Begegnungen. Peter Gross im Gespräch„Ich werde sterben“

Seine Frau starb in diesem Jahr nach langer Krankheit. „Ich werde sterben“, hatte sie zwei Monate vor ihrem Tod zu ihm gesagt. Seither bewegt Peter Gross das Thema intensiv: Was bedeutet der Tod für uns? Darüber sprach er mit Rudolf Walter, dem Herausgeber von einfach leben.

Peter Gross
Peter Gross, emeritierter Professor für Soziologie, Autor St. Gallen/Schweiz.© Privat

einfach leben: „Ich werde sterben“ – das Selbstverständlichste der Welt: Natürlich werde ich sterben, wie alle anderen auch. Aber auch das Schrecklichste, wenn ein geliebter Mensch einem das sagt.
Peter Gross: Vorab zunächst einmal: Vor allem der schnelle Tod ist das große Problem. Für die, die gehen müssen. Und für die Zurückbleibenden. Lange Zeit war in unserer westlichen Gesellschaft der jähe, schnelle Tod die Regel: Krieg, Pest und Cholera. Auch viele der Jenseitsüberlegungen sind auf dem Hintergrund entstanden, dass diese Welt „nicht genug“ ist. Die moderne Welt macht das Sterben insgesamt erträglicher, weil man langsam Abschied nehmen kann, auch bei Krankheiten wie Demenz und Alzheimer. Montaigne hat einmal gesagt: Wenn man alt wird, fällt das Aufstehen schwerer, aber das Sterben leichter. Eben las ich in einer Zeitungsanzeige die Klage der Kinder, deren Eltern verunglückt waren: „Wir konnten nicht einmal Abschied nehmen.“ Heute ist es in aller Regel möglich, über einen längere Zeitraum Abschied zu nehmen, wenn man spürt, dass das Ende kommt.

Aber Sie sagen doch selber: „Der Tod ist der Todfeind“.
Dass die Wirklichkeit „Zähne“ hat, dass sie uns gewaltsam entreißt, was wir lieben, ist natürlich auch eine urmenschliche Erfahrung. Aber der Tod muss nicht in jedem Fall der „Todfeind“ sein. „Liebe Deine Feinde“, das sagt das Christentum ja auch. Und für den, der lange lebt, kann der Tod auch eine freundliche Gestalt werden. In meinem Alter bin ich viel auf Beerdigungen, und erlebe immer wieder Pfarrer, die sagen: „Er ist erlöst. Er ist gerne gestorben. Er konnte gehen, weil er alles gut gerichtet hat.“

Aber es gibt auch die Todesanzeigen, die von einem 8o-Jährigen sagen: Unser geliebter Vater, unsere Mutter ist viel zu früh und völlig unerwartet gegangen …
Aber die meisten Menschen, die hierzulande sterben, können sich auf den Tod vorbereiten. Kohelet sagt: „Es gibt eine Zeit der Geburt und eine Zeit des Sterbens.“ Wir haben heute die paradoxe Situation, dass man möglichst lange leben und möglichst schnell sterben will. Wenn in der Todesanzeige steht: „Plötzlich und unerwartet“, spürt man den Schrecken. Wenn da aber immer wieder auch steht „friedlich entschlafen“ – dann ist das jedenfalls etwas, was es in vormodernen Gesellschaften ganz selten gab.

Der Schmerz der Zurückbleibenden ist nicht an die Lebensjahre gebunden.
Meine Mutter ist 99 geworden. Sie war 10 Jahre im Altersheim und es war für uns alle eine gute Zeit, um über vieles zu sprechen, manches in Ordnung zu bringen, Versöhnung zu üben. Was mir aber eine ganz wichtige Erfahrung ist: Selbst das Sterben von geliebten Menschen hinterlässt noch ein Geschenk, ein zweifaches Geschenk: Da ist die Sehnsucht nach dem, was nicht mehr ist, und nach dem, was noch hätte kommen können. Aber auch das: das innige Andenken, die Erinnerung. Die Abwesenheit einer geliebten Person verstärkt in der Sehnsucht noch ihre Anwesenheit.

Saint-Exupery hat ja gesagt: In der Sehnsucht nach Liebe ist schon Liebe ...
Das trifft es. Auch im Schmerz der Trauer ist Liebe. Trauer und Sehnsucht machen den Abwesenden gegenwärtig, holen ihn in mein Leben, bestärken die Liebe. Und was den Tod meiner geliebten Frau angeht: Ich war und bin immer noch erstaunt, dass jemand sogar stärker gegenwärtig sein kann, wenn er abwesend ist, als wenn er anwesend ist. Sie ist quasi da und bei mir, wo immer ich bin. Auch junge Paare, die sich lieben, können diese Erfahrung machen: Wenn einer da ist, spüren wir seine Präsenz möglicherweise nicht so stark, als wenn er abwesend ist. Übrigens: Für die Menschen aller Zeiten war das Abwesende – die Welt der Wünsche und Möglichkeiten, der Gedanken – geheimnisvoller und wichtiger als das Anwesende.

Würden Sie dem Satz zustimmen, dass die Liebe die Grenze des Todes akzeptiert, sie aber auch überschreitet?
Voll! Wenn ich mir vorstelle, selber rasch gestorben zu sein, wäre das vielleicht eine andere Sache. Aber jetzt habe ich endlos viel Zeit, um über meine geliebte Frau nachzudenken, die nicht mehr da ist. Das ist das Geschenk des Sterbens für die anderen: Wer stirbt, hinterlässt nicht nur eine Lücke, sondern auch ein Vermächtnis der Erinnerung und des Trauerns.

Aber festzuhalten bleibt: Das ist nicht nur schön, sondern auch schmerzlich.
Es stimmt: Wer stirbt, stirbt einmal. Wer zurückbleibt, stirbt tausend Mal. Allein zurückbleiben, das ist Schmerz. Aber zur Liebe gehört der Schmerz der nie vollständigen Einheit immer auch dazu. Jede Abwesenheit jedes geliebten Menschen ist ein Geschwister des Sterbens. Auch wenn jemand nur für ein paar Wochen weggeht, auch wenn ich weiß, dass er wiederkommt …

Die große Abwesenheit: der Tod eines Menschen – bleibt da nur die Erinnerung? Oder gibt es auch Hoffnung?
Es gibt schon in der Bibel die Spannung zwischen Kohelet und Paulus über das Jenseits und das Diesseits. Ich selber würde, unter der Voraussetzung, dass man lange lebt und Zeit hat, zu sterben, wohl eher Kohelet zuneigen, der auf das Jenseits verzichten kann. In einer Gesellschaft, in der der jähe Tod das Normale ist, würde aber auch ich eher der Jenseitsvorstellung des Paulus folgen wollen, um das Leben zu vervollständigen und es ganz zu machen.

Ihre Frau hat für ihre Todesanzeige einen Text von Angelus Silesius gewählt: „Wenn ich in Gott vergeh, so komm ich wieder hin, wo ich in Ewigkeit vor mir gewesen bin“. Ein Hoffnungstext?
Jedenfalls ein schöner Satz, dunkel und dennoch klar! Er hat für mich etwas Mystisches und etwas Ökologisches. Es ist für mich der Kreislauf des Lebens, das ewige Wiederkommen und Bleiben.

Die religiöse Sprache spricht davon, dass man sich im Tod in Gott hinein ergibt, im letzten Abgrund des Lebens Erfüllung findet.
Als Hoffnung kann ich das teilen. Die Frage ist nur, wie wir heute von Gott und vom Jenseits sprechen. Wenn Gott als das ganz Andere verstanden werden kann, kann man auch verschiedene Bedeutungen in dieses Wort einschreiben.

Gott verstanden als umfassende Liebe, wäre das in diesem Sinne? „Stark wie der Tod ist die Liebe“, heißt es im Hohenlied. Ist auch das ein Hoffnungstext?
Die Begleiterin meiner Frau im Sterben, auf der Palliativstation, hat sie auf diesen Text aufmerksam gemacht, und sie konnte viel damit anfangen.

Vielleicht wäre es gut für unser Leben hier und jetzt, wenn wir mehr über die Sterblichkeit als über die Ewigkeit und unser ewiges Leben nachdächten? Ist Todesvergessenheit nicht im Letzten Lebensvergessenheit?
Ein langes Leben eröffnet uns immerhin die Möglichkeit, lange darüber nachzu denken, was diese Endlichkeit des Lebens bedeutet. Und welche Konsequenzen das hat.

Das sollte man allerdings nicht verschieben auf die Zeit nach der Pensionierung.
Schopenhauer hat gesagt, sinngemäß: 40 Jahre leben wir und 30 Jahre kommentieren wir das Leben. Wer allerdings im Alter von 40 Jahren stirbt, dem fehlt die Kommentarphase. Heute biegen sich die Buchregale unter Publikationen zu den Themen Sterben, Palliativpflege, Hospiz. Wir haben jedenfalls die Möglichkeit, ja die Pflicht, über diese Themen nachzudenken.

Aber doch nicht erst mit 70 oder 80! Natürlich auch nicht ununterbrochen. Sei es ein Verkehrsunfall oder die Diagnose Krebs: Der Tod trifft immer unangemeldet, und die Tür ist immer nur angelehnt. Auch ein junger Mensch kann sich bewusst werden: „Ich werde sterben“.
Ja, das gilt für alle. Und dieser Satz kann wie ein Faustschlag wirken. Wie ein Erwachen, das einen ins Jetzt bringt. Leben ist jetzt! Vielleicht wird unsere Gesellschaft über die Langlebigkeit generell ruhiger und gemäßigter. Und vielleicht wird das eigene Leben auch bei jüngeren Menschen bewusster, wesentlicher, gelassener und ruhiger, wenn sie darüber nachdenken, dass sie sterblich sind. Auch das wäre ein Geschenk des Todes – nicht nur für den einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft, auf die es zurückwirkt.

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