Sind wir eine undankbare Gesellschaft?

Sind wir eine undankbare Gesellschaft?
Ist es nur ein Gefühl, wenn sich manche vor allem als Opfer empfinden – und daraus Ansprüche ableiten?© iStock by Getty Images

Ein Grundübel

Wenn man, wie es in einer klassischen Formulierung heißt, „Gott in allen Dingen suchen und finden“ kann (Ignatius von Loyola), ist es dann auch möglich, für alles dankbar zu sein, was uns in den „Dingen“ widerfährt? Für Ignatius war klar, dass der Mangel an Dankbarkeit der Ursprung aller verkehrten Verhältnisse zu Gott und Welt ist. An einen Mitbruder schrieb er: „In seiner göttlichen Güte erwäge ich, vorbehaltlich eines besseren Urteils, dass unter allen vorstellbaren Übeln und Sünden die Undankbarkeit eines der von unserem Schöpfer und Herrn und vor den Geschöpfen, die seiner göttlichen und ewigen Ehre fähig sind, am meisten zu verabscheuenden Dingen ist, weil sie Nichtanerkennung der empfangenen Güter, Gnaden und Gaben ist, Ursache, Ursprung und Beginn aller Sünden und aller Übel; und umgekehrt, wie sehr die Anerkennung und Dankbarkeit für die empfangenen Güter, Gnaden und Gaben sowohl im Himmel wie auf der Erde geliebt und geschätzt wird.“

Merkwürdige Konstellationen

Befragungen der letzten Jahre haben eine merkwürdige Konstellation von Befindlichkeiten in der Mitte unserer Gesellschaft ans Licht gebracht. Auf der einen Seite bezeugen signifikant viele Menschen, dass es ihnen persönlich gut geht, zugleich aber sind die meisten derselben Befragten der Auffassung, die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land seien ungerecht. Das mag für gesteigerte Empathie der Befragten mit den Lebensverhältnissen derer sprechen, denen es schlechter geht als ihnen. Aber es mischt sich auch das andere Motiv mit hinein, nach dem Motto: „Mir geht es zwar gut, aber gerecht wäre es, wenn es mir noch besser ginge.“ Der Gerechtigkeitsbegriff wird in diesem Falle weniger von Migranten oder Hartz-IV-Empfängern her gedacht, sondern nach dem Modell: „Gerechtigkeit ist gut, wenn sie mir nützt.“ (Uwe Engel) Wenn hingegen von der zufriedenen Mitte Solidaritätsleistungen für Bedürftige verlangt werden, die für sie selbst mit Einschränkungen verbunden sind, stellt sich das Opfergefühl ein. Dankbarkeit hat aber im Opfergefühl keinen Platz. Sind wir also tendenziell eine undankbare Gesellschaft? 

Was ein Zahnarztbesuch zeigt

Aus der Tatsache, dass ein Ereignis mit Einschränkungen oder sogar mit Schmerzen verbunden ist, folgt nicht, dass ich Opfer bin. Vielmehr bin ich zum Beispiel trotz der mit einem Zahnarztbesuch verbundenen Unannehmlichkeiten dankbar dafür, dass es die moderne Zahnmedizin gibt – nicht wegen der Schmerzen bei der Behandlung, sondern wegen der Behandlung selbst, die schlimmere vorhergehende Schmerzen lindert und noch schlimmeren zukünftigen Schmerzen vorbeugt. Allein schon der bloße Gedanke an Behandlungsmethoden im Mittelalter reicht, um heute nach einem Zahnarztbesuch aufzustehen und zunächst einmal dem Himmel dafür zu danken, dass es die moderne Zahnmedizin gibt. Dankbarkeit stellt sich bei positiven Überraschungen und Geschenken leicht ein. Wenn ein Ereignis hingegen mit Schmerzen verbunden ist, ist ein bewusster Akt notwendig, um in der Haltung der Dankbarkeit zu bleiben und nicht in das einladende Opfergefühl zu kippen. Deswegen empfiehlt die ignatianische Spiritualität die Übung der Dankbarkeit am Abend eines jeden Tages. Dabei sollte die Aufmerksamkeit nicht nur auf die eindeutig positiven Ereignisse des Tages gerichtet werden, sondern auch auf die schmerzlichen: Was ist an diesem oder jenem schmerzlichen, komplexen Ereignis so, dass ich darin auch etwas entdecke, wofür ich dankbar sein darf? Vielleicht ist es in einigen Fällen viel zugemutet, so zu fragen; vielleicht braucht es manchmal auch zeitlichen Abstand, um diese Frage zuzulassen – aber ohne die Dankbarkeitsperspektive bleibt – nach einer Zeit der Gleichgültigkeit – die Opferperspektive übrig. Und die macht blind, je mehr sie zur beherrschenden Perspektive wird, blind sowohl für die eigenen empfangenen Güter als auch für die Leiden anderer, denen es wesentlich schlechter geht als mir. Schmerzen können eben mit wertvollen Erkenntnissen verbunden sein: Eine disziplinarische Maßnahme in der Schule trifft mich zwar empfindlich, aber ich lerne daraus, dass ich beim Mobbing gegen die Mitschülerin ein Mitläufer war. Ein vegetarischer Tag in der Kantine schränkt meinen Bedarf nach Fleischverzehr ein, aber er macht mir bewusst, dass der Kampf gegen die Klimaerwärmung auch meinen Lebensstil anfragt. Der Soli kostet mich Geld, aber ich leiste dadurch einen Beitrag für einen Ausgleich zwischen Arm und Reich. So kann man für disziplinarische Maßnahmen, Fleischverzicht und Steuerbelastungen auch dankbar sein.

Braucht es eine Katastrophe

Je mehr sich das Opfergefühl in einer Gesellschaft als Stimmung breit macht, umso weniger werden die Güter und Wohltaten wahrgenommen, gerade auch die fundamentalen, die einen vergleichsweise hohen Wohlstand und Stabilität sichern: 70 Jahre Frieden, europäisches Versöhnungswerk, Fall der Mauer, soziale Sicherheit, Gesundheitssystem, gestiegene Lebenszeiterwartungen – kein Grund zu täglicher Dankbarkeit? Zu mühselig, sich das bewusst zu machen? Zu selbstverständlich, als dass sich lohnen würde, es überhaupt noch zu benennen? Braucht es dann also doch eine mittlere Katastrophe wie den BREXIT, um wieder wahrzunehmen, dass die Europäische Union mehr ist als nur ein lockerer Zusammenschluss von Nationen im gegenseitigen ökonomischen Eigeninteresse? Müssen erst Populisten Gewinne einfahren, um zu begreifen, dass Demokratie und Rechtssicherheit Güter sind, die es wertzuschätzen und zu schützen gilt? Dürfen wir am Ende vielleicht sogar dankbar sein für BREXIT, Trump & Co., weil sie uns etwas bewusst machen, was wir ohne sie schon vergessen hatten und in unseren Opferdiskursen übersehen? Wie steht es aber mit den absoluten Katastrophen wie Kriegen, zerstörerischen Naturgewalten, sexuellem Missbrauch von Kindern, Terroranschlägen – also mit jenen Katastrophen, in denen es einen absoluten Opferstatus der Opfer gibt, der weder eingebildet noch übertrieben ist, und der sich einer Sinngebungen entzieht? Ist in diesen Fällen die Dankbarkeitsperspektive nicht doch eine Verharmlosungs- und Ablenkungsperspektive? Hat hier das „Gott suchen und finden in allen Dingen“ eine Grenze?

Eine notwendige Unterscheidung

Vielleicht hilft hier die folgende Unterscheidung: Es gibt eine überhebliche Weise, über den angeblichen Sinn von schrecklichen Ereignissen zu befinden. Sie ist das Kennzeichen sektiererischer Religiosität. So stand zum Beispiel in einem theologischen Kommentar zum Hurrikan Katrina 2005 zu lesen: „Der Hurrikan Katrina hat ... nicht nur alle Nachtclubs und Bordelle vernichtet, sondern auch alle fünf (!) Abtreibungskliniken ... Wussten Sie, dass zwei Tage danach die Homo-Verbände im französischen Viertel eine Parade von 125.000 Homosexuellen geplant hatten? Wie erst so langsam bekannt wird, sind die amoralischen Zustände in dieser Stadt unbeschreiblich ... Ist die auffallende Häufung von Naturkatastrophen nur eine Folge der Umweltverschmutzung durch den Menschen oder mehr noch die Folge einer ‚geistigen Umweltverschmutzung‘? Darüber werden wir in Zukunft verstärkt nachdenken müssen.“ Hier wird einem schrecklichen Ereignis an den Opfern vorbei ein Sinn zugesprochen, der auf den Vorurteilen der Person basiert, die so redet. Das Sektiererische besteht darin, dass solche Geschichtstheologie in der Blase der eigenen Vorurteile gefangen ist und deswegen in solchen Ereignissen bloß Selbstbestätigung findet. Nicht, was ein Ereignis mir für mein Umdenken zu sagen hat, kommt in den Blick, sondern das Ereignis wird benutzt, um andere zu belehren über das, was ich immer schon wusste.

Die Sicht des Evangeliums

Anders das Evangelium: Es „kamen einige Leute und berichteten Jesus von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit dem ihrer Opfertiere vermischt hatte. Und er antwortete ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder waren als alle anderen Galiläer, weil das mit ihnen geschehen ist? Nein, sage ich euch, vielmehr werdet ihr alle genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt.“ (Lk 13,1f) Ein schreckliches Ereignis wird hier als Gelegenheit gedeutet, selbst umzudenken, statt über andere zu urteilen. Genauso können Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer, extreme Wetterphänomene, Kriege und Terroranschläge als Gelegenheiten gedeutet werden umzudenken, statt über andere zu schimpfen. Dem schrecklichen Ereignis wird dabei keineswegs von Gott her ein Sinn zugesprochen. Vielmehr reißt es den Betrachtenden aus der Zuschauerposition heraus: Was hat das Ereignis mit mir zu tun? Wie fordert es mich heraus?

Eine tiefere Glückserfahrung

Es ist möglich, dass sich im Rückblick Dankbarkeit dafür einstellen kann, dass ein schreckliches Ereignis die Kraft dazu hatte, mich zum Umdenken zu bewegen und mein Leben neu zu ordnen. Viele Menschen berichten, wie umstürzende, schmerzliche Ereignisse in Politik, Familie oder auch im eigenen Leben bewirkten, dass sie ihr Leben neu ausrichteten. Das Schreckliche, das Schmerzliche wurde angenommen und in die eigene Biographie integriert, ohne dass ihm der Charakter des Schrecklichen oder Schmerzlichen genommen wurde. Personen, denen diese Annahme gelingt, leben aus einer Glückserfahrung, die tiefer sein kann als das Glück derjenigen, denen alle schmerzlichen Erfahrungen erspart geblieben sind. Für dieses Glück kann und darf sich eine tiefe Dankbarkeit einstellen.

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