Unverfügbarkeit und gelingendes LebenHartmut Rosa ergänzt seine Resonanztheorie

Den Büchern des Soziologen Hartmut Rosa gelingt es, einleuchtende Metaphern für die Weltwahrnehmung und die Problemhorizonte der Gegenwart zu finden. So war es mit der Studie Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (2005) und mit Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2016). Ähnliches lässt sich für den 2018 erschienenen, schmalen Band sagen, der schlicht Unverfügbarkeit überschrieben ist. Der 130-seitige Essay ist eine Art Nachtrag zu Rosas Resonanztheorie. Das Motiv der ‹Unverfügbarkeit› spielte schon dort eine nicht unwesentliche Rolle, wird nun aber als herausragender Faktor der Resonanztheorie ins Licht gesetzt.

‹Unverfügbarkeit›, ein vom evangelischen Theologen Rudolf Bultmann in den 1930er Jahren im Kontext der existentiellen (anstatt objektivierend-feststellenden) Rede von Gott geprägter Neologismus, ist für Rosa ein Begriff, der zur «Kritik der Verfügbarkeit» (44) dient. Ganz im Sinne der ersten Generation der Kritischen Theorie kann der Essay als sozialphilosophische Beschreibung des modernen Weltverhältnisses und seiner selbstzerstörerischen Struktur gelesen werden. Entgrenzte «Verfügbarmachung von Welt» kennzeichnet für Rosa das Programm der Moderne, das nicht nur «nicht ‹funktioniert›, sondern geradewegs in sein Gegenteil umschlägt.» (25) Für das Dilemma von wachsender Verfügbarkeit bei wachsender Ohnmacht nennt Rosa konkrete Schauplätze: von den medizinethischen Konfliktlagen rund um Lebensanfang und -ende, über die Ökonomisierung und ‹Parametrisierung› der Bildungs- und Wissenschaftspolitik bis zu den umfassenden Auswirkungen der digitalen Revolution.

Groß prangt vorne auf dem Einband des Buches die Grundthese: «Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen: sie ökonomisch verfügbar und technisch beherrschbar, wissenschaftlich erkennbar und politisch steuerbar und zugleich subjektiv erfahrbar zu machen. Dabei droht sie uns aber stumm und fremd zu werden: Lebendigkeit entsteht aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.» Drei Thesen sind darin enthalten: 1.) Menschen strecken sich heute stets und zunehmend nach einer zugänglichen Welt aus. Das bedeutet, dass nicht Indifferenz oder Übersättigung die Grundstimmung der Gegenwart ist, sondern eine gesteigerte Resonanzsensibilität. 2.) Dieser anthropologische und soziale Impuls droht nicht nur ins Leere zu laufen, sondern gerade das Gegenteil seines Ziels zu bewirken. 3.) Zur Lösung dieses Dilemmas soll eine Art ‹Unverfügbarkeitsmanagement› hilfreich sein.

Deutlich ist, dass Rosa mit dem Resonanzkonzept einem in seinen Augen misslingenden, ja pathologischen Weltverhältnis eine wohlmeinende Empfehlung zum glückenden, gelingenden Leben entgegensetzen will. Dieses Anliegen verdichtete sich schon in den beiden meistzitierten Wendungen der Resonanzstudie: «Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.»1 Und: «Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.»2

Resonanz und Unverfügbarkeit

Was heißt Resonanz? Mit ‹Resonanz› meint Rosa das Zustandekommen von menschlichen Beziehungen. Eine ‹resonante› Weltbeziehung widerspricht einer Haltung, deren Grundimpuls das grenzenlose Streben nach Verfügbarkeit ist. Resonanzbeziehung bedeutet zunächst Passivität und damit auch eine tendenziell autonomiekritische und antirationalistische Grundtendenz: Resonanz ist ein «romantisches Konzept».3 Die Resonanzerfahrung kommt auf mich zu, ohne dass ich sie erzeugen kann. Ansprechbarkeit ist freilich die Voraussetzung, will man – wie Rosa mit Rilke sagt – die «Dinge singen» hören, also den Anruf der Wirklichkeit vernehmen (112). Um in resonante Beziehungen zu kommen, muss ich mich berühren und affizieren lassen: von Menschen, Tieren, Dingen, Natur, Kunst, Musik und Literatur. Doch qualifizierte Resonanz entsteht erst, wenn ich auf diese ‹empfangenen› Impulse selbstwirksam antworte und mich und das jeweilige Gegenüber durch dieses kommunikative Geschehen verändern lasse.

Dass nun aber Resonanzerfahrungen sich nicht erzwingen lassen und im Zweifelsfall eher ausbleiben anstatt sich einzustellen, bringt Rosa durch die Idee der ‹Unverfügbarkeit› zum Ausdruck. Eigentlich ist damit ein Doppeltes gemeint: Mit der etwas sperrigen Wortschöpfung «Halbverfügbarkeit» (52) will Rosa zunächst sagen, es gehöre «konstitutiv» (44) zur Resonanz, dass diese nicht einfach vom Individuum erzeugt und gemacht werden kann. Unverfügbarkeit meint in diesem Sinne also prinzipielle Offenheit und Entzogenheit, meint den Widerfahrnis- und Geschenkcharakter gelingender Resonanzbeziehung (68). Totale Verfügbarkeit (Resonanz ‹auf Knopfdruck›) und totale Unverfügbarkeit (Unerreichbarkeit) sind die beiden Pole der Resonanzverhinderung. Gelingende Resonanzbeziehungen, so die zentrale These, stehen immer im Spannungsverhältnis von Verfügbarkeitsstreben und Unverfügbarkeit.

Zum anderen steht der Begriff ‹Unverfügbarkeit› aber auch für die Warnung vor einer letzten ‹Unerreichbarkeit› der Resonanz. Es könnte zu den Konsequenzen der entgrenzten Reichweitenausdehnung und des eskalierenden Strebens nach Instrumentalisierung, Beherrschung und Kontrolle gehören, dass der Resonanzraum der Welt als stumm, kalt und leer erfahren wird (41 u. 131). Das Finale des Buchs ist daher nachdenklich bis pessimistisch gefärbt und auch darin ein Echo der Ahnväter der Kritischen Theorie. Die ‹gute› Unverfügbarkeit, eine Bedingung von Resonanz, kehrt nämlich, so Rosas Befürchtung, als «Monster» (124) zurück, wo sie das Produkt des eskalierenden modernen Verfügbarkeitsstrebens ist. Symbol dieser Umkehrung – der totale Weltzugriff führt zu einem totalen Sichverschließen der Welt – ist die freigesetzte Radioaktivität des Reaktorunfalls, die in ihrer Letalität unbeherrschbar, unsichtbar und resonanzunfähig im absoluten Sinn ist (130). Radikale Prozesse des menschlichen Weltzugriffs führen zu radikaler Unverfügbarkeit und treiben damit die Entfremdungserfahrung auf die Spitze. «Dort, wo ‹alles verfügbar› ist, hat uns die Welt nichts mehr zu sagen, dort, wo sie auf neue Weise unverfügbar geworden ist, können wir sie nicht mehr hören, weil sie nicht mehr erreichbar ist.» (131)

Nichttheologische Theologie?

Die Arbeiten des Soziologen Hartmut Rosa haben in Theologie und Kirche aus verschiedenen Gründen Aufmerksamkeit erregt. Das liegt nicht zuletzt an der ausgesprochenen Vorliebe der Theologie, sich im außertheologischen Gewand wiederzuerkennen. Am Umgang mit allen Generationen der kritischen Theorie und mit prominenten Gestalten der Philosophie der Gegenwart ließe sich das leicht illustrieren. Hartmut Rosas ‹Soziologie in den Fußstapfen der Theologie› (Martin Laube) ist ein prägnanter Fall solchen Wiedererkennens, da sie – wie im Fall der ‹Unverfügbarkeit› – vielfach Übersetzungsleistungen aus dem christlichen Motivhaushalt vornimmt und produktiv gebraucht. Entsprechende Versuche der Relecture christlicher Glaubens- und Symbolwelten unter resonanztheoretischen Vorzeichen, wie Rosa selbst andeutet4, wären also möglich. Hinzu kommt, dass Rosas Überlegungen zum Resonanzbedürfnis und Resonanzvermögen die These von der religiösen Anlage des Menschen sozialphilosophisch unterfüttern und damit sowohl dem Rechtfertigungsdruck als auch der Relevanzkrise der Religionsgemeinschaften Linderung anbieten. Manch einer wittert Morgenluft: Lässt sich mit Hilfe des Resonanzkonzepts die religiöse Offenheit der Gegenwart aufweisen? Das sind zunächst attraktive Theorieangebote; dennoch kann sich an ihnen eine Kritik der Resonanz entzünden.

Die Plausibilität der Bestimmung von Religion als «Resonanzversprechen»5 ist für das Christentum nicht etwa selbstverständlich. Der Überbeanspruchung des Resonanzkonzepts als normative conditio sine qua non für ein gelingendes Leben lässt sich gerade aus theologischer Sicht entgegnen, dass es eine religionshistorische Errungenschaft und Entlastungsleistung war, die an allen Ecken und Enden ‹sprechende› Welt zu entzaubern.6 Wenn in Rosas Konzept Religion als «Resonanzgenerator»7 verstanden wird, wäre zu fragen, ob der christliche Glaube gegenüber dem Resonanzkonzept nicht auch widerständig sein kann. Der metaphorische Bedeutungshof rund um die ‹Resonanz› – das Schwingen der Stimmgabel, das Vibrieren der Drähte, die Stimmung, der Anruf, der Wiederhall und Ähnliches – bietet zwar unzählige Anknüpfungspunkte, um religiöse Sehnsüchte ins Bild zu fassen. Für eine theologische Rezeption wäre aber zugleich die bekannte Frage entscheidend, ob religiös hier immer auch christlich heißt: Vernimmt, wer die «Dinge singen» hört, schon das Wort Gottes? Wären ästhetische Erfahrung und Erkenntnis, wären Schönheit und Wahrheit hier nicht stärker zu unterscheiden?8 Eine Überdosis Resonanzbegeisterung kann auch zu Verstimmungen führen.

Gegenüber dem Versuch, Weltverhältnisse möglichst umfassend in Resonanzbeziehungen zu artikulieren, könnte man eben jene ‹positive Unverfügbarkeit› begrenzend in Anschlag bringen, die Rosa in seinem höchst lesenswerten Essay umkreist. Die komplexen Verhältnisse zwischen Zugänglichkeit und Entzogenheit, zwischen Lesbarkeit und Unbegreiflichkeit, sind auch für den Glauben relevant, für den die prinzipielle Offenheit, Nicht-Notwendigkeit und Unentschiedenheit lebensspendend ist. In Abwandlung eines Zitats von Hartmut Rosa: Lebendigkeit entsteht nur aus der Kraft des Unverfügbaren.

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Hartmut Rosa

Unverfügbarkeit

Residenz Verlag: Wien – Salzburg 42019, 136 S., € 19,-