Christentum zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung

Das deutsche Wort «Grenze» hat ein vergleichsweise weites Bedeutungsfeld. Als Lehnwort (von altslawisch «granica») vereint es in sich zwei Bedeutungskreise, die in den romanischen Sprachen und auch im Englischen mit zwei verschiedenen Begriffen bezeichnet werden: Da ist zum einen die Grenze im politischen und geographischen Sinn, die Staaten oder Naturräume voneinander trennt; sie trägt in anderen Sprachen ganz unterschiedliche Bezeichnungen (il confine, la frontière, border). Zum anderen wird «Grenze» im Deutschen auch im übertragenen Sinne gebraucht, sowohl in der Alltagssprache («die Grenzen meiner Kräfte») als auch in Wissenschaften wie der Mathematik, der Philosophie und den Geistes- und Kulturwissenschaften. Für diesen Bedeutungskreis greifen viele andere europäische Sprachen auf das Lateinische limes zurück (il limite, la limite, limit). «Grenze» ist also beides, «border» und «limit», «frontière» und «limite» und verbindet so den politisch-geographischen und den wissenschaftlich-kulturellen Bereich miteinander.

In beiden Bereichen bezeichnet «Grenze» dabei das Festgelegte und Formale. So begegnet der Ausdruck in der Erkenntnistheorie mit Blick auf den Begriff, in Ethik und Kulturwissenschaften mit Blick auf Normen und Werte, und in der Ästhetik mit Blick auf künstlerische Gattungen und Formen. Die Begrenzung wird dann als Vorgang thematisiert, der für das Erkennen, das ethische Handeln und das künstlerische Schaffen notwendig ist. Begrenzung steht für Bestimmtheit, Maß, Ordnung und Harmonie. «Grenzüberschreitungen» können daher, ähnlich wie in der Alltagssprache, wo damit vor allem moralische Verfehlungen gemeint sind, zunächst als etwas ausgesprochen Negatives thematisiert werden. Wo die Grenzen von Begriffen unklar sind, drohen Verwirrung und Lüge. Wo Normen übertreten werden oder gar fehlen, kann es zu Gleichgültigkeit und Willkür kommen, im Falle von politischen Grenzen zu Instabilität und Chaos. Wo die Grenzen aller ästhetischen Formen gesprengt werden, beginnen Beliebigkeit und Rausch.

Dieser Sicht steht ein in der europäischen Neuzeit gewachsenes Bewusstsein für die Ambivalenz von Grenzziehungen gegenüber: die Grenzen des Begriffs können zu eindeutig, die Grenzen der Norm zu eng, die Grenzen der künstlerischen Form zu starr geraten sein. Im Hintergrund dieser Problemanzeigen stehen weitreichende politische, soziale und kulturelle Umbruchprozesse. Sie lassen den Ruf laut werden nach Begriffen, die der Vielfalt von Welt und Geschichte gerecht werden, nach Normen, die Freiheit und Selbstbestimmung politisch und gesellschaftlich zur Geltung bringen und nach künstlerischen Formen, die die Erfahrung von Weite und Unendlichkeit erfahrbar machen. Der Ruf nach «Grenzüberschreitungen» kann dabei zur radikalen Agenda zugespitzt werden und sich als Antiintellektualismus, als revolutionäre Propaganda oder als schwärmerischer Ästhetizismus äußern.

Die Geschichtsphilosophien, die in Deutschland im Gefolge Hegels entstanden sind, kennzeichnet jedoch keine radikale oder naive Emphase der Grenzüberschreitung, sondern ein Bewusstsein für die Unvermeidbarkeit von Grenzziehungen in einem dynamisch verstandenen geschichtlichen Prozess. Das gilt für Hegel ebenso wie für die Marxsche Dialektik oder den weiterentwickelten Historismus Ernst Troeltschs. Das «Ganze» entfaltet sich nur als Prozess, der sich logisch, gesetzesförmig oder strukturell beschreiben lassen muss, wobei der begriffliche Zugriff auf das «Ganze» wie das Maß der Rationalisierung des Geschichtsverlaufs erheblich variieren kann. So umkreist die Geschichtsphilosophie das Problem der Grenze, indem sie es auf unterschiedliche Weise dialektisch integriert.

In die Fußstapfen einer mehr oder minder spekulativen Geschichtsphilosophie ist in den vergangenen Jahrzehnten die sozialwissenschaftliche Modernetheorie getreten. «Grenzüberschreitung» ist hier zu einem häufig gebrauchten Programmwort geworden, das die globale und universalistische Dynamik von Modernisierungsprozessen kennzeichnen soll. Der Begriff begegnet jedoch auch in der seit einigen Jahren lebhaft geführten religions- und kulturwissenschaftlichen Debatte um eine «Achsenzeit» der Menschheitsgeschichte. Die ursprünglich von Karl Jaspers stammende Theorie ist inzwischen vielfältig weiterentwickelt und empirisch bewährt worden. Im Kern steht die Annahme einer im ersten vorchristlichen Jahrtausend in den unterschiedlichsten Kulturkreisen ablaufende Entwicklung, in der sich bestimmte kulturelle Errungenschaften nahezu parallel durchsetzen. Für wesentlich wird dabei oft der Durchbruch zu einem Universalismus gehalten, der die Grenzen ethnischer Weltbilder grundsätzlich sprengt. Auch in diesem Zusammenhang begegnet der Begriff der «Grenzüberschreitung» in einem positiven Sinne.

Doch steht der Begriff auch für die Ambivalenz der Moderne. So mündet die Modernetheorie Hans Schelkshorns in eine «Dialektik der Entgrenzung», die in den anhaltenden Streit um die Legitimität von Aufklärung und Moderne eingreift, indem sie philosophische und kulturelle Aspekte unter dem Begriff der «Entgrenzungen» zusammenfasst und dabei von der doppelten Semantik des deutschen Wortes «Grenzen» Gebrauch macht. So gehören zur Moderne nicht nur bestimmte Rationalitätsformen, wie ein völkerrechtlicher Universalismus, die Aufwertung der wissenschaftlichen curiositas oder die Idee einer grenzenlosen Kreativität menschlicher Freiheit, sondern auch im weiteren Sinne kulturelle Dynamiken wie die Entdeckung neuer Weltregionen und der weltweite Siegeszug der modernen Technik und der Marktwirtschaft. «Entgrenzungen» stehen auf diese Weise am Ursprung universalistischer Errungenschaften wie dem modernen Menschenrechtsethos, aber auch für die Entfesselung prekärer technologischer und ökonomischer Dynamiken. Dieser dialektische Zugang ermöglicht es, die Zerstörungskraft solcher Dynamiken ernstzunehmen, ohne die universalistischen Errungenschaften durch radikale Ausstiege zu verspielen. Zugleich soll es möglich werden, zwischen dem «legitimen Protest» modernitätskritischer Bewegungen und «fundamentalistischer Regression» zu unterscheiden.

Vor diesem Hintergrund lässt sich das Verhältnis des Christentums zu «Grenzüberschreitungen» auf unterschiedliche Weise thematisieren. Ein erster Fragenkreis betrifft dabei das Verhältnis des Christentums zu den grenzüberschreitenden Dynamiken der Moderne. Wie stellt es sich heute theoretisch wie praktisch zu ihren universalistischen Projekten? Welche Haltungen nimmt es gegenüber den übersteigerten Dynamiken der «Grenzüberschreitung» ein? Wie findet es ein Verhältnis zu begrifflichen, ethischen, politischen, ästhetischen Grenzziehungen, die als kritisch-konstruktive Teilnahme an den Projekten von Aufklärung und Moderne gelten können? Ein zweiter Fragenkreis bezieht sich dagegen auf die Ursprünge des Christentums. Kennzeichnet das Christentum eine universalistische Dynamik bzw. hat es eine solche verstärkt? Hier bietet die Achsenzeitdebatte eine wertvolle Heuristik, die viele seit langem geführter theologischer Debatten unter einer Perspektive zusammenführen kann. Man denke an das Verhältnis von Christentum und Judentum und an die meist als «Hellenisierung» bezeichnete Begegnung des Christentums mit dem Denken und dem Recht der griechisch-römischen Antike. Die Achsenzeittheorie legt dabei den Fokus auf universalistische, «grenzüberschreitende» Dynamiken, zugleich richtet sie – jüngst vor allem im Werk von Hans Joas – den Fokus auf die religiösen Voraussetzungen solcher Dynamiken.

Das vorliegende Heft kann nur ausgewählte Aspekte aus diesen Fragenkreisen nachgehen. Den Anfang machen Ludger Schwienhorst-Schönberger und Jochen Sautermeister, die in ganz unterschiedlichen Bereichen eine Auseinandersetzung mit modernen Emphasen der Grenzüberschreitung führen. Ludger Schwienhorst-Schönberger nimmt dabei die idealistische Auslegungsgeschichte der Sündenfallerzählung in Gen 3 zum Ausgangspunkt, die die zur Erkenntnis von Gut und Böse führende Grenzüberschreitung der Stammeltern als einen zu Freiheit und Autonomie führenden Entwicklungsschritt versteht. Der streitbare Beitrag setzt dieser Auslegungstradition und neueren exegetischen Positionen, die diese Tradition aufgreifen, die These entgegen, dass die Pointe des biblischen Textes, in der die Grenzüberschreitung als «Beziehungsstörung» zwischen Gott und Mensch zur Sprache kommt, auf diese Weise verfehlt werde. Der Beitrag von Jochen Sautermeister widmet sich dagegen aktuellen Phänomenen des «Human Enhancement» und gelangt dabei zu einer kritischen Grundeinschätzung. Anhand des derzeit vieldiskutierten Buches «Homo Deus» des israelischen Historikers Yuval Noah Harari skizziert Sautermeister unterschiedliche Szenarien der technologischen und digitalen Selbstvervollkommnung des Menschen, die das Humanum selbst in Gefahr bringen. Der Beitrag bringt demgegenüber ein Verständnis gelungener Identitätsbildung ins Spiel, das der Kontingenz menschlicher Lebensvollzüge – und damit den Grenzen des Menschseins – Rechnung trägt.

Hans Schelkshorn bietet in seinem Beitrag einen Einblick in seine weit ausgreifenden Studien zu Entgrenzungsdynamiken der europäischen Moderne. Die Ambivalenz solcher Dynamiken führt dabei zu der oben beschriebenen dialektischen Verhältnisbestimmung von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, die als Kennzeichen der kulturellen wie der geistesgeschichtlichen Moderne angesehen werden kann. So wird der Blick frei für eine Chancen und Gefahren gleichermaßen berücksichtigende Sicht auf Modernisierungsprozesse. Christian Stoll greift mit dem Begriff des «Universalismus» einen Schlüsselbegriff gegenwärtiger modernetheoretischer Debatten auf und beleuchtet das Grundproblem einer auf Grenzüberschreitung angelegten Ethik anhand des literarischen Umgang mit Grenzen im Werk Theodor Fontanes und Joseph Roths. Der Vergleich zweier Autoren, die je für zentrale zeitliche, politische und religiöse Kontexte der deutschen (Literatur-) Geschichte stehen können, zeigt eine literarische Humanitätskonzeption, die Grenzziehungen und Universalität auf jeweils charakteristische Weise miteinander vermittelt.

Die Beiträge von Christoph Nebgen und Józef Niewiadomski thematisieren den christlichen Umgang mit Grenzen schließlich vor allem mit Blick auf den politisch-geographischen Sinn des Wortes. Aus der neuzeitlichen Missionsgeschichte präsentiert Christoph Nebgen anschauliche Beispiele für die Herausforderungen, die sich bei der Überschreitung der Grenzen von Kulturräumen auftun. Das Spannungsverhältnis zwischen Inkulturation und notwendigen moralischen und religiösen Grenzziehungen kommt dabei in einer von Nebgen aufgeführten Anweisung der römischen Propaganda-Kongregation aus dem Jahr 1659 an Missionare pointiert zum Ausdruck: «Betrachtet es nicht als eure Aufgabe, Sitten und Bräuche eines Volkes zu ändern – es müsste denn sein, sie ständen offenkundig im Gegensatz zur Religion und einer gesunden Moral. Was wäre abwegiger, wolltet ihr Frankreich, Spanien, Italien oder ein anderes europäisches Land nach China bringen.» Neue Perspektiven auf das Verhältnis von «Katholizität und Nation» eröffnet schließlich der Beitrag von Józef Niewiadomski, indem er den polnischen Katholizismus und sein Verhältnis zur Nation einer differenzierenden Betrachtung unterzieht. Niewiadomski zeigt nicht nur, dass die Verbindung von Katholizismus und Nation zu einer im deutschsprachigen Raum kaum bekannten «Theologie der Nation» nicht zwingend zu einer auf Ausgrenzung angelegten Identität führen muss. Er konfrontiert auch eine Rede von der «Katholizität» der Kirche, die für die Kategorie der Nation keinen Platz mehr hat, mit den in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitenden Versöhnungsbemühungen der polnischen Bischöfe nach dem Zweiten Weltkrieg. Grenzüberschreitende Dynamiken müssen demnach, so ließe sich zusammenfassen, immer in einem konkreten Kontext verortet werden, der von unvermeidbaren Grenzziehungen bestimmt ist. In dieser Spannung muss sich auch ein modernes Christentum verorten.

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