Überlieferung der Antike in das MittelalterWie die Heilkunst in die Klöster kam

Klostermedizin ist keine Therapie- richtung. Sondern eine Epoche der europäischen Medizingeschichte.

So entstand die Klostermedizin

In einer Zeitspanne, die etwa vom 8. bis ins 12. Jahrhundert dauerte, lag die medizinische Versorgung gänzlich in den Händen der Klöster, die zudem die Schriften aus der Antike bewahrten und darauf aufbauende neue Werke er-stellten. Ihren historischen Hintergrund hat die Klostermedizin im Zusammen-bruch des weströmischen Reiches und dem damit verbundenen Verschwinden der Medizin des Altertums, die maßgeblich von griechischen Ärzten gebildet wurde.
Schon Benedikt von Nursia erkannte im 6. Jahrhundert in seiner Ordensregel (Regula Benedicti) die Notwendigkeit der Krankenpflege seitens der Klöster. Das bekannte „Ora et labora“, das so wörtlich bei Benedikt nicht vorkommt und eher eine Erfindung aus dem Spät-mittelalter ist, sollte besser heißen: „Ora et labora et lege.“ („Bete und arbeite und lies.“) Denn Benedikt sah das Lesen (und somit auch das Abschreiben) von Büchern als eine der wichtigsten Aufgaben im Kloster an. In einer von Völkerwanderung, Krieg und Seuchen bestimmten Zeit stiegen die Klöster so zu Zentren des Schrifttums und der Kultur auf. Die Tradition und das Wissen der antiken Medizin wurden so in eine neue Zeit gerettet.
Bestärkt wurde die medizinische Stellung der Nonnen und Mönche noch einmal durch Karl den Großen, der 812 eine Verordnung (Capitulare de vil lis) erließ, die Klöster zum Anbau von Heilpflanzen verpflichtete. Um 820 entstand hieraus der St. Galler Klosterplan, eine Blaupause für alle europäischen Klöster der Epoche. In ihm enthalten sind neben einem Hospital auch eine Apotheke (im Sinne von Lagerraum für Arzneidrogen) und ein Kräutergarten.

Das Lorscher Arzneibuch

Ebenfalls in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstand mit dem Gartengedicht „Hortulus“ von Walahfrid Strabo eines der wichtigsten Werke der frühen Klostermedizin. In ihm beschrieben sind 24 Heilpflanzen, die sich weitestgehend mit dem im St. Galler Klosterplan eingetragenen Kräuter-garten decken. Etwas früher bereits wurde das Lorscher Arzneibuch geschrieben. Diese älteste erhaltene pharmazeutisch-medizinische Handschrift aus dem deutschen Sprachraum enthält vornehmlich Rezepte, die hinsichtlich ihrer Komplexität eine sehr große Bandbreite, von einfachen Anweisungen bis hin zu hochkomplexen Mixturen, ausfüllen und auch zahlreiche Zu-taten aus dem Orient verwenden.

Aus antiken Quellen lernen

Wie nahezu alle Werke der Klostermedizin bezieht sich das Lorscher Arzneibuch auch auf antike Quellen wie Pedanios Dioscurides, Galenos von Pergamon und Plinius dem Älteren, die bis in die frühe Neuzeit hinein als wichtigste Werke der europäischen Medizin galten. Diese Schriften lagen den Nonnen und Mönchen zum Teil allerdings nur bruchstückhaft vor. Viele Texte waren nie ins Lateinische übersetzt worden und kaum jemand in Westeuropa konnte im Mittelalter noch Griechisch lesen und schreiben. Erst der aus Tunesien stammende Constantinus Africanus übersetzte im 11. Jahrhundert einige wichtige Werke von Hippokrates und Galenos sowie arabische Schriften ins Lateinische und begründete somit den hervorragenden Ruf der Schule von Salerno.
Etwa zur selben Zeit verfasste Odo Magdunensis das von Strabos „Hortulus“ inspirierte Lehrgedicht „Macer floridus“, in dem 77 Pflanzen beschrieben werden und das sich in seiner zweiten Fassung bereits auf Constantinus Africanus bezieht. Das fälschlicherweise dem antiken Autor Aemilius Macer aus Verona zugeschriebene Werk (daher der Name) avancierte zum beliebtesten Kräuterbuch des gesamten Mittelalters. Ihren Höhepunkt erreichte die Klostermedizin im 12. Jahrhundert mit Hildegard von Bingen. Sie war eine der letzten Autorinnen, die sich in ihren Schriften noch nicht auf die aufkeimen-de akademische Medizin bezogen, ob-wohl auch bei ihr schon Einflüsse aus Salerno zu erkennen sind. Hildegard schuf für ihre Zeit überraschend eigen-ständige und umfassende Werke. Heute gängige Heilpflanzen wie Ringelblume oder Mariendistel finden sich erstmals bei ihr.

Klosterapotheken und Kräuterheilkunde

Mit dem Aufkommen der universitären Ärzteausbildung verloren die Klöster zunehmend ihre medizinische Stellung und konzentrierten sich nach der von Kaiser Friedrich II. angeordneten Aufteilung der Berufe des Arztes und des Apothekers (Konstitutionen von Melfi, um 1240) mehr und mehr auf den Be-reich der Pharmazie. Diese Klosterapotheken hatten vielerorts noch bis ins 19. Jahrhundert Bestand und verschwanden erst mit der Säkularisation. Die Klostermedizin basierte ganz vor-wiegend auf der Kräuterheilkunde, die mit dem Aufkommen von pharmazeutisch-chemischen Präparaten zunehmend an Bedeutung verlor. Viel altes Wissen geriet dadurch in Vergessenheit. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden wichtige Werke der Klostermedizin erstmals systematisch wissenschaftlich untersucht. So wurde das Lorscher Arzneibuch erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg übersetzt und medizinhistorisch ausgewertet. Nicht zuletzt aus dieser Arbeit heraus bildete sich die Forschergruppe Klostermedizin, die im Jahr 2000 die erste deutsche Übersetzung des „Macer floridus“ vorlegte. Viele medizinische Schriften des Mittelalters sind jedoch bis heute nicht erschlossen.

Bewährte Wirkstoffe – bis heute

Die Analyse der Inhaltsstoffe von Arzneipflanzen sowie klinische Studien zu ihrer Wirksamkeit haben gezeigt, dass nicht wenige Anwendungen der Klostermedizin durchaus sinnvoll sind.
So gibt es bei zahlreichen Erkrankungen, etwa bei Entzündungen der Atemwege, bis heute keine synthetischen Mittel, die bewährte pflanzliche Zubereitungen übertreffen. Gerade bei Erkältungen kann durch die Verwendung pflanzlicher Mittel mit Thymian, Salbei, Süßholz oder Kapuzinerkresse der Einsatz von Antibiotika vermieden und damit der immer stärker werdenden Resistenz von Viren begegnet werden. Interessanterweise beschreibt bereits das Lorscher Arzneibuch eine Wundsalbe aus Käse, Honig und etwas Schafdung, die eine dem Penicillin vergleichbare Wirkung entfaltet haben könnte. Der genaue Wirkmechanismus war im Mittelalter jedoch wahrscheinlich nicht bekannt. Bockshornklee wurde schon in der Antike gegen Diabetes verwendet und für diese Indikation erst in jüngster Zeit wiederentdeckt. Dies ist ein Indikator dafür, dass in den noch unerschlossenen Schriften weiteres Potential für die moderne Arzneipflanzenforschung verborgen liegt.

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