EmotionenInnere Tiefe statt Grandiosität

Ein Gefühl, das ich heute bei vielen narzisstischen Menschen beobachte, ist das Gefühl der Grandiosität: Sie müssen sich immer als etwas Besonderes fühlen. Aber meist geschieht dies auf Kosten anderer. Und es geschieht zu Lasten eines realitätsgerechten Lebens. Was steckt hinter dieser Haltung? Und wie können wir die dahinter liegende Sehnsucht produktiv machen?

Innere Tiefe statt Grandiosität
Nicht vor der Banalität des Lebens fliehen in grandiose Ideen, sondern das Besondere in jedem Menschen sehen. Das gibt meinem Leben Tiefe.© lassedesignen - fotolia.com

Flucht vor der Realität

Das Wort „grandios“ kommt von dem italienischen Wort „grandioso“, das „großartig, überwältigend“ bedeutet. Grandiosität ist also das Gefühl von etwas Großem und Großartigem. Die Psychologie hat das Gefühl der Grandiosität dagegen als Kom pensation verstanden: Ich nehme nicht einfach das Große und Großartige des Lebens wahr, sondern ich brauche für mich selber immer großartige Gefühle, weil mein Leben so ganz anders ist. Mein Leben ist kleinkariert und banal. Das halte ich nicht aus. Daher flüchte ich in die Grandiosität. Diese Art von Grandiosität, die die Psychologie als Realitätsverweigerung beschreibt, tut uns nicht gut. Sie ist eine Flucht vor der eigenen Wahrheit. Manche fliehen in die Grandiosität, um der Banalität des Alltags und der Realität des eigenen Lebens zu entfliehen. Gerade die Spiritualität bietet sich dafür an, als Bühne, auf der man sich inszeniert oder als Sprungbrett, von dem aus man abhebt. Man fühlt sich erst einmal gut in seiner Grandiosität, und man erhebt sich in diesem Gefühl über die anderen. Man kann auf den Rest der Welt herabschauen in der Empfindung: „Die anderen leben nur an der Oberfläche, sie sind banal. Ich aber lebe bewusst, ich habe eine tiefe Spiritualität.“ Diese erlaubt mir, mich über die anderen zu stellen und auf sie hinunterzusehen wie auf Menschen, die auf einer niedrigen Ebene ihres Menschseins leben.

Absturzgefahr

Es gibt viele Formen, in die Grandiosität zu fliehen. Da ist etwa eine Frau, die Beziehungsprobleme hat. Sie stellt sich ihrer Problematik nicht, sondern flieht in die Grandiosität, in dem sie sich eins mit dem Göttlichen fühlt. Sie fühlt sich schon verschmolzen mit dem Göttlichen und braucht gar keine Beziehung mehr. Damit überspringt sie aber ihre tatsächliche Sehnsucht nach Nähe und Beziehung. Und irgendwann wird sie diese Sehnsucht wieder einholen. Irgendwann wird sie mit ihrem Bedürfnis nach Nähe konfrontiert. Und das wird schmerzlich für sie werden. Sie ist im Irrtum, wenn sie meint, nur die banalen Leute bräuchten noch Beziehung und sie selber wäre schon so weit auf ihrem spirituellen Weg, dass sie solche menschlichen Bedürfnisse gar nicht mehr habe. Ein anderes Beispiel: Ein Arzt erzählt von seiner Frau, die in eine esoterische Welt versunken ist und nur noch mit den Engeln spricht. Das ist für sie der Weg, sich den Auseinandersetzungen und Gesprächen mit ihrem Mann zu entziehen. Es wäre demnach viel zu banal, mit ihrem Mann zu sprechen. Engel sagen ihr genau, was sie tun soll. Ihr Mann sei auf einer niedrigeren spirituellen Stufe. Mit ihm zu reden, wäre unter ihrem spirituellen Niveau. Auf diese Weise entzieht man sich der Realität und macht sich unangreifbar. Aber man versäumt, wenn man so agiert, auch das wirkliche Leben. Man hebt sich auf eine Stufe empor, die einem nicht zukommt. Und irgendwann wird man jählings abstürzen von der Höhe, auf die man sich verstiegen hat.

Sehnsucht nach Einmaligkeit

Welche Sehnsucht steckt im Bedürfnis nach Grandiosität? Und: Wie kann ich diese Sehnsucht so verwandeln, dass sie nicht mehr zur Flucht, sondern zu einem erfüllteren Leben führt? In jedem Gefühl stecken ja ein Stück Wahrheit und eine berechtigte Sehnsucht. In der Grandiosität steckt die Ahnung, dass jeder Mensch einmalig und einzigartig ist. Jeder Mensch ist ein einmaliges Bild Gottes. Und insofern ist er etwas Besonderes. Aber dieses Besondere geht nicht auf Kosten der anderen. Es sondert ihn nicht ab von anderen Menschen. Denn weil ich etwas Besonderes bin, achte ich gerade auch die Besonderheit des anderen, seine unantastbare Würde, das einzigartige Bild, das Gott sich von diesem Menschen gemacht hat.

Goldglanz der Seele

Eine andere Sehnsucht, die im Gefühl der Grandiosität steckt, ist die Sehnsucht, sich der Oberflächlichkeit und Banalität des Lebens zu entziehen und das Geheimnis der eigenen Person und des Lebens zu würdigen. In jedem von uns steckt die Ahnung, dass es mehr geben muss als die äußeren Fakten. In jeder Musik, in jedem Gedicht klingt etwas auf von der Grandiosität des Menschen. Das ist eine gesunde Wahrnehmung von Besonderheit, Größe und Bedeutung. Ich fliehe nicht vor der Realität meines Lebens, sondern ich nehme mitten in der Alltäglichkeit und Banalität meines Lebens das Besondere meiner menschlichen Existenz wahr. Ich gehe nicht auf in äußerer Pflichterfüllung. Meine Seele hat einen Goldglanz. Ich habe eine göttliche Würde. Aber diese göttliche Würde muss sich gerade in der Alltäglichkeit zeigen. Ich fliehe nicht von den Unbilden der Welt in grandiose Ideen. Ich erweitere vielmehr meine Sichtweise. Ich öffne meine Augen für das Große und Besondere, das jeder Mensch ist. Das gibt meinem Leben eine andere Tiefe. Ich stel le mich den täglichen Konflikten. Aber ich weiß zugleich, dass sie nicht alles sind, dass es da noch eine andere Dimension in meinem Leben gibt. Das relativiert die Konflikte und alltäglichen Probleme. Es schenkt mir mitten in der Enge meines Alltags eine innere Weite und Freiheit und Größe.

Der brennende Dornbusch

Ein schönes biblisches Bild, das uns bei der Verwandlung der Grandiosität helfen kann, ist das Bild des brennenden Dornbuschs. Der Dornbusch ist ein Bild für das Wertlose, Übersehene, Vertrocknete, Durchschnittliche in uns. Und doch erscheint Gottes Herrlichkeit in diesem Strauch. Er brennt, ohne zu verbrennen. Das ist auch ein Bild für mich: Ich bleibe Dornbusch, ich bleibe dieser durchschnittliche Mensch. Und doch bin ich der Ort der Gegenwart Gottes. Gottes Licht will in mir aufleuchten. Der Dornbusch zeigt mir meine wahre Größe. Doch zugleich verweist er mich auf meine Durchschnittlichkeit. In dieser Spannung leben wir alle: Wir sind Söhne und Töchter Gottes und daher etwas Besonderes. Gott wohnt in uns. Das ist unsere Würde. Und zugleich bleiben wir ganz Mensch mit unseren Fehlern und Schwächen.

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