Poetische Verdichtung des GlaubensAlex Stocks «Lateinische Hymnen»

Wer ein Buch über Lateinische Hymnen aufschlägt, rechnet nicht damit, in ihm dem «Who is who» der deutschen Literatur zu begegnen. So aber ist es hier. Martin Luther hat elf Hymnen ins Deutsche übersetzt. Dichter wie Andreas Gryphius und Angelus Silesius verdeutschten die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus. Klopstock, Wieland, Schlegel, Tieck, Brentano, Droste-Hülshoff und einige mehr ließen sich von Hymnen oder Sequenzen zu Übertragungen oder eigenen Dichtungen – im wahrsten Sinne - hinreißen. Einer der größten deutschen Kirchenliedklassiker, Paul Gerhardts «O Haupt voll Blut und Wunden», geht auf den Hymnus Salve caput cruentatum zurück. Goethe gar besorgte sich beim katholischen Pfarrer von Weimar den lateinischen Text des Pfingsthymnus Veni creator spiritus und machte sich an eine eigene Übersetzung. Und für Johann Gottlieb Herder waren die Hymnen schlicht Weltliteratur. Stellt man außerdem in Rechnung, dass viele der Hymnen «weit über tausend Jahre lang von Mönchen, Nonnen und Klerikern jahraus, jahrein, Tag um Tag gebetet wurden, gehören lateinische Hymnen neben den Psalmen vermutlich zu den meistgebrauchten Texten der Weltgeschichte überhaupt.» Sie sind zudem so vielfältig und zahlreich – eine Sichtung des Materials im 19. Jahrhundert erbrachte etwa 35 000 Hymnen! -, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, in ihnen spreche sich so reich und vielgestaltig wie in keiner anderen literarischen Gattung christlicher Glaube aus: «Insofern die Hymnen so etwas wie die poetische Kontraktion der für die christliche Religion grundlegenden Feste und Devotionen darstellen, kann man in ihrem Gesamt auch eine Summe des christlichen Glaubens in seiner katholischen Version finden.»

Weltgeschichte! Weltliteratur! Summe des Glaubens! Geht‘s nicht eine Nummer kleiner? Nein, würde Alex Stock antworten, der sich wie kein zweiter darauf versteht, im «Poetischen» Orte theologischer Erkenntnis zu erblicken. Sein Hymnenbuch aus dem Jahr 2012 ist daher mehr als nur ein Nebenprodukt seiner seit den 1990er Jahren auf elf Bände angewachsenen Poetischen Dogmatik, die voraussichtlich in diesem Jahr mit dem zweiten Band der Ekklesiologie ihren Abschluss findet. Es ist vielmehr die Probe aufs Exempel der dort erprobten Methode, Theologie von den reich sprudelnden schöpferischen Quellen des Christentums her zu treiben. Eine Methode, die Stock von Theologen viel Hochachtung und noch mehr Kopfschütteln eingebracht hat, fehlt ihr doch, wie er selbst unverhohlen zugibt, «der eine Grundgedanke, aus dem sich alles ableiten läßt. Sie (die Poetische Dogmatik, C.S.) verfährt nicht deduktiv, sondern induktiv. Sie hat es primär nicht mit der Logik wahrer Sätze zu tun, sondern dem Sammeln und Sichten bemerkenswerter Dinge.» Ihre Aufmerksamkeit «gilt weniger der Stabilisierung des Fundaments […] als der Erschließung des Fundus, aus dem die Theologie ihren Unterhalt bestreitet und vielleicht einen Überschuß verwaltet […] Ein amtliches Register der Fundorte […] steht hier nicht zur Verfügung. Bleibt nur die Neugier eines ‹sensus theologicus›, der über Land geht und sich Zeit nimmt, in den kleinen Büchern und großen Räumen der christlichen Religion, in Missalen und Brevieren, Gesangbüchern und Hymnensammlungen, schöner Literatur, Lyrik, Anthologien, Bildbänden, Museen, Kirchen, und natürlich in der Heiligen Schrift, bei den Kirchenvätern und mittelalterlichen Theologen und sogar den Konzilien.»

Stocks Schriften – muss man es eigens betonen? – sind dabei weder naiv noch nostalgisch. Auch das Hymnenbuch legt es nicht aufs Museale an. Vielmehr versteht es dieser Kölner Theologe wie kaum einer, Funken aus allem zu schlagen, worauf sein Blick fällt. Seine Übersetzungen der Hymnen sind von großer sprachlicher, manchmal dichterischer Qualität und seine Deutungen von einer Detailgenauigkeit, die weniger mit Pedanterie als mit Liebe zu tun hat: Liebe zur Sache, zum Gegenstand, zur Schönheit des Christlichen.

Fragen drängen sich auf – und Einwände. Die Klassizität der lateinischen Hymnen mag hinreichend belegt sein, nicht zuletzt durch das 19. Jahrhundert, das die Bestände mit ungeheurem Fleiß sichtete und sammelte, ordnete und kommentierte, das aufwändige Gesamtausgaben für die Wissenschaft und kleine Anthologien fürs Volk edierte. Nur: brauchen wir sie heute noch? Was fangen wir in Zeiten niedrigschwelliger Liturgieangebote mit Dichtungen an, die im Mailand des hl. Ambrosius noch für gemeindlichen Volksgesang geeignet gewesen sein mögen, dann aber – allein schon ihrer Sprache wegen - zum exklusiven Kulturgut monastischen und klerikalen Lebens wurden? Ist also ein Buch über lateinische Hymnen ebenso wie die ganze «Poetische Dogmatik» nicht viel mehr als ein aufgewärmtes romantisches Projekt, das die Einsicht in den Kulturbruch und die harte Arbeit am Begriff scheut?

Nur noch wenige der 33 lateinischen Hymnen und Sequenzen, die Alex Stock in diesem Buch vorstellt, können heute als christlich-katholisches Gemeingut gelten. Im neuen Gotteslob finden sich von ihnen nur (oder immerhin) noch die beiden Pfingstgesänge Veni creator spiritus und Veni sancte spiritus, die Ostersequenz Victimae paschali laudes, der Vesperhymnus Ave Maris stella sowie Thomas von Aquins Fronleichnamshymnus Pange lingua gloriosi corporis mysterium. Außerdem wird der Marienhymnus Ave regina caelorum im katholischen Gesangbuch unter den Marienantiphonen aufgeführt. Sie immerhin sind dem kulturellen Gedächtnis der deutschsprachigen Katholiken weiterhin zugänglich. Man kann sie jederzeit beten, meditieren, singen – allein oder gemeinsam mit anderen.

Und – o Wunder der Spätzeit! – mehr noch als im Gotteslob finden sich (unterschiedlich niveauvolle) Versionen im Internet bei Youtube, eingestellt von Einzelnen und Chören aus aller Welt und oft versehen mit dem Hinweis, es handele sich um «a traditional catholic latin song». Die Klickzahlen schwanken zwischen einigen Tausend (Iesu dulcis memoria) und vielen Millionen (Veni Creator Spiritus und Dies irae). Totgesagtes feiert zuweilen fröhliche Urständ an unerwarteten Orten, die ein wenig ausgleichen, was dem Buch von Stock tatsächlich als einziges schmerzlich fehlt: die Musik und die Anleitung zum Singen dieser atemberaubend schönen Gesänge. Lebendiges Erbe ist ein Hymnus oder eine Sequenz nämlich in der Tat erst demjenigen, dem bei den Worten sogleich die Melodie in den Sinn oder besser noch: auf die Lippen kommt.

Abgesehen von dieser Einschränkung, die der Autor im Vorwort übrigens selbst formuliert, gilt für dieses Buch: Wer ein ebenso geistliches wie theologisches Vademecum durchs Kirchenjahr sucht, der wird schwerlich etwas Klügeres finden.

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Alex Stock

Lateinische Hymnen

Suhrkamp (Verlag der Welt­religionen), Berlin 2012. 402 S., Leinen, Euro 38,-