Psalm 15 – Wer wird wohnen auf Deinem heiligen Berg?Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Psalm 15 entwirft - oszillierend zwischen Gebet und Meditation - ein Gegenmodell zum vorausgegangenen Psalm 13. Der Fokus liegt nicht auf denen, "die Böses tun", sondern es wird das Konzept eines guten und gelingenden Lebens in der Gegenwart Gottes entworfen. Ein Konzept, das christliche Leser immer auch im Licht der Jesus-Geschichte gedeutet haben.

Bibel
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Der Psalm besteht aus zwei Teilen: einer Doppelfrage in Vers 1 und der zugehörigen Antwort in den Versen 2–5. In beiden Teilen kommt je einmal der Gottesname vor; im ersten Teil zu Beginn, im zweiten Teil in der Mitte:

1  Ein Instrumentallied, für David.
  JHWH, wer wird Gast sein in deinem Zelt?
  Wer wird wohnen auf deinem heiligen Berg?
2  Der makellos wandelt
  und der Gerechtigkeit übt
  und der von Herzen die Wahrheit redet.
3      Mit seiner Zunge hat er nicht verleumdet,
  nicht hat er getan seinem Nächsten Böses,
  und Schande hat er nicht gebracht über seinen Nachbarn.
4a  Verachtet ist in seinen Augen der Verworfene,
  doch die JHWH-Fürchtenden ehrt er.
4b  Hat er geschworen zum [eigenen] Schaden, wird er es nicht ändern.
5a  Sein Geld hat er nicht gegen Zins gegeben,
  und Bestechung gegen den Schuldlosen hat er nicht angenommen.
5b  Wer so tut, wird nicht wanken in Ewigkeit.

Die Doppelfrage zu Beginn knüpft an die Schlussfrage des vorangehenden Psalms an: "Wer bringt vom Zion her Rettung für Israel? (Ps 14,7) → "Wer wird Gast sein in deinem Zelt? Wer wird wohnen auf deinem heiligen Berg?" Psalm 15 entwirft mit dem, "der Gerechtigkeit tut" (Ps 15,2), ein Gegenmodell zu denen, "die Böses tun", aus dem vorangehenden Psalm (Ps 14,4). Der Dichter richtet seine Frage an den HERRN, gibt dann aber selbst die Antwort. Der Psalm oszilliert zwischen Gebet und Meditation, zwischen einem Sprechen zu JHWH (V. 1) und über ihn (V. 4). Die beiden Fragen drücken mit verschiedenen Worten im Grunde dasselbe aus. Möglicherweise liegt in der zweiten Frage eine Steigerung vor: Geht es in der ersten Frage um einen vorübergehenden ("Gast sein"), so in der zweiten um einen bleibenden Aufenthalt ("wohnen") "in deinem Zelt […], auf deinem heiligen Berg".

Das Zelt der Begegnung

Das Zelt erinnert an das "Zelt der Begegnung" aus der Zeit der Wüstenwanderung Israels. Es handelt sich um ein tragbares Heiligtum, welches das Volk am Fuße des Gottesberges auf ausdrückliche Anweisung JHWHs baute (Ex 25–40). Im Hintergrund steht die Frage, wie die einmalige Begegnung mit JHWH am Sinai zu einer bleibenden Gemeinschaft führen kann. Das Volk kann auf Dauer nicht am Gottesberg in der Wüste verweilen, wenn es das Land der Verheißung erreichen will. Wenn Gott auf diesem Weg mitgehen soll, muss ihm ein Raum bereitet werden. Ein solcher Raum der Gegenwart Gottes ist das Heiligtum. Deshalb gibt JHWH, nachdem er die Zehn Gebote und die sich daran anschließenden Gesetze erlassen und auf deren Grundlage einen Bund mit dem Volk geschlossen hat (Ex 24), die Anweisung: "Sie sollen mir ein Heiligtum machen! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen" (Ex 25,8). Der HERR gibt Mose genaue Anweisungen zum Bau dieses Heiligtums und zur liturgischen Ordnung. Nach dem dramatischen Sündenfall mit der Errichtung des Goldenen Kalbes und der Vergebung der Schuld (Ex 32–34) baut das Volk nach der von Mose empfangenen Anweisung das tragbare Heiligtum (Ex 35–40). Es wird in Ex 40,2 "Wohnung des Offenbarungszeltes" genannt, wörtlich: Wohnung des Zeltes der Begegnung. Diese stellt das Vorbild des später von Salomo erbauten Tempels dar.

Kein Asyl im Zelt JHWHs

Die Begriffe Gast sein, wohnen, Zelt, heiliger Berg bewegen sich im Spektrum konkreter, metonymischer und metaphorischer Ausdrucksweise. Als Psalm Davids und im Kontext des Abschalom-Midrasch (auch hier) gelesen, ist mit dem Zelt in einem konkreten Sinn jenes Zelt gemeint, das David errichten ließ, um darin die Bundeslade aufzustellen, die er nach der Einnahme der Stadt in einer feierlichen Prozession nach Jerusalem überführen ließ (2 Sam 6,17). In dieses Zelt JHWHs war der Heerführer Joab nach dem Tode Davids geflohen, um "an den Hörnern des Altares" vor der Verfolgung durch Salomo Asyl in Anspruch zu nehmen. Doch da Joab unschuldiges Blut vergossen hat, nimmt er zu Unrecht das Asyl an heiliger Stätte in Anspruch; er darf in diesem Zelt nicht weilen und wird im Auftrag Salomos getötet (1 Kön 2,28–35). Damit erfüllt dieser einen letzten Wunsch Davids und löst ein Problem, mit dem sein Vater zeit seines Lebens nicht fertig geworden war (1 Kön 2,5f).

Tempelmetaphorik

Die Ausdrücke können jedoch auch in einem metonymischen und metaphorischen Sinn verstanden werden: "Gast sein in Deinem Zelt und wohnen auf Deinem heiligen Berg" meint, so verstanden, ein Leben in der Schutz und Sicherheit gewährenden Gegenwart Gottes. "Im Hause des HERRN wohnen" (Ps 23,6) ist dann nicht in einem wörtlichen Sinn als ein Wohnen im Tempel zu verstehen, sondern in einem übertragenen Sinn als ein Leben in der Nähe Gottes. Schon Ps 5,5 hatte sehr offen formuliert: "Nicht wird ein Böser dein Gast sein". In ähnlicher Weise können die Wallfahrtspsalmen (Ps 120–134) sowohl in einem wörtlichen als auch in einem metaphorischen Sinn verstanden werden: wörtlich als ein Hinaufziehen zum Tempel nach Jerusalem und metaphorisch als ein Aufstieg des Geistes zu Gott, ein "ascensus in corde", ein "Aufstieg im Herzen" (Augustinus). Wenn JHWH im Buch des Propheten Ezechiel sagt, dass er dem im Exil lebenden Haus Israel "ein wenig zum Heiligtum geworden sei" (Ez 11,16), dann ist das Wort "Heiligtum" hier eine Metapher für die Gegenwart des HERRN, die auch denen (ein wenig) zuteil wird, die fern von Jerusalem und seinem heiligen Berg in der Fremde unter den Völkern leben müssen. Der folgende Psalm 16 wird die in Psalm 15 bereits angelegte metaphorische Bedeutung weiter entfalten.

Ein makelloser Lebenswandel

Die Doppelfrage in der ersten Strophe wird in der zweiten Strophe beantwortet (V. 2–5). Die Antwort ist kunstvoll gestaltet:

2     Drei Partizipien
3          Dreimal "nicht"
4a           Positive Aussage: JHWH
4b.5a  Dreimal "nicht"
5b    Ein Partizip – siebtes "nicht"

Der äußere Rahmen gibt mit positiven Partizipialaussagen eine grundsätzliche Antwort: "wandelnd", "übend", "redend" (V. 2) und "tuend" (V. 5b). Die Redeform lässt an die Tugendethik denken, der es nicht in erster Linie um einzelne Handlungen, sondern zunächst um eine Haltung geht, der die einzelnen Handlungen entspringen. Der innere Rahmen nennt zweimal je drei negierte Handlungen im Perfekt (V. 3 / V.4b.5a). Im Zentrum steht eine positive Aussage in Verbindung mit dem Gottesnamen.

Zunächst wird in einem sehr grundsätzlichen Sinn ein tadelloser Lebenswandel als Bedingung für das Wohnen auf dem heiligen Berg genannt: "der makellos (integer, tadellos) wandelt". Der adverbielle Akkusativ tāmīm (sine macula) findet sich in Verbindung mit dem Verb hālak "gehen, wandeln" noch an zwei weiteren markanten Stellen des Alten Testaments: Noach wird in Gen 6,9 beschrieben als ein "gerechter Mann, vollkommen (tāmīm) unter seinen Geschlechtern, mit Gott wandelnd"; in Gen 17,1 fordert Gott Abraham auf: "Geh vor mir und sei vollkommen (tāmīm)". Der makellose Lebenswandel konkretisiert sich in gerechtem Handeln ("der Gerechtigkeit übt") und wahrer Rede ("der von Herzen die Wahrheit sagt").

Im zweiten Teil der Antwort werden nun sechs konkrete Taten genannt, die derjenige, der auf dem heiligen Berg wohnen wird, nicht begangen hat. Es fällt auf, dass es ausschließlich um Taten gegenüber dem Nächsten geht: "Mit seiner Zunge hat er nicht verleumdet, nicht hat er getan seinem Nächsten Böses, und Schande hat er nicht gebracht über seinen Nachbarn." Und die zweite Dreierreihe: "Hat er geschworen zum [eigenen] Schaden, wird er es nicht ändern (vgl. Lev 27,10). Sein Geld hat er nicht gegen Zins gegeben (Ex 22,24; Dtn 23,20f; Lev 25,37), und Bestechung gegen den Schuldlosen hat er nicht angenommen" (Ex 23,8; 16,19). Es handelt sich um Gebote der Tora. Mit dem Zins ist der Wucherzins gemeint, der die Not eines anderen durch Gewährung eines lebensnotwendigen Konsumkredits auszunutzen versucht.

JHWH – die integrierende Mitte

In der Mitte zwischen den beiden verneinten Dreierreihen steht die positive Aussage: "Verachtet ist in seinen Augen der Verworfene, doch die JHWH-Fürchtenden ehrt er" (V. 4a). Hier kommt das die einzelnen Handlungen und Haltungen zentrierende Gottesverhältnis in den Blick. Maßgeblich für das Urteil über das Verhalten eines Menschen ist der Maßstab Gottes. Mit dem Verworfenen dürfte der von JHWH Verworfene gemeint sein. Dieser verdient auch von dem, der bei JHWH Wohnung nehmen will, keine Wertschätzung.

V. 5b schließt mit einer Partizipialaussage den Rahmen (V. 2) um die konkreten Handlungen (V. 3–5a): "Wer so tut, wird nicht wanken in Ewigkeit." Das siebte "nicht" weckt Assoziationen an den siebten Tag, da das Tun zur Ruhe kommt. Das Wanken ist der Vorbote des Sturzes. Wer nicht wankt, hat festen Stand und kann sicheren Schrittes seines Weges gehen.

Gottes Gegenwart

Der Psalm entwirft das Konzept eines guten und gelingenden Lebens. Er geht davon aus, dass ein solches Leben nur in der Gegenwart Gottes möglich ist. In Anspielung an die Theologie des Offenbarungszeltes, des Tempels und des Zion ("heiliger Berg") wird die Gegenwart Gottes in der Ausgangsfrage zunächst im Rückgriff auf räumliche Metaphorik vorgestellt. In der Antwort auf die Frage wird diese Vorstellung jedoch in bezeichnender Weise modifiziert: Stabilität (V. 5b: "nicht wanken") erlangt der Beter nicht dadurch, dass er zu einem konkreten Ort wie etwa dem Jerusalemer Tempel geht (hālak), sondern dadurch, dass er einen Lebensweg geht (hōlek tāmīm: makellos wandelt) und so das in der Ausgangsfrage mit dem Heiligtum verbundene Konzept der Schutz gewährenden göttlichen Gegenwart durch konkretes Tun (V. 5b: ‘ośeh) realisiert. Da Abschalom genau das nicht getan hat, kann der konkrete Ort des Heiligtums von ihm nicht als Asyl in Anspruch genommen werden (1 Kön 2,28–35). Der Psalm personalisiert das in der Geschichte Israels verankerte, ursprünglich räumlich imaginierte Konzept göttlicher Gegenwart. In die schützende Gegenwart Gottes gelangt der Beter dadurch, dass er den Willen Gottes tut. Durch sein Tun wird er selbst zu einem Ort göttlicher Gegenwart, zum Berg Zion, der niemals wankt (mūṭ), der bleibt in Ewigkeit (Ps 125,1). Göttliches und menschliches Handeln stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern vollziehen sich simultan.

Christliche Relecture

Für den von Psalm 14 herkommenden Leser stellt sich unweigerlich die Frage: Wenn es niemanden gibt, der Gutes tut (Ps 14,3), wer kann dann die in Psalm 15 genannten Bedingungen erfüllen und in die Nähe Gottes gelangen und "in Ewigkeit nicht wanken"? Wird es je einen Menschen geben, "der makellos lebt, und der Gerechtigkeit übt, und der von Herzen die Wahrheit sagt" (Vers 2)? Liest man den Psalm im Lichte der Jesus-Geschichte, ist klar, wie die Frage zu beantworten ist, auch wenn der Psalm selbst im Neuen Testament nicht ausdrücklich zitiert wird. Nach Lk 23,47 bekennt der römische Hauptmann unter dem Kreuz: "Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechter."

Für die Kirchenväter war völlig klar, dass nur Christus die im Psalm genannten Bedingungen uneingeschränkt erfüllt hat. Damit wird die ursprüngliche Intention des Textes jedoch nicht unterlaufen, sondern konkretisiert: Tadellos geht (hōlek tāmīm) derjenige, der hinter Jesus hergeht, der ihm nachfolgt. In dieser Konsequenz liest Hieronymus den Psalm als Vorbereitung auf die Taufe.

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