Psalm 3 – In der Verfolgung vertraut David auf den HerrnDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Im dritten Psalm wird erstmals König David als Beter vorgestellt, aber nicht als triumphierender König, sondern als Leidender, der von seinem eigenen Sohn verfolgt wird. In seiner größten Not vertraut er auf Gottes Hilfe. Die wird ihm zuteil – aber um einen hohen Preis.

Bibel
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Das lässt aufhorchen! Psalm 3 ist der erste Psalm mit einer Überschrift: "Ein Psalm Davids, als er vor seinem Sohn Abschalom floh" (Vers 1). Die Überschriften der Psalmen werden oft nicht beachtet. Im Brevier (Stundengebet) werden sie in der Regel nicht abgedruckt. Auch wenn die Exegese zeigen kann, dass sie sehr wahrscheinlich später hinzugefügt wurden, sind sie doch für das Verständnis des jeweiligen Psalms von Bedeutung. In unserem Fall lässt sich sogar zeigen, dass die in der Forschung konstatierten Schwierigkeiten, die der Psalm einem einigermaßen kohärenten Verständnis bereitet, vor dem Hintergrund jenes Geschehens, auf das die Überschrift verweist, gelöst werden können. Denn wie kann es verstanden werden, dass der Beter in den Versen 5–7 auf die erfolgte Rettung zurückblickt, in Vers 8a erneut darum bittet und in Vers 8b wiederum Gottes Sieg über die Feinde konstatiert?

Von wem spricht der Dichter?

Versetzten wir uns in die Lage des von vorn kommenden Lesers. Psalm 1 und Psalm 2 haben keine Überschrift. Es stellt sich die Frage: Von wem spricht der Dichter? In Psalm 1 wird der Mann glücklich gepriesen, der die Tora bei Tag und bei Nacht meditiert, in Zeiten des Heils und des Unheils. Auf das alternative Angebot der Frevler lässt er sich nicht ein; von ihrem Weg hält er sich fern. Deren Weg, so der Dichter, wird zugrunde gehen. In Psalm 2 liegt eine ähnliche Personenkonstellation vor: Dem von Gott auf Zion eingesetzten König, seinem Gesalbten, stehen rebellierende Könige und Völker gegenüber. Es legt sich nahe, den Gerechten von Psalm 1 mit dem Gesalbten von Psalm 2 zu identifizieren: Es scheint der ideale, von Gott über sein Volk eingesetzte König zu sein, der nach dem Gesetz von Dtn 17,18–20 die Tora meditiert, "damit er lernt, den HERRN, seinen Gott, zu fürchten, alle Worte dieser Weisung und diese Gesetze zu bewahren, sie zu halten, sein Herz nicht über seine Brüder zu erheben und von dem Gebot weder rechts noch links abzuweichen." Dieser König wird bedroht, in Psalm 2 von außen, von den Völkern, in Psalm 1 offensichtlich von innen, von den Angehörigen seines eigenen Volkes. Hier wird das Bild eines Königs aufgebaut, dem von allen Seiten Verfolgung droht, von innen wie von außen, dem aber zugleich von JHWH die Zusage der Rettung gegeben wird.

Vom eigenen Sohn verfolgt

Mit diesem in der Lektüre aufgebauten Wissen kommt der Leser zu Psalm 3: "Ein Psalm Davids, als er vor seinem Sohn Abschalom floh: HERR, wie viele sind geworden meine Bedränger, viele stehen gegen mich auf, viele gibt es, die von mir sagen: Er findet keine Hilfe bei Gott." Die Vermutung unseres Lesers hat sich bestätigt: In den ersten beiden Psalmen ist in verhüllter Weise die Rede von David, dem König, dem Gesalbten des HERRN. Dieser wird nun in Psalm 3 verfolgt von seinem eigenen Sohn, er muss leiden, er klagt, er ruft zum HERRN um Hilfe und vertraut auf dessen Rettung. Die Überschrift von Psalm 3 verweist auf die im zweiten Buch Samuel erzählte Geschichte vom Aufstand im Hause David (2 Sam 15–18). Es war der letzte Konflikt, den David zu bestehen hatte. Es ging um Leben und Tod. Sein Sohn Abschalom hatte sich zusammen mit einer Schar von Gefolgsleuten (2 Sam 15,2) gegen seinen Vater erhoben. Unter dramatischen Umständen musste dieser des Nachts aus Jerusalem fliehen: "Das ganze Land weinte mit lauter Stimme, als das ganze Volk vorüberzog und der König den Bach Kidron überschritt und das ganze Volk weiter auf dem Weg zur Steppe zog. (…) David stieg weinend und mit verhülltem Haupte den Ölberg hinauf" (2 Sam 15,23.30).

Dem idealen Leser, der die Bibel kennt, kommt die Passionsgeschichte in den Sinn: "Nach diesen Worten ging Jesus mit seinen Jüngern hinaus, auf die andere Seite des Baches Kidron" (Joh 18,1). "Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus" (Mk 14,26). Wie David verlässt Jesus Jerusalem, die Stadt, in die er als König und Sohn Davids eingezogen war (Mt 21,5.9), überschreitet den Bach Kidron und gelangt zum Ölberg. Von den Führern seines eigenen Volkes wird er verfolgt; nur eine kleine Gruppe seiner Getreuen begleitet ihn. In Todesgefahr betet er zu Gott (Mk 14,32–42). Wie David vertraut sich Jesus vorbehaltlos dem Willen Gottes an (2 Sam 15,25f; Mk 14,36). 

Der leidende David steht am Anfang

Für das Verständnis aller weiteren Psalmen ist die Überschrift von Psalm 3 von grundlegender Bedeutung: Am Beginn des Psalters steht nicht der triumphierende, sondern der von seinem eigenen Sohn verfolgte, der leidende David, der gleichwohl in seiner größten Not auf Gottes Hilfe vertraut. Damit steht die Frage im Raum, ob sich die dem König in Psalm 1 und 2 von JHWH gegebene Zusage erfüllen wird. Seine Gegner bestreiten dies. Sie behaupten: "Es gibt keine Hilfe für ihn bei Gott" (Ps 3,3; vgl. Mk 15,31). Doch David lässt sich nicht verunsichern, er setzt sein Vertrauen vorbehaltlos auf JHWH.

Betont an erster Position steht in der ersten Strophe (Vers 2–4) der Gottesname: JHWH. Das Ich des Beters spricht JHWH direkt an und beklagt, dass es kein Ende nimmt mit den vielen Feinden. Dreimal begegnet das Wort "viele sein / viele". In 2 Sam 15,12 heißt es entsprechend: "So wurde die Verschwörung immer größer und immer mehr Leute schlossen sich Abschalom an." Im Zentrum der 1. Strophe steht die Behauptung der Feinde: "Für ihn gibt es keine Hilfe bei Gott" (Vers 3). Doch der Beter hält sofort mit einem Vertrauensbekenntnis dagegen: "Du aber, HERR, bist ein Schild um mich herum, du bist meine Ehre und richtest auf mein Haupt" (Vers 4). Gerahmt wird die erste Strophe vom zweimaligen Vorkommen des Gottesnamens, am Anfang und am Ende. In diese umgreifende Struktur sind die Feinde gleichsam eingekesselt. Die umgreifende Wahrnehmung des Beters ist auf JHWH ausgerichtet; sie ist die alles bestimmende Realität, sie gibt den Rahmen vor. Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich die Feinde. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Hoffnungslos wäre sie, wenn es umgekehrt wäre, wenn die Feinde die alles bestimmende Realität wären und Gott unter "ferner liefen" vorkäme, oder, schlimmer noch: als Retter ungeeignet erschiene, wie die Feinde behaupten.

Gestärkt durch frühere Erfahrungen

Der Beter scheint nicht am Anfang seines geistigen Weges zu stehen. In der 2. Strophe blickt er auf frühere Erfahrungen zurück. Das macht Sinn, wenn wir die Überschrift ernst nehmen (Vers 1). David hat schon viele Krisen überstanden, jetzt steht er vor seiner letzten und größten Herausforderung: der Rebellion seines eigenen Sohnes. Der Blick zurück macht ihm Mut: "Immer, wenn ich mit meiner Stimme zum HERRN rief, antwortete er mir vom Berg seines Heiligtums" so muss man wohl Vers 5 übersetzen (zur Funktion der hebräischen Tempora vgl. Böhler, Psalmen 1–50, HThK.AT, Freiburg 2021, 94). In dieser Haltung konnte er sogar ruhig schlafen: "Ich legte mich nieder und schlief ein, ich wachte wieder auf, denn der HERR wird mich beschützen" (Vers 6).

Auf der Flucht vor seinem Sohn spielte der Vorsprung einer Nacht eine entscheidende Rolle. Dem rebellierenden Sohn Abschalom wurden von zwei Beratern zwei unterschiedliche Strategien vorgeschlagen, um den Aufstand zum Erfolg zu führen: entweder dem fliehenden David sofort nachzusetzen und mit einem Überraschungsangriff zu überwältigen, oder eine Nacht zu warten, um am darauffolgenden Tag mit einer etwas größeren Truppe den nicht zu unterschätzenden Widerstand Davids zu brechen (vgl. 2 Sam 17,8: "Du kennst deinen Vater und seine Männer; sie sind Krieger und erbittert, wie eine Bärin im freien Gelände, der man die Jungen geraubt hat. Dein Vater ist ein Krieger, der mit seinen Leuten keine Nachtruhe hält"). Abschalom entscheidet sich für die zweite Strategie. Spione informieren David; dieser nutzt den Vorsprung und zieht über den Jordan: "Als es Morgen wurde, war auch nicht mehr einer da, der den Jordan nicht überschritten hätte" (2 Sam 17,22). Nach einer ruhig verbrachten Nacht (Vers 6: "Als ich mich hinlegte, fand ich Schlaf") stellt David am anderen Morgen seine Truppen zum Kampf auf (2 Sam 18,1ff).

Gestärkt aus seinen früheren Erfahrungen (Vers 5) und einer auf der Flucht ruhig verbrachten Nacht (Vers 6) wendet sich das Ich in der 3. Strophe (Vers 8–9) erneut seiner gegenwärtigen Not zu. Die Aufständischen sind noch da, doch die Furcht hat sich gelegt: "Viele Tausende des Volkes fürchte ich nicht, wenn sie mich ringsum belagern" (Vers 7). Im Gebet hat sich offensichtlich innerlich etwas getan. Die Wirklichkeit erscheint in einem neuen Licht. In diesem Vertrauen spricht der Beter nun seine Bitte aus, nicht zu irgendeinem Gott, sondern zu seinem Gott, mit dem er schon viele Krisen überstanden hat: "Erhebe dich, HERR, bring mir Hilfe, mein Gott!" (Vers 8a). Auch diese Bitte gründet in früherer Erfahrung: "Denn du hast ja zerschlagen all meinen (bisherigen) Feinden den Kiefer, hast den Frevlern die Zähne zerbrochen" (Vers 8b).

Der Psalm endet mit einem Bekenntnis und einem Wunsch. Das Bekenntnis hängt nicht in der Luft, sondern gründet in zurückliegenden wie gegenwärtigen Erfahrungen: "Beim HERRN ist die Hilfe" (Vers  9). Es steht der Behauptung der Feinde diametral entgegen: "Es gibt keine Hilfe für ihn bei Gott" (Vers 3). Mögen sich auch "viele Tausende aus dem Volk" gegen den König erheben (Vers 7), so steht doch das Volk des HERRN, zu dem sich der Beter rechnet, unter seinem Segen: "Auf dein Volk komme dein Segen!" (Vers 9).

Rettung um einen hohen Preis

Mit Psalm 3 wird der erste Davidpsalter (Psalm 3–41) eröffnet. Während es sich bei den Psalmen 1 und 2 um Meditationen handelt, in denen über Gott gesprochen und nachgedacht wird, wird uns in Psalm 3 erstmals David als Beter vorgestellt. In Todesgefahr vertraut er auf Gott und bittet um Rettung. Der (ideale) Leser kennt den weiteren Verlauf der Geschichte: Davids Bitte wird erhört. Der König wird gerettet, doch um einen hohen Preis: Sein Sohn Abschalom findet den Tod. Es geht also in Psalm 3 nicht um irgendeine Not, sondern um einen Aufstand gegen "den HERRN und seinen Gesalbten" (Psalm 2,2).

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