Psalm 14 – "Es spricht der Tor in seinem Herzen …"Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Der Atheismus ist keine Erfindung der Neuzeit. Schon vor über zweitausend Jahren, zur Zeit des Alten Testaments, gab es Menschen, die in ihrem Herzen sagten: "Da ist kein Gott". Wer so denkt, kann nach Ansicht des Psalmisten nur ein Narr sein. Doch das Erschreckende: Das scheint keine Einzelmeinung zu sein. Viele denken so. Woran erkennt man das? – An ihrem Verhalten!

Bibel
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Nach der Überschrift gliedert sich der Psalm in drei Strophen. In jeder der drei Strophen kommt ein wörtliches Zitat vor. In der ersten Strophe spricht ein Narr, in der zweiten spricht Gott und in der dritten spricht der Psalmist die Narren an:

1     Das Denken und Tun des Narren

2–4 Die Untersuchung JHWHs und ihr Ergebnis

5–7 Die Beobachtung und Schlussfolgerung des Psalmisten

Da ist kein Gott

Die erste Strophe beginnt mit einem Narrenzitat:

1 Es spricht der Narr in seinem Herzen:
   "Da ist kein Gott!"
   Verderblich und abscheulich handeln sie,
   da ist keiner, der Gutes tut.

Der Narr (nābāl) ist jemand, der etwas tut, ohne die Folgen seines Tuns zu bedenken. Dabei geht es nicht so sehr um eine einzelne Tat, sondern um ein Verhalten, das zu einem Habitus geworden ist, zu einem Tun aus Gewohnheit. Die Narren erkennt man an ihrem Verhalten: Sie handeln verderblich und abscheulich. Das Bekenntnis: "Da ist kein Gott" hat also praktische Konsequenzen. "Der Glaube an Gott macht einen Unterschied" (Stephan Herzberg). Wenn es keinen Gott gibt, keine letzte Instanz, vor der Menschen ihr Handeln zu rechtfertigen haben, dann ist (fast) alles erlaubt. In Psalm 10,4 wird deshalb der praktische Atheismus als Bekenntnis des Frevlers diagnostiziert: "Der Frevler [spricht] in seinem Hochmut: Niemand ahndet, da ist kein Gott". So sprechen nach Auskunft des Propheten Zefanja auch jene Bewohner Jerusalems "in ihrem Herzen, die träge auf ihrer Hefe liegen: Der HERR wirkt weder Gutes noch tut er Böses" (Zef 1,12). Wenn Gott nichts tut, wenn er nicht eingreift (praktischer Atheismus), dann kann man so leben, als ob es ihn nicht gäbe (theoretischer Atheismus). Das ist die Ansicht des Narren. Wenn dieser das "in seinem Herzen" sagt, dann ist das Folge seines Denkens, nicht nur ein vorübergehendes Gefühl der Abwesenheit Gottes, denn das Herz ist in der Bibel der Ort des menschlichen Bewusstseins.

Ein solches Denken und Tun widerspricht der gesamten Heiligen Schrift. Denn diese erkennt einen inneren Zusammenhang zwischen Weisheit, Gottesfurcht und gutem Leben: "Anfang der Weisheit ist die Furcht des HERRN" (Spr 9,10). "Wenn du den HERRN, deinen Gott, fürchtest […], dann wird es dir gut gehen" (Dtn 10,12–13). Wer das nicht beherzigt, ist ein Narr. Dem Bekenntnis des Narren: "Da ist kein Gott" entspricht die Beobachtung des Psalmisten: "Da ist keiner, der Gutes tut".

Der HERR schaut vom Himmel herab

In der zweiten Strophe wird derjenige aktiv, von dem der Narr gesagt hat, dass es ihn nicht gäbe:

2 JHWH schaut vom Himmel auf die Menschen,
   um zu sehen, ob ein Verständiger da ist,
   einer, der nach Gott fragt:
3 "Alle sind abgewichen, zusammen sind sie verdorben.
   Da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.
4 Haben denn all die Übertäter nichts erkannt,
   die als Verzehrer meines Volkes Brot verzehren,
   nach JHWH jedoch nicht rufen?"

Wie vornehme Frauen aus dem Fenster schauen, um zu sehen, was sich unten auf der Straße und auf den Plätzen abspielt (vgl. Ri 5,26; 2 Sam 6,16; 2 Kön 9,30), so schaut JHWH vom Himmel herab. Er hat alle Menschen im Blick. Er sucht nach einem, der seinen Verstand gebraucht. Ein solcher ist das Gegenteil eines Narren. Der Verständige (maśkīl) wird im zweiten Kolon des Parallelismus als "einer, der nach Gott fragt", näher beschrieben (V. 2). Man könnte auch übersetzten: "der Gott sucht (dāraš)". Die Frage, um die es hier geht, ist eine Menschheitsfrage. Es geht noch nicht um JHWH, den Gott Israels, sondern ganz allgemein um Gott, "die universale Verantwortungsinstanz" (Dieter Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg i. Br. 2021, 250).

Derjenige, der seinen Verstand gebraucht, wird im Hebräischen als maśkīl bezeichnet. Davon abgeleitet ist das Wort Haskala, die Bezeichnung für die jüdische Aufklärung. Vertreter der jüdischen Aufklärung wie beispielsweise Moses Mendelssohn (1729–1789) gehören zu den Maskilim. Aufgeklärt im biblischen Sinn sind diejenigen, deren Denken und Handeln sich im Horizont der Wirklichkeit Gottes bewegt, die nach Gott fragen. Wer das nicht tut, so unser Psalm, ist ohne Verstand und handelt verderblich. Glaube und Vernunft sind im Alten Testament Verbündete.

Der göttliche Faktenscheck in der zweiten Strophe hat die Wahrnehmung des Psalmisten aus der ersten Strophe vollauf bestätigt. In den Versen 3–4 teilt Gott das Ergebnis seiner Überprüfung in wörtlicher Rede mit. Konnte man die Aussage des Psalmisten, dass alle verderblich und abscheulich handeln, noch auf alle Gott leugnenden Narren beziehen, so ergibt die göttliche Überprüfung, dass alle [Menschen] "abgewichen und verdorben" und – so ist zu folgern – ohne Verstand sind. Paulus hat den Text schon richtig verstanden, wenn er ihn als Schriftbeweis für die allgemeine Verderbnis der Menschheit, der Juden ebenso wie der Heiden, zitiert (Röm 3,10–12).

Spricht Vers 3 von der Verderbnis aller Menschen, so scheint Vers 4 vor allem die Übeltäter in Israel im Blick zu haben, wenn JHWH von den "Verzehrern meines Volkes" spricht, die "nicht nach JHWH rufen". Die Aussage erinnert an prophetische Anklagen: "Sie hassen das Gute und lieben das Böse […] Sie haben das Fleisch meines Volkes gefressen und ihnen die Haut abgezogen und ihre Knochen zerhackt" (Mi 3,2f).

Gottes Schrecken

In der dritten Strophe (V. 5–7) ergreift wieder der Psalmist das Wort. Es hat den Anschein, als wolle er die (rhetorische) Frage beantworten, mit der Gott seine Rede beendet hat. Gott hat sich über die fehlende Erkenntnis derer, die sein Volk verzehren, gewundert (V. 4). Der Psalmist benennt nun ein Ereignis, das zu einer (Gottes-)Erkenntnis führen kann und in der Vergangenheit auch immer wieder dazu geführt hat. Genau genommen ist es ein Ort (šām: "dort"), an dem die Unterdrücker zur Erkenntnis kommen können:

5 Dort erschraken sie voll Schreck,
   dass Gott ist bei einem gerechten Geschlecht.
6 "Den Plan des Elenden wollt ihr zuschanden machen,
   wo doch JHWH seine Zuflucht ist?"
7 Wer bringt vom Zion Rettung für Israel?
   Wenn JHWH das Geschick seines Volkes wendet,
   jubelt Jakob, freut sich Israel.

Vers 5 spricht vom Gottesschrecken (paḥad). Der Begriff bezeichnet ein Ereignis, bei dem Menschen so sehr in Schrecken geraten, dass sie darin eine numinose Qualität wahrnehmen, eine Dimension der Wirklichkeit, die ihren bisherigen Wahrnehmungshorizont überschreitet und auf etwas Göttliches verweist. Elifas, einer der Freunde Ijobs, beschreibt eine nächtliche Offenbarung im Traum, bei dem ihn ein solcher Schrecken überfiel: "Im Grübeln und bei Nachtgesichten, wenn tiefer Schlaf die Menschen überfällt, kam Furcht (paḥad) und Zittern über mich und ließ erschaudern alle meine Glieder" (Ijob 4,14). Der Prophet Jesaja beschreibt den kommenden Tag des HERRN als einen Tag des Schreckens: "Geh hinein in den Felsen, verbirg dich im Staub vor dem Schrecken des HERRN und vor der Pracht seiner Hoheit!" (Jes 2,10).

Sogar Gott selbst kann in der Bibel als "Schrecken" bezeichnet werden: "Da leistete Jakob einen Eid beim Schrecken seines Vaters Isaak" (Gen 31,53; vgl. 31,42). Es gehört zum Wesen des in sich selbst verliebten Sünders, dass ihm dieser Gottesschrecken fehlt, wie es in Psalm 36,2 heißt: "Spruch der Sünde zum Frevler inmitten meines Herzens: Kein Erschrecken vor Gott in seinen Augen!" Der Gottesschrecken ist ein Vorgang, bei dem ein Mensch aus seiner Selbstverschlossenheit aufgeschreckt wird. Für den Religionsphilosophen Rudolph Otto sind derartige Erfahrungen ein Ursprungsort von Religion. Wer das Moment des "tremendum", des Schauervollen, und der "majestas", des Übermächtigen, aus dem Gottesbegriff zu eliminieren sucht, so Otto, hat das Wesen der Religion, auch der biblischen, nicht verstanden.

Unser Psalmist rechnet damit, dass den Ungläubigen ein Schrecken in die Glieder fährt, wenn sie erkennen, "dass Gott bei einem gerechten Geschlecht anzutreffen ist" (V. 5). Allerdings bedarf ein solches Erschrecken der Deutung. Deshalb wendet sich unser Psalmist im anschließenden Vers 5 in direkter Rede an die in sich selbst verschlossenen Narren und fordert sie auf, von ihrem Vorhaben, den "Plan des Elenden" zuschanden zu machen, abzulassen, denn der Elende hat seine Zuflucht in JHWH gefunden; das heißt: Der Ort, an dem sich der Elende mit seinem Bewusstsein, seinem Planen und Denken, aufhält, ist Gott selbst, also jene Wirklichkeit, von der der Narr meint, dass es sie gar nicht gäbe. Doch darin täuscht er sich.

Im letzten Vers schaut der Psalmist auf sein Volk Israel. Auch hier liegt noch vieles im Argen. Es bedarf dringend der Rettung. Wie ein Weisheitslehrer seine Schüler oft mit rhetorischen Fragen an eine Wahrheit erinnert, die sie nur allzu leicht vergessen, so tut es auch unser Psalmist: "Wer bringt vom Zion Rettung für Israel? Wenn JHWH das Geschick seines Volkes wendet, jubelt Jakob, freut sich Israel."

Gott und die Vernunft

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Psalmist mit der Wirklichkeit Gottes rechnet. Dabei beruft er sich nicht auf Tradition und Offenbarung, sondern auf die Vernunft. Wer diese in ihrem inneren Bezug auf eine alle Menschen in Anspruch nehmende Instanz aufgibt, landet in einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt: ein Fressen und gefressen werden (Vers 4). Im Konzept der herrschaftsfreien Kommunikation des Philosophen Jürgen Habermas spielt die Vernunft eine zentrale Rolle. Sie ist das Werkzeug, das es den Teilnehmern der Kommunikationsgemeinschaft ermöglicht, sich über ihre subjektiven Perspektiven hinaus zu verständigen und auf der Basis rationaler Argumente einen Konsens zu erzielen, der ihnen hilft, Machtstrukturen zu erkennen und zu hinterfragen, um zu einer größeren Freiheit und Gerechtigkeit zu gelangen. Unser Psalmist ist der Ansicht, dass dies nicht möglich ist, wenn man Gott aus der Kommunikationsgemeinschaft ausschließt. Wer das tut, ist unvernünftig, ist ein Narr.

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