt, an dem aus anfänglicher Stärkung eine Schwächung des Selbstbewusstseins wird; an dem statt einem Aufblühen des Lebens seine Zerstörung beginnt und an dem eine anfängliche Machterfahrung in eine Ohnmacht hineinführt, die sich permanent steigert. Statt lebensstiftendem Sacrifice nimmt die Victimisierung überhand.

Hoyeaus Studie zeigt, dass die Opferspiralen von finanziellem, spirituellem und sexuellem Missbrauch in Geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen besonders hoch sind, wenn eine charismatische Persönlichkeit erstens als außergewöhnliche geistliche Autorität Anerkennung findet, sie zweitens die besondere Erwählung der Gemeinschaft überzeugend vertritt und damit drittens die Opferbereitschaft der Mitglieder enorm erhöht. Im Zentrum von Missbrauch sind Opferspiralen am Werk. Denn die permanent wachsende Opferbereitschaft kann leicht von Täterinnen und Tätern missbraucht werden, die immer mehr und immer Absurderes verlangen. Da es angeblich um die Erwählung durch Gott geht, lösen sich auch Erwachsene nur schwer aus der vulneranten Beziehung zum Täter oder zur Täterin. Diese haben beinahe unbegrenzt Zugriff auf die Askese der Anderen, auch wenn sie selbst längst nicht mehr nach den Evangelischen Räten, also nicht mehr asketisch leben, Sex mit verschiedenen Menschen haben und finanzielle Reichtümer anhäufen. Wie weit der Zugriff auf die Askese der Anderen gehen kann, zeigt die anfangs zitierte Endzeitsekte.

Frankreich erlebte mit dem „Sturz der Sterne“ ein böses Erwachen, als sich langsam zeigte, wie hoch der Schaden für unzählige Opfer war, für Überlebende und Nicht-Überlebende. Und wie sehr die Vulneranz die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche zerstörte. Viele Bischöfe waren zuvor vom „Missionserfolg“ der charismatischen Bewegung beeindruckt und setzten ihre Hoffnung darauf, sie nahmen Kritik nicht ernst und trugen aktiv zur Vertuschung bei. Der Zusammenbruch trügerischer Hoffnung in Frankreich ist für den deutschsprachigen Raum eine Warnung. Die Neuen Geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen bieten kein Patentrezept für eine Pastoral der Zukunft. Wie will man der Gefahr wehren, dass auch hier der Absturz kommt?

Anzeige: Frère Roger - Gründer der Communauté von Taizé. Leben für die Versöhnung. Von Kathryn Spink
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