Psalm 7 – Wer ist schuld am Tod des Sohnes?Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Psalm 7 und seine vielfältigen Verflechtungen mit anderen Psalmen und der Historie zeigen: Das Böse ist eine Realität in der Welt. Es wird von einer zur nächsten Generation weitergegeben. Gesellschaften tendieren dazu, diesen Zusammenhang zu verschleiern. Die Bibel bringt ihn ans Licht. Sie ist ein Buch der Aufklärung.

Bibel
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Der Benjaminiter Kusch

Auffallend ist die Überschrift von Psalm 7: "Eine Unabsichtlichkeitserklärung Davids, die er dem HERRN sang wegen der Worte des Benjaminiters Kusch." Wer war der Benjaminiter Kusch? Es war jener Bote, der David die Nachricht vom Tod seines Sohnes Abschalom überbrachte. Diese Szene wird in ihrer ganzen Dramatik ausführlich in 2 Sam 18,19–32 erzählt. Zwei Boten laufen um die Wette, um David die Nachricht von der Niederschlagung des Aufstandes zu überbringen. Ahimaaz, der Sohn des Priesters Zadok, kommt als erster an und übermittelt David die frohe Botschaft. Auf die besorgte Nachfrage des Königs, wie es seinem Sohn gehe, weicht er jedoch aus, wohl wissend, dass er für diese Nachricht keinen Botenlohn zu erwarten habe.

Kurz darauf trifft der Kuschiter ein und berichtet: "Mein Herr, der König lasse sich die gute Nachricht bringen, dass der HERR dir heute Recht verschafft hat gegenüber allen, die sich gegen dich erhoben hatten. Der König fragte den Kuschiter: Geht es dem Jungen, Abschalom, gut? Der Kuschiter antwortete: Wie dem jungen Mann möge es allen Feinden meines Herrn, des Königs, ergehen, allen, die sich in böser Ansicht gegen dich erhoben haben. Da zuckte der König zusammen, stieg in den oberen Raum des Tores hinauf und weinte. Während er hinaufging, rief er: Mein Sohn Abschalom, mein Sohn, mein Sohn Abschalom! Wäre ich doch an deiner Stelle gestorben, Abschalom, mein Sohn, mein Sohn" (2 Sam 18,31–19,1).

Der Tod Abschaloms

Vor diesem Hintergrund erschließt sich das innerhalb des Alten Testaments nur hier in der Überschrift vorkommende Wort ("Hapaxlegomenon") Schiggajon: Bei der Niederschlagung des Aufstandes hatte Davids Feldherr Joab den aufständischen Sohn Abschalom, als dieser auf der Flucht auf seinem Maultier mit seinen langen Haaren an einem Baum hängengeblieben war, mit drei Spießen durchbohrt und getötet (2 Sam 18,6–32). Dies war gegen die ausdrückliche Anweisung Davids geschehen. Denn vor dem Angriff gegen die Aufständischen hatte David seinem Feldherrn Joab und den Mitstreitern ausdrücklich gesagt: "Geht mir mit dem Jungen, mit Abschalom, schonend um! Alle Leute hörten, wie der König seinen Anführern wegen Abschalom diese Anweisung gab" (2 Sam 18,5). Es gab also Zeugen.

Die Nachricht vom Tod seines Sohnes stürzt den Vater in die Verzweiflung. Und was noch hinzukommt: Einflussreiche Leute machen ihm den Vorwurf, er trage für den Tod seines Sohnes die Verantwortung. In diese dramatische Situation hinein wird Psalm 7 platziert. Es handelt sich um eine Unschuldsbeteuerung (Schiggajon), die David in den Mund gelegt wird.

Er ist sich sicher: Gott schafft Recht dem Gerechten. Denen hingegen, die im Unrecht sind, lässt er seinen Zorn spüren.

JHWH rettet den, der im Recht ist

Psalmen sind Gedichte mit einem in der Regel sehr kunstvollen Aufbau. In der ersten Strophe (V. 2–3) erfahren wir, dass der Beter (David) verfolgt wird. Er ist zu JHWH geflohen und ruft um Rettung: "HERR, mein Gott, zu Dir bin ich geflohen. Rette mich vor all meinen Verfolgern und entreiß mich!" In der zweiten Strophe (V. 4–6) beteuert der Beter mit einer bedingten Selbstverfluchung, dass er nichts verbrochen hat: "Wenn ich das getan habe, HERR, mein Gott, wenn Unrecht klebt an meinen Händen, […] dann soll ein Feind meinen Nacken verfolgen und zur Erde niederreißen mein Leben."

Jetzt wird klar, worum es geht: David wird vorgeworfen, er habe sich nicht um eine friedliche Lösung des Konflikts mit seinem aufständischen Sohn Abschalom bemüht: "wenn ich dem, mit dem ich hätte Frieden schließen sollen (scholmi – darin steckt das Wort Schalom "Frieden" und möglicherweise auch eine Anspielung an den Namen Ab-Schalom), Böses tat" (V. 5a). Mit diesem Unschuldsbekenntnis appelliert der Beter in der dritten Strophe an JHWH, ihm Recht zu verschaffen: "Verschaffe mir Recht, JHWH, nach meiner Gerechtigkeit!" (V. 9b). Das soll in der Öffentlichkeit geschehen, vor der "Versammlung der Völker" (V. 8a). Die falschen Ankläger sollen an ihren eigenen Plänen scheitern, denn sie sind im Unrecht; ihn dagegen, den Beter, den sie töten und in den Staub werfen wollen, soll JHWH aufrichten, denn er ist im Recht (V. 10a). Er ist sich sicher: "Gott schafft Recht dem Gerechten" (V. 12a). Denen hingegen, die im Unrecht sind, lässt er seinen Zorn spüren (V. 12b).

Gott muss gar nichts mehr tun, die böse Tat fällt aus ihrer inneren Logik auf den Täter zurück. Das Böse richtet sich selbst zugrunde.

Die Selbstvernichtung des Gegners

Wie dies geschieht, sagt uns die vierte Strophe (V. 13–17). Hier kommen Gott und das Ich des Beters gar nicht mehr vor. Der Frevler richtet sich selbst zugrunde: "Ein Loch hat er gegraben und es ausgeschaufelt, da fiel er in die Grube, die er selbst gemacht hat" (V. 16). Gott muss hier gar nichts mehr tun, die böse Tat fällt aus ihrer inneren Logik auf den Täter zurück. Das Böse richtet sich selbst zugrunde (vgl. Ps 1,6b). Es fällt auf, dass in der vierten Strophe nicht mehr von den Übeltätern im Plural, sondern nur noch von einem einzigen, der Unrecht begangen hat, die Rede ist. Ihm wird eine böse Zukunft angekündigt: "Seine Untat wird auf sein Haupt zurückkehren und auf seinen Scheitel wird seine Gewalttat herabkommen" (V. 17). Vor dem Hintergrund der Abschalom-Geschichte kann damit nur Joab, der Feldherr Davids, gemeint sein, der gegen den ausdrücklichen Rat seines Herrn bei der Niederschlagung des Aufstandes dessen Sohn Abschalom heimtückisch ermordet hat. Dieser heimtückische Mord wird nun David in die Schuhe geschoben. Doch dieser beteuert seine Unschuld und fleht Gott um ein gerechtes Urteil an.

Doch wer spricht eigentlich die Verse 13–17? Sehr wahrscheinlich Gott selbst. Er spricht, ohne dass er genannt wird, verborgen aus dem Hintergrund. Die Autodestruktivität des Bösen ist ein Gesetz, das Gott seiner Schöpfung eingestiftet hat. Sie ist Ausdruck seines Zornes (V. 12b). Dieser vollzieht sich im täglichen Lauf der Dinge an denen, die Unrecht tun. In den Kämpfen nach der Thronbesteigung Salomos kommt Joab auf gewaltsame Weise ums Leben. Die Tat kehrt zum Täter zurück (1 Kön 2,28–35).

Dank und Meditation der Tora

Dafür, dass der HERR die gerechte Ordnung in der Schöpfung trotz permanenter Störungen von Seiten der Bösen nicht vollständig in sich zusammenbrechen lässt, dankt der Beter in der kurz gehaltenen letzten Strophe (V. 18): "Ich will dem HERRN danken, denn er ist gerecht." Und er kündigt an, den Namen JHWHs, des Höchsten, zu besingen. Dieses Versprechen löst er im folgenden Psalm 8 ein: "JHWH, unser Herrscher, wie gewaltig ist Dein Name auf der ganzen Erde! Der Du Deinen Glanz ausbreitest über den Himmel. Auf den Schrei von Kindern und Säuglingen hin hast Du gegründet eine Feste, wegen Deiner Bedränger, um Einhalt zu gebieten Feind und Rächer" (Ps 8,3). Wir sehen, die Psalmen stehen nicht wahllos nebeneinander.

Rettung aus einer Welt des Verderbens

Fromme Gemüter mögen erschüttert sein, ob der brutalen Machtkämpfe und der tragischen Verstrickungen, die wir im Hintergrund der Psalmen 3 bis 7 angetroffen haben. Die Stärke der Heiligen Schrift besteht zunächst einmal darin, dass sie uns die Welt vor Augen führt, wie sie tatsächlich ist. Das ist übrigens auch der erste Schritt der Kontemplation: wahrnehmen, was ist. In den Psalmen kommt alles zur Sprache, was auch unsere moderne Lebenswelt prägt: Aufstand, Verrat, falsche Anklage, Verfolgung, Mobbing, Mord, Vergewaltigung, Vertuschung.

Der Abschalom-Aufstand hat eine Vorgeschichte; dieser dunklen Seite seiner Lebensgeschichte kann der Beter David auf Dauer nicht ausweichen. Der ideale Leser weiß darum, doch in den ersten Psalmen bleibt diese dunkle Seite noch unausgesprochen. In Psalm 51 kommt sie ans Licht: "Ein Psalm Davids, als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba gegangen war: Gott sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen. Wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen" (Ps 51,1–5).

Die Bibel bleibt nicht bei der Beschreibung dessen, was ist, stehen, sondern sie bezeugt einen Weg, der aus dem alltäglichen Chaos herausführt.

Nach dem Ehebruch mit Batseba und dem Mord an deren Mann Urija hatte der Prophet Natan David das Orakel verkündet: "Du hast den Hetiter Urija mit dem Schwert erschlagen und hast dir seine Frau zur Frau genommen […] Darum soll das Schwert auf ewig nicht mehr aus deinem Haus weichen. […] So spricht der HERR: Ich werde dafür sorgen, dass sich aus deinem eigenen Haus das Unheil gegen dich erhebt, und ich werde dir vor deinen Augen deine Frauen wegnehmen und sie einem andern geben; er wird am hellen Tag bei deinen Frauen liegen" (2 Sam 12,9-11; vgl. 2 Sam 16,22). Abschaloms Aufstand hat eine Vorgeschichte.

Das Böse ist eine Realität in der Welt. Es wird von einer zur nächsten Generation weitergegeben. Gesellschaften tendieren dazu, diesen Zusammenhang zu verschleiern. Die Bibel bringt ihn ans Licht. Sie ist ein Buch der Aufklärung. Auch auf dem kontemplativen Weg kommt, wenn er ernsthaft gegangen wird, alles ans Licht. Davor schrecken viele zurück, sie halten nicht inne, sondern laufen davon. Doch die Bibel bleibt nicht bei der Beschreibung dessen, was ist, stehen, sondern sie bezeugt einen Weg, der aus dem alltäglichen Chaos herausführt. Dieser ist mühsam, doch er kann gegangen werden, nicht allein, sondern mit dem, der den Weg kennt (Ps 1,6), und mit dem, der selbst "Weg, Wahrheit und Leben" ist (Joh 14,6). David, der exemplarische Beter der Psalmen, bittet darum: "HERR, leite mich in deiner Gerechtigkeit, meinen Feinden zum Trotz; ebne deinen Weg vor mir!" (Ps 5,9).

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