Theater – Bühne – Christentum

Alma wurde die Idee nicht los, dass man für sie Theater spielte. In jedem Zimmer war eine Bühne errichtet für die endlosen Vorstellungen, in denen alle ihr Bestes gaben und stets heimlich enttäuscht davon waren, dass der Applaus für ihre Mühen ausblieb. Die Rollen waren von unsichtbaren Kräften zugewiesen worden, und Unsicherheiten kompensierte man mit Vehemenz. Als Alma größer wurde, dachte sie, wie erschöpfend es sein musste, im eigenen Lebenswerk nicht Regie zu führen, sondern darin nur mit­zuspielen, in einem Lehrstück ohne Pause, die einen erlöste, ohne Vorhang, der je fiel.
(Valerie Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson. Roman, Berlin 2020, 11)

Die Menschen sind Schauspieler auf der Theaterbühne ihres Lebens, die Geschichte ist ein ‹Welttheater›: Das Theatrum vitae humanae und das Theatrum mundi ziehen sich motivisch durch die Dichtung und Philosophie von der Antike bis heute. Mit der metaphorischen Übertragung des Theaters auf die Wirklichkeit können dabei ganz unterschiedlich gefärbte Deutungen einhergehen: etwa der ethische Imperativ, die eigene Rolle gut auszufüllen; die Stärkung der unverfügbaren Macht des regieführenden Schicksals; christliche Vorsehungskonzepte, in denen das laufende Stück bereits ausgeschrieben scheint; aber auch die stoische Entschärfung des Lebens als bloßes Spiel, das die Seele unangetastet lässt. Der Topos vom ‹Welttheater› kann aber auch die diversen Theatralisierungen des Lebens in Geschichte und Gegenwart bezeichnen (etwa in Fest, Ritual und politischer Öffentlichkeit), oder sich, im engeren Sinne, auf das Bühnentheater selbst beziehen, das zuweilen ein gran teatro del mundo (Calderón) zur Aufführung bringt.

Aus heutiger Sicht liegt es nahe, von einer Verwandtschaft von theatralen Inszenierungen und der christlichen Motiv- und Ritualwelt zu sprechen. Natürlich kennt insbesondere die katholische Liturgie Theatralik: in Choreographien und Rollenzuweisungen, im «chorischen» Sprechen der zum Gottesdienst Versammelten, bis hin zu szenischen Elementen etwa im Triduum Paschale (um vom liturgischen Traditionalismus zu schweigen). Bekannt ist auch Romano Guardinis Rede von der katholischen Liturgie als «heiligem Spiel», das zwar von ernsten Gesetzen geregelt ist, das aber keinem anderen Zweck folgt, als vor Gott zu kommen und «Zeit zu verschwenden». Und natürlich kennt das Gegenwartstheater Resakralisierungen: durch synkretistische Verwendung liturgischer Elemente bis hin zu «Fluxus-Oratorien», durch rauschhafte Aktualisierungen des antiken Kulttheaters, aber auch durch die Nutzung von Kirchenräumen zu Bühnenzwecken. Es gibt also gegenseitige Entlehnung, ästhetische Analogie und Zitat.

Wer «Theater und Christentum» sagt, meint jedoch meist die lange Tradition christlicher Theateraversion. Schon die Literatur der Patristik inszeniert mit erheblichem Aufwand den Sieg des Christlichen über Antike und Mythos – und hat damit freilich auch das kultische Theater im Visier. Aber nicht nur die kultische Konkurrenz, sondern auch die Frivolität des Spiels und des Rollentauschs machte das Theater aus kirchlicher Sicht anrüchig. Diesen Vorbehalt teilen theaterkritische Akteure der Aufklärung wie Jean-Jacques Rosseau. Den Vorstoß, im Genf des 18. Jahrhunderts Theater zu errichten, sah Rosseau, wie die Theatergeschichte von Erika Fischer-Lichte rekonstruiert, als eine tödliche Gefährdung der (nicht nur geschlechtlichen) Identität der Genfer Bürger. Doch die Abwehrhaltung der Mächtigen gegenüber den Provokationen der Bühnen und die damit verbundene Angst vor der moralischen Zersetzung der Bevölkerung zieht bekanntlich ihre Spuren bis zu Thomas Bernhards und Claus Peymanns «Heldenplatz» im Wiener Burgtheater, der die österreichische Öffentlichkeit (und natürlich auch die Kirche) noch 1988 das Fürchten lehrte.

Dieses Themenheft untersucht Ähnlichkeiten und Verwandtschaften, Differenzen und Antagonismen zwischen Theater, Bühne und Christentum. Zunächst umreißt die Altphilologin Susanne Nordhofen die Ursprünge der griechischen Tragödie im Dionysoskult, gipfelnd im jährlichen Dionysosfest als einem Zentralereignis des öffentlichen Lebens in der Polis. Anders als heute besuchen die Athener Bürger dieses Theater nicht nur zu Unterhaltungszwecken, sondern nehmen im Kult ihre «staatsbürgerliche Pflicht» im Dienste des sozialen Zusammenhalts wahr. Ging es dem christlichen Cultus zwar primär um die Profilierung der eigenen Identität gegen die paganen Praktiken, so gibt es doch unübersehbare Analogien – oder anders gesagt: Umbesetzungen –, etwa wo es um die Unterbrechung der Weltzeit duch göttliche, heilige Zeit geht.

Fundamentalkritik am Theater als Kulturform übten nicht nur die Kirchen, aber es gehört gleichwohl prominent zu ihrer Geschichte, wie der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx zeigt. Im Treiben auf den Bühnen einen gottlosen und verbrecherischen Teufelsdienst zu sehen, das ist eine Linie, die schon bei Tertullian zu finden ist und später bei den Puritanern besonders hervortritt. Das Christentum wendet also dem Theater schroff den Rücken zu, aber nicht ohne theatrale Formen im Dienste der «spirituellen Unmittelbarkeit» in geistliche Praxis zu adaptieren, insbesondere sichtbar in den ignatianischen geistlichen Übungen und dem Jesuitendrama.

Heute freilich wäre ein theaterfeindliches Agieren von Theologie und Kirche aus Sicht des Kulturbetriebs nur noch mit einem Lächeln zu quittieren. Die Bühnen sind indessen kein religionsfreier Raum geworden, wie Ingrid Hentschel illustriert. Die vielbeachteten Inszenierungen von Romeo Castellucci, Milo Rau und Tankred Dorst arbeiten christliche Gehalte überblendend ein; etwa den leidenden Jesus am Kreuz, um die menschliche Misere in provozierender Deutlichkeit vor Augen zu führen.

Auf dezidiert theologische Interpretationen des Theatralischen gehen die folgenden beiden Beiträge ein. Alois M. Haas widmet sich dem Versuch Hans Urs von Balthasars, in seinem Großwerk ‹Theodramatik› (auf rund 2.500 Seiten) eine Theologie mit dramatischen Kategorien zu schreiben. Dramatische Gestaltung lenkt den Blick auf die in menschlichen Handlungen und Intentionen liegende existentielle Tendenz, sich selbst auf das andere hin zu überschreiten. Balthasar geht es aber nicht nur um eine Affinität der Theologie zu theatralen Aussageformen, sondern, das ist die Pointe, ‹Offenbarung› selbst ist für ihn ein dramatisches Geschehen. Auf die Möglichkeiten, in theologischer Deutung auf Vorbilder aus der antiken Literatur zurückzugreifen, weist Jan-Heiner Tück hin. Bei Euripides gibt es nicht nur das Motiv des stellvertretenden Sterbens für andere, es wird sogar mit einem Kampf zur Überwindung des Todes verbunden. In der Christologie hallen solche dramatischen Szenen im Stellvertretungsmotiv und dem Gang Christi zu den Toten (descensus ad inferos)wieder.

Der Essay des Kunsthistorikers Gustav Schörghofer SJ ist eine Reflexion über das reichhaltige Feld der Metaphorik der Bühne, die er an Beispielen aus der Geschichte der Kirchenraumarchitektur, der Liturgie bis hin zur modernen Kunst illustriert. Die perspektivischen Raumentwürfe in der sakralen Kunst sind imaginäre Weltentwürfe. Die Reform der katholischen Liturgie nach dem Vatikanum II macht den Kirchenraum erneut zur Bühne, auf der alle Anwesenden am ‹Spiel› der Messe teilhaben sollen. Dazu passt, dass Michael Gassmann abschließend die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der ‹Immersion› in Inszenierungen geistlicher Musik im Konzertbetrieb lenkt. Das Gegenüber von Interpreten und Auditorium wird dabei immer wieder durchbrochen. Die bloße Zuschauerrolle kann sich auf ein immersives ‹Eintauchen› öffnen, das Kunsterlebnis auf eine mögliche religiöse Erfahrung im dramatischen Geschehen.

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