einfach leben: Als Jugendlicher: Pfarrjugendführer. Mit bald 80: Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft von Senionoren-Organisationen - rastlos und lebenslang unermüdlich. Muss man sich Franz Müntefering als glücklichen Menschen vorstellen?
Franz Müntefering: Die CamusFrage! Glücklich? Das ist ein großes Wort. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich ha be immer Glück gehabt. Einen Beruf, der mich erfüllt. Menschen, die mir wichtig waren und sind. Alles in allem: So kann man sich Leben vorstellen.
Sisyphos, den Camus beschreibt, muss auf Geheiß der Götter den großen Stein auf den Berg rollen. Aber der Stein rollt wieder runter. Immer wieder. Haben Sie diesen Eindruck nicht auch, wenn Sie auf Ihr Leben – und den Zustand der Welt blicken: Das Werk ist nie getan?
Bei Camus war mir immer wichtig: Die Lust auf Leben, trotz allem. Er verspricht nicht, dass alles ein gutes Ende findet. Trotzdem sollen wir nicht aufgeben. Wir können dem Leben einen Sinn geben. Das ist seine Zuversicht, und auch meine. Die Plackerei wird nicht aufhören. Die Welt wird nie „fertig“ sein. Auch nie gut. Das empfinde ich auch heute im Alter so. Die Welt wird immer unvollständig bleiben. Aber ich habe getan, was ich konnte. Dass man Illusionen der jungen Jahre hinter sich lässt, das entlastet auch.
Sie haben es nicht so mit der Jammerei beim Thema Älterwerden. Wie fühlen Sie sich selbst? Als Angehöriger der älteren Generation? Als alt?
Ich bin alt. Aber Alter ist relativ. Ältere sind jünger als Alte. Aber auch Alte können noch älter werden. Zukunft hat man vor sich. Ich wehre mich, wenn uns Angst vor dem Alter eingeredet wird. Oder wenn man versuchen soll, ein paar Jahre jünger auszusehen. Das ist Unsinn! Es gibt viele schöne, gute und wichtige alte Sachen: Städte, Bäume und Häuser – auch Menschen, die das Alter interessant macht. Früher war einer ab Rentenalter „alt“. Das ist vorbei. Wir haben einen Zugewinn von 1518 Jahren. Menschheitsgeschichtlich gab es das noch nie. Seit vor 150 Jahren das Renteneintrittsalter festgelegt wurde, wuchs das Vorurteil, da würde das aktive Leben enden, das Wichtige wäre vorbei. Aber es gibt heute viele Menschen, die ihrem Leben auch nach der Berufsphase einen Sinn geben. Frauen mehr als Männer. Da wissen manche nicht so recht, was sie tun sollen. Sie fahren einfach den Tank leer. Eigentlich schade. Auch als alte Menschen haben wir Mitverantwortung für die Gemeinschaft, auch für das, was nach uns kommt. In unseren Seniorenorganisationen wird oft über Selbstbestimmung diskutiert. Das ist gut, heißt aber nicht: „Ich will selbstbestimmt leben. Staat mach mal!“
Früher sprach man gern von der Weisheit des Alters. Gibt es das heute noch?
Was ist Weisheit? Gewiss: Man guckt mit einer größeren Übersicht auf das Spielfeld. Aber ich habe nicht recht, weil ich 79 bin. Und der 28Jährige hat nicht deswegen Unrecht, weil er 28 ist. Die Jungen sind ungestümer und innovativer. Die Älteren abgewogener, langsamer. Von sonderlich weise bis sonderlich.
Im Alter macht man auch besondere Erfahrungen. Einerseits wird vieles weniger: Kraft, Haare, Zähne, Zukunftsoptionen. Andererseits hat man mehr: Zeit, Erfahrung, Muße. Meint Weisheit, die Balance zu finden?
Zweifellos: Erfahrung ist wichtig. Man lernt im Leben. Man lernt das Leben. Man hat vieles erlebt. Viele Menschen kennen gelernt. Man kann besser einschätzen, was da passiert. Auch mit Menschen besser umgehen. Aber man kann sich nicht auf seiner Erfahrung ausruhen. Das einzige Sichere: Die Dinge sind im Fluss. Nichts bleibt, wie es ist. Man ist als alter Mensch falsch drauf, wenn man meint: Es war so und es muss immer so bleiben. Wenn ich mir die Digitalisierung und die sozialen Netzwerke heute anschaue – ich hielte es gut ohne sie aus. Ich muss aber damit leben, mich darauf einstellen. Das Neue ist nicht zwingend gut, auch nicht zwingend schlecht. Ich muss darum kämpfen, dass da was Gutes draus wird.
Im Rückblick kann man Bilanz ziehen: Was ist, alles in allem, für Sie wichtig oder entscheidend gewesen?
Ich glaube, ich habe großes Glück gehabt, was meine Kindheit angeht. Da war zwar Krieg. Ich lebte allein mit meiner Mutter. Wir hatten Angst um meinen Vater. Aber es war eine gute Zeit, weil meine Mutter mir Sicherheit gab und die Zuversicht, dass es gut weitergehen kann. Was noch wichtig ist: Dass man immer Menschen hat, die man mag, mit denen man reden kann und leben will. Das war so und ist so bei mir. Und ich hatte das große Glück, dass ich nach den acht Jahren Schule und der Berufsausbildung den Weg in die Politik gefunden habe und die Chance hatte, dazuzulernen und aktiv zu sein. Und was mich noch heute interessiert: Wie geht das weiter in der Gesellschaft? Was muss man tun? Was kann ich tun?
Das waren jetzt Stichworte wie Dankbarkeit, Zuversicht, Gemeinschaft. Wie wichtig ist das Thema Solidarität?
Das ist sogar der eigentliche rote Faden in meinem Leben. Meine Mutter hat das Nächstenliebe genannt. Einander trauen, einander helfen und sich helfen lassen. Das ist es, was Menschen brauchen. Wozu sie aber auch bereit sein müssen. Wir sind nicht allmächtig. Wir sind alle auf andere angewiesen. Alle.
Ihre Mutter hat Ihnen als Kind glaubhaft versichert, dass Sie vor der Anwesenheit auf dieser Welt auf einem Stern waren und geholfen haben, ihn blank zu putzen, damit er leuchtet. Was wird nach der Anwesenheit auf der Welt sein? Ihre Mutter glaubte an das ewige Leben.
Sie war überzeugte Katholikin, und das war die Essenz ihres Glaubens. Ich denke: Kein Mensch weiß, wie weit das Universum in Dinge eingebunden ist, die wir nicht verstehen oder erkennen können. Viele Menschen haben sich den Himmel und das Danach immer ausgemalt wie ei ne bloße Fortsetzung dessen, was wir hier auf der Welt haben. Diesen naiven Glauben habe ich nicht. Aber ich bin ganz vorsichtig mit Antworten. Was mir manch mal durch den Kopf geht: Ich sehe einen Regenwurm. Den gibt es, der spürt etwas, er krümmt sich. Ich erkenne ihn. Kennt er mich? Sicher nicht. Aber vielleicht hat er das Gefühl, dass da noch irgendetwas ist? Ich weiß es nicht.
Aber ist da eine Hoffnung?
Auch da muss ich an meine Mutter denken. Die sagte immer: „Glaube, Hoffnung, Liebe. Das größte aber ist die Liebe.“ Sie hat mir gesagt: „Das mit dem Glauben ist eine Gnade. Das kann nicht jeder. Das tut nicht jeder. Aber wenn du es kannst, ist das gut. Bemüh dich drum.“ Hoffnung war wichtig für sie: Die Zuversicht, dass es gut weitergehen kann. Die Überzeugung, dass man dazu beitragen kann. Auch, dass es genug Menschen gibt, die das ebenso wollen. Schließlich die Liebe, das Größte. Da mit sind wir wieder bei der Nächstenliebe. Und bei der Solidarität. Das Leben lieben, aber vor allem die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit, wie sie sind. Keinem sein Menschsein absprechen. Auch nicht Verbrechern. Oder Menschen, die man nicht mag. Wissen, dass sie anders sind. Sie auch kritisieren. Sie stoppen, wo es nötig ist. Das ja. Aber wenn ich höre, wie manche Menschen über Menschen reden, bin ich entsetzt. Wenn jemand sagt: „Du gehörst auf den Mist.“ Das ist gefährlich. Und lebensfeindlich.
Zur Liebe gehört auch Liebe zum Leben, sagen Sie. Und Ihre Einstellung zum Tod?
Ich bin dagegen. Auch da stehe ich auf der Seite von Camus, der sich mit dem Tod nicht abfinden wollte und dagegen protestiert hat. Aber ich weiß auch: Am Ende wird es so sein. Das Sterben gehört zum Leben. Ich glaube nicht denen, die sagen: In 200 Jahren können wir ewig leben, wenn wir uns alle in Eis legen. Ich bin dafür, dass wir unser Leben wertschätzen. Es ist das erste Mal, nach Milliarden Jahren, die unsere Erde besteht, dass ich auf dieser Welt dabei bin. Und das einzige Mal. In ein paar Jahren werde ich nicht mehr da sein. So ist es nun mal. Ich möchte dieses Leben so lange und so gut leben, wie ich kann. Ich mag das Leben. Und ich glaube: Wer mit der richtigen Dosis Liebe zum Leben und mit Zuversicht in die letzten Runden geht, hat einen Vorteil.