Lebenskrisen - LebenschancenWenn ich mich unverstanden fühle

In Gesprächen treffe ich immer wieder auf Menschen, die erleben, dass sie von Menschen nicht verstanden werden, denen sie sich eng verbunden fühlen. Gerade, weil diese Menschen ihnen wichtig sind, leiden sie besonders darunter: Das können Geschwister sein, Eltern, der Partner oder andere.

Wenn ich mich unverstanden fühle
Auf dem Grund meiner Seele ist ein innerer Reichtum. Dort bin ich auch mit allen Menschen verbunden. Jenseits von Worten und Gedanken.© elen31 - fotolia.com

Entfremdung in der Familie

Viele treffen sich mit ihrer Familie, haben sich eigentlich darauf gefreut – und dann erleben sie das Gefühl, dass sie aneinander vorbei reden. Da hat der Bruder ganz andere Ansichten und entwertet alles, was die Schwester sagt, und macht nieder, was ihr heilig ist. Oder die ältere Schwester lehnt die jüngere Schwester ab. Sie nimmt gar nicht wahr, was ihr wichtig ist, und kann nicht verstehen, was sie innerlich bewegt. So fühlt sich die jüngere Schwester nicht wertgeschätzt, nicht verstanden. Das tut nicht nur weh. Es macht auch einsam. Manchmal fühlt sich der Sohn auch vom Vater nicht verstanden. Oder die Tochter spürt, dass die Mutter einfach nicht akzeptiert, was ihr wichtig ist oder wie sie ihr Leben lebt. Die Eltern und die erwachsenen Söhne und Töchter haben sich entfremdet. Man trifft sich noch zu gemeinsamen Familienfesten. Aber man hat sich nichts zu sagen.

Erfahrung als Außenseiter

Oft verbindet sich mit der Entfremdung in der Familie die Erfahrung, dass man sich auch in seiner Umgebung nicht verstanden fühlt. In der Firma empfi ndet man sich als Außenseiter. Das oberfl ächliche Gerede der anderen stößt einen ab. Aber wenn man zur Sprache bringt, was einen selbst bewegt, dann erlebt man nur Kopfschütteln. Oder aber die anderen lächeln sich zu, um damit auszudrücken, dass das alles Unsinn ist, was der andere oder die andere erzählt. Man wird belächelt, als ob man etwas Exotisches wäre. Wie kann man mit dieser Ausgrenzung umgehen?

Zwei Gefahren

Die Gefahr in einer solchen Situation besteht darin, dass ich mich völlig isoliere und immer mehr zurückziehe. Doch damit würde ich mich vom Leben abschneiden. Eine andere Falle wäre, dass ich mich über die anderen stelle und sie als oberflächlich, leer und banal einstufe und mich etwa als besonderen spirituellen Menschen sehe, der mit solch oberfl ächlichen Leuten einfach nicht kommunizieren kann. Auf der einen Seite besteht also die Gefahr, dass ich mich minderwertig fühle, weil ich von den anderen nicht verstanden und nicht akzeptiert werde. Die andere Gefahr ist, dass ich überheblich auf sie herabsehe. Beides ist kein Ausweg. Wie aber kann ich das vermeiden?

Schritte der Annäherung

Wichtig ist, dass ich versuche, zunächst auch mich selber in Frage zu stellen und die anderen zu verstehen. Was bewegt sie eigentlich? Warum verstehen sie mich nicht? Leben sie in einer anderen Welt? Oder kann ich das, was mich bewegt, nicht so ausdrücken, dass auch sie es verstehen? Habe ich mich vielleicht sogar verrannt? Ist das, was mich bewegt, besser und anders kommunizierbar? Oder beschäftige ich mich wirklich mit Dingen, die andere gar nicht verstehen können? Wie könnte ich das, was mich im Herzen berührt, anderen so mitteilen, dass sie es verstehen? Oder wollen sich die anderen möglicherweise nicht damit beschäftigen, weil das ihr Lebensgebäude ins Wanken brächte? Ich urteile, wenn ich so frage, nicht über die anderen, sondern versuche, sie zu verstehen.

Hilflos in der Partnerschaft

Am schmerzlichsten ist wohl die Erfahrung, wenn man sich vom eigenen Ehepartner nicht verstanden fühlt. Auch das höre ich immer wieder: Da kommt kein wirkliches Gespräch zwischen den Partnern zustande. Die Interessen sind zu verschieden. Und der Ehepartner tut das, was man über sich selbst erzählt, ab als etwas Verrücktes oder Unwichtiges. Auch da besteht die Gefahr, dass man sich auf sich selbst zurückzieht und die Kommunikation mit dem Partner abbricht. Aber auch da kann ich zuerst versuchen, den Partner zu verstehen. Anstatt von mir und meinen Gedanken und Gefühlen zu erzählen, frage ich den anderen: Was bewegt dich? Wie denkst du über dieses Thema? Oder ich kann ihn fragen: Was löst das bei dir aus, was ich von mir erzähle? Welche Gefühle kommen da in dir hoch? Und ich sollte dann nicht bewerten, wenn der andere ehrlich sagt, dass er das einfach nicht versteht, dass da das Gefühl von Hilfl osigkeit in ihm auftaucht. Natürlich kann es sein, dass der Partner einfach nicht über die Themen sprechen will, die mich bewegen, dass er sich unsicher fühlt und nicht kompetent in dem, was mich bewegt. Oder aber er möchte nicht gestört werden in seinen eigenen Gedanken, in seiner eigenen Lebensphilosophie.

Klärung und Verwandlung

Es kann sein, dass der Versuch scheitert, den anderen zu verstehen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Dann geht es darum, mir klarer zu werden über mich selbst und das, was mich bewegt. Ich könnte meine Gedanken aufschreiben. Oft fi nde ich im Schreiben Worte, die klarer ausdrücken, was mich wirklich bewegt. Vielleicht fi nde ich im Schreiben eine Sprache, mit der ich den anderen wieder erreichen kann. Wenn aber selbst das nicht zu einem neuen Verstandenwerden führt, dann wäre der nächste Schritt: Ich gehe in die Stille und horche in mich hinein. Ich stehe zu dem, was mich bewegt. In meiner Seele ist ein innerer Reichtum, den ich zwar nicht mit anderen teilen kann, der aber dennoch in mir ist. Ich kann diesen inneren Reichtum dankbar anschauen. Und ich kann mein Unverstandensein durch andere verwandeln in ein Verstehen meiner selbst. Wenn ich mich selbst verstehe, kann ich zu mir stehen und für mich einstehen, auch wenn ich von außen nicht verstanden werde.

Mit dem Alleinsein umgehen

Das Unverstandensein führt oft zum Gefühl des Alleinseins. Dann wäre es meine Aufgabe, das Alleinsein in ein All-Eins- Sein zu verwandeln. Ich gehe durch die Trauer über das Alleinsein in den Grund meiner Seele. Dort im Grund meiner Seele fühle ich mich eins mit allen Menschen. Ich fühle mich eins mit den Philosophen und Theologen, mit den Dichtern und Schriftstellern, die sich in ihrem Denken oft genug auch nicht verstanden fühlten, die aber das, was sie bewegt hat, anderen mitgeteilt und dadurch in den Lesern und Leserinnen etwas in Bewegung gebracht haben. Ich stelle mich dabei nicht über die anderen. Ich fühle mich mit denen eins, die mich nicht verstehen. Denn ich weiß: Jenseits der Worte und Gedanken gibt es einen Grund, in dem wir alle miteinander verbunden sind. Es ist der Grund, von dem Paulus in seiner berühmten Areopagrede vor den griechischen Philosophen gesagt hat: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17,28)  

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