Menschen und BücherAlfred Adler – Individuum und Gemeinschaftsgefühl

Er gilt als Begründer der Individualpsychologie. Oft verbinden wir mit dem Werk Alfred Adlers (1870–1937) die beiden Begriffe „Minderwertigkeitskomplex“ und „Wille zur Macht“. Doch damit verkürzen wir, was dieser große Psychologe erkannt und postuliert hat. Sein plötzlicher Tod und die Ablehnung seiner Psychologie durch die Nationalsozialisten haben dazu geführt, dass seine Ansätze im deutschsprachigen Raum lange Zeit kaum Nachfolger fanden. Ein Grund mehr, sich mit ihm zu beschäftigen.

Alfred Adler -  Individuum und Gemeinschaftsgefühl
© AF archive - Alamy Stock Photo

Kraft, die aus der Schwäche kommt

Alfred Adler war wie Sigmund Freud jüdischer Abstammung, konvertierte je- doch im Jahr 1904 zum Protestantismus. Er ging jahrelang in die Vorlesungen und Seminare von Freud und diskutierte mit ihm. Doch dann spürte er, dass das Welt- und Menschenbild von Freud für ihn zu pessimistisch war. Als Arzt erkannte er: Es sind oft die Organe, an denen ein Mensch am empfindlichsten ist, seine Schwach- stelle also, an der er leicht krank wird. Doch der Mensch hat, nach Adler, in sich die Kraft, diese Organminderwertigkeit zu kompensieren. Aus dieser Kompensation sind große Leistungen erwachsen und vor allem führt die Kompensation zur Gestaltung der Kultur.

Wege aus dem Minderwertigkeitsgefühl

Das Gleiche gilt auch für psychische Minderwertigkeitserfahrungen. Sie gehören wesentlich zum Menschen. Normalerweise sind sie der Stachel, der den Menschen da- zu führt, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Nur dort, wo der Mensch keinen geeigneten Weg zur Kompensation findet, kommt es zu einem übertriebenen Geltungs- und Machtbedürfnis. Doch der Wille zur Macht ist für Adler ein Zeichen von Krankheit. Eine Alternative dazu ist, dass der Einzelne sich fragt, was er zur Gemeinschaft beitragen kann. Das berühmte Wort John F. Kennedys, die Amerikaner sollten nicht daran denken, was das Land ihnen geben könne, sondern daran, was sie dem Land geben können, bezieht sich letztlich auf eine Aussage von Alfred Adler: Wir sollen nicht daran denken, was die Gesellschaft uns gibt, sondern was wir ihr geben können.

Lebensnah und sozial

Alfred Adler hat versucht, seine Psychologie in einer einfachen Sprache zu formulieren. Er hat sich auch besonders für arme, einkommensschwache Menschen eingesetzt und ihnen geholfen, und er hat seine Psychologie auch für die Erziehung von Kindern eingesetzt. Nicht nur we- gen seiner sozialen Ausrichtung, sondern auch wegen seines optimistischen Ansatzes war er weithin geschätzt, vor allem in den USA. Ich selber habe mich zunächst intensiv mit C.G. Jung auseinandergesetzt. Aber auch als ich Adler gelesen ha- be, spürte ich eine innere Verwandtschaft zu seinem Ansatz: Es kommt nicht darauf an, Theorien zu entwickeln, sondern Erkenntnisse in einer Sprache zu vermitteln, die die Menschen verstehen und die ihnen hilft, ihr Leben zu leben, ihre Wunden in Perlen zu verwandeln und sich für die Gemeinschaft einzusetzen.

Gemeinschaft heilt

Beeindruckend und gültig finde ich die folgende Formulierung Adlers: „Wer mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören und mit dem Herzen eines anderen fühlen kann, der zeichnet sich durch Gemeinschaftsgefühl aus.“ Wer sich für die Gemeinschaft engagiert, der erlebt die Heilung vieler Wunden oft von selbst. Gerade Adlers Betonung des Gemeinschaftsgefühls und sein Engagement für die Gemeinschaft sind Impulse, die uns heute bei dem immer stärker werdenden Individualismus gut täten.

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