WahrheitsfragenLob der Fehlbarkeit

Die Rechthaberei hat sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kirche verschärft. Die Fastenzeit gibt allen Seiten Gelegenheit abzurüsten.

In Wahrheitsfragen gibt es keinen Kompromiss. Wir sind nicht die Verhandlungspartner Gottes.“ Für Christen sei „das Wort Gottes die Wahrheit“. Und das sei gegeben durch die „Selbstoffenbarung Gottes in Christus“. Häretiker sei ein Katholik, „der hartnäckig eine geoffenbarte und von der Kirche zu glauben vorgelegte Wahrheit leugnet“. Das erklärte der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, zur Jahreswende in der „Zeit“. Und er ergänzte, dass die Theologen „keine Politiker“ seien, „die Interessen miteinander ausgleichen“. Der Glaube sei auch „kein Parteiprogramm, das man dem Wählerwillen anpasst. Die Kirche ist kein Philosophenclub, der sich der Wahrheit annähert“.

Dabei hatten gerade im ersten Jahrtausend die bedeutendsten Theologen dank griechischer philosophischer Vorstellungen und Begrifflichkeiten hart um das - christliche - Gottes- und Christusverständnis gerungen, gekämpft, sich gegenseitig bekämpft und Kompromissformulierungen gefunden, die schließlich trotz erheblichen Widerstands über Konzilien Eingang ins Credo fanden. Je stärker die Philosophie war, umso stärker war auch die Theologie. Umgekehrt: Je schwächer die Philosophie, umso schwächer die Theologie.

Können Politiker demgegenüber nur „Schwächlinge“ der Wahrheit sein, weil sie angeblich dem Volk nur nach dem Munde reden? Der verstorbene tschechische Schriftsteller, Intellektuelle, Dissident gegen das kommunistische Regime und spätere Staatspräsident Václav Havel sah das aus säkularer Sicht anders. Auch ihm ging es darum: „in der Wahrheit leben“, politisch, gesellschaftlich, kulturell. Immer wieder bestätigt sich: Nicht die Wahrheit in der Vielfalt der Wahrheiten und Paradoxien stets vorläufiger Erkenntnis ist das Pro­blem, sondern die Arroganz der Macht, die sich unfehlbar im Besitz „der“ Wahrheit glaubt, ob religiös oder weltlich.

Papst Franziskus erklärte dazu soeben: Macht verführe den Menschen zu Korruption und Verdorbenheit. Die religiösen Führungspersönlichkeiten nahm er davon - wie schon bei früheren Reden vor Kurienmitarbeitern - nicht aus. Wer großen kirchlichen, politischen oder wirtschaftlichen Einfluss besitzt, gerate leicht in Gefahr, die Macht für egoistische Zwecke einzusetzen. Wie wahr ist dann „meine Wahrheit“ als Wahrheit? Menschen seien Sünder, könnten jedoch auf Vergebung hoffen, wenn sie Gott darum bitten, ergänzte der Papst.

Arroganz der Macht(losigkeit)

Allerdings gibt es nicht nur eine Arroganz der Macht und damit die Anmaßung einer alleinseligmachenden Wahrheit, sondern ebenso eine Arroganz der Machtlosigkeit, die sich genauso gebärdet. „Unten“ - sei es in der Kirche, sei es in der Politik - ist nicht allein schon deshalb besser als „oben“. Soeben beklagte Bundestagspräsident Norbert Lammert eine „zunehmende Verrohung der Sitten und des Umgangs miteinander“ in vielen gesellschaftlichen Debatten. „Was wir in den sozialen Netzwerken an Stil und Form der Auseinandersetzung erleben, spottet oft jeder Beschreibung … Mich bestürzt, dass Woche für Woche Menschen auf die Straße gehen, die ihre vermeintliche Sorge vor der Islamisierung des Abendlandes bekunden, aber selbst nicht die Mindeststandards der Kultur unseres Landes einhalten, für die sie angeblich kämpfen.“ Über ernsthafte Themen, so die Mahnung des „ersten Parlamentariers“, muss „ernsthaft geredet“ werden. Bei allen Kontroversen sollten die Menschen die Ängste und Besorgnisse der jeweils anderen ernstnehmen, aber auch „offenkundig unzutreffende Behauptungen“ entlarven. Wahrheit beginnt mit Wahrhaftigkeit, mit Respekt vor der Meinung des Gegners. Das gilt für die notwendigen weltlichen Auseinandersetzungen genauso wie für die religiösen und kirchlichen.

Es mag ja sein, dass da zu idealistisch über des Menschen Emotionalität gedacht wird. Zudem hat sich die Welt- wie Glaubensgeschichte nicht unbedingt nach dem besseren Argument, nach Vernunft und Wahrheit gerichtet, sondern häufig nach dem, was sich per Gewalt durchsetzen ließ. Selbst der vermeintlichen inneren Autorität der christlichen Dogmatik kam die äußere politische Autorität zu Hilfe, etwa in Gestalt des oströmischen Kaisers bei den Konzils-Gottesdisputen von Anfang an. Nicht wenige unter Häresieverdacht geratene Theologen und Mystiker wurden im zeitlichen Abstand rehabilitiert, weil ihre Wahrheiten offenbar keineswegs die schlechteren waren. Und nicht immer hat sich dauerhaft unfehlbar durchgesetzt, was einmal als unfehlbar behauptet worden war.

Die Vielfalt der Glaubenswege, Religionen, Traditionen und Kulturen ist und bleibt gerade auch religiös ein großes Rätsel der einen Schöpfung Geist und Leben, ständig in Evolution wie auch die Erkenntnis. „Eine“ Schöpfung? Die kosmische Vielfalt birgt noch viel mehr Mysterien, falls sich nicht nur mathematisch, sondern auch empirisch eines Tages herausstellen sollte, dass „unser“ Universum nur eines unter vielen, womöglich unendlich vielen, eventuell physikalisch ganz anders „gebauten“ Universen ist.

Die Fastenzeit als Zeit der Besinnung, Entsagung, Askese, Reue und Buße könnte Anlass sein, auch einmal in den großen religiösen, politischen, ökonomischen und kulturellen Wahrheitsfragen und Wahrheitsbehauptungen rhetorisch abzurüsten, Bescheidenheit einzuüben - und sei es durch ein zeitweiliges Bußschweigen gegen das dauernde Wahrheitsgeplappere auf allen Kanälen. Allzu oft mündet der Reinheitswahn, der Unschuldswahn in Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei, am Ende in den Irrtum. Wie nahezu alle Medikamente Nebenwirkungen haben, wird das Positive begleitet von Negativem. In der Flüchtlingskrise ist keine Meinung die sichere, einzig wahre. Eine „saubere“ Lösung gibt es nicht. Wir schaffen das? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Niemand weiß, wie viele Einwanderer aus fremden Kulturen noch zu uns kommen werden und welche Folgen sich daraus in zehn, zwanzig, dreißig Jahren ergeben haben. Auch sämtliche Vorschläge, den Flüchtlingsstrom abzubremsen, sind nicht frei von Fehleinschätzungen, von der Gefangenschaft in struktureller Sündhaftigkeit, in der Erbsündigkeit des Daseins: Jede Zurückweisung schafft Leid im Leid, produziert Übel im Übel. Keiner vermag wirklich zu beurteilen, was das jeweils geringere Übel sei. Alle sind Sünderinnen/Sünder - alle. Jeder Mensch braucht Vergebung, Barmherzigkeit, die nicht aus uns selber kommt. Und Buße.

Nicht einmal Barmherzigkeit ist unfehlbar gut. Auch sie kann üble Folgen haben, die Bemitleideten zu Lethargie, Passivität verführen. Barmherzigkeit kann Eigeninitiativen blockieren, Abhängigkeit produzieren. Warum - zum Beispiel - kämpfen die vielen bei uns ankommenden wehrfähigen, wehrtüchtigen jungen Männer aus Syrien und dem Irak nicht - wie es ihre Aufgabe wäre - gegen den Dschihadismus, gegen die Barbaren des „Islamischen Staats“, um die Heimat gegen den Terror zu verteidigen? Auch das ist Wahrheit: „Hilf Dir selbst, so hilft dir Gott.“ Die vielleicht etwas schlichte weltliche Weisheit gehört jedenfalls ins „Portfolio“ barmherzigen Lebens. Tapferkeit ist eine Kardinaltugend, eine Haupttugend - auch im christlichen Sinne.

Nichts wird, wie wir denken

Mehr Bescheidenheit täte auch der Zukunftsforschung und den Wissenschaftlern gut. In der professionellen Technikfolgenabschätzung hat sich ebenfalls Wahrheitsarroganz und Besserwisserei breitgemacht. Schon in den sechziger Jahren waren vom „Club of Rome“ die „Grenzen des Wachstums“ als unmittelbar bevorstehend behauptet worden. Die Rohstoffe würden rasch zur Neige gehen, zuerst das Erdöl. Immer noch sprudelt es, momentan sogar kräftiger als je zuvor - und das, jedenfalls vorübergehend, zu deutlich geringerem Preis. Welche Kosten wird das erst recht verursachen - oder doch nicht? Wie wird sich der Mensch im Klimawandel einrichten, wenn er vielleicht doch ausbleibt oder sich verschärft, in jedem Fall anders, als es Computersimulationen der hochkomplexen Chaossysteme hochrechnen? Die Hy­bris der Besserwisserei auch im journalistischen Gewerbe hat bisher jedenfalls nie die wahre Zukunft voraussehen können. Fast alles ist im Lauf der Geschichte anders gekommen, als nur zwei bis drei Generationen vorher ahnten. Nichts in der evolutiven Schöpfung, die mehr noch Zukunft sein wird, als sie Vergangenheit war, ist perfekt. Was werden die gentechnischen Möglichkeiten oder die jetzt in England erlaubten Forschungen an menschlichen Embryonen erbringen, was selbst die kühnsten Träume in den Schatten stellt? Wie werden unsere Verkehrssysteme 2116 aussehen? Wer hätte 1916 gedacht, wie wir uns heute, 2016, fortbewegen oder wie wir mit Computern ganz selbstverständlich Tag für Tag arbeiten?

Philosophenclub, weltlich Ding

Sogar Gottes Werk, das nach wie vor unvollendet in Bewegung ist, mit einer inmitten von Leid und Tod seufzenden Kreatur, hat schwere Mängel „eingebaut“. Wie perfekt kann angesichts dieser Tatsache des Menschen Werk sein? Wie „perfekt“ ist eigentlich Gott, an dessen „Vollkommenheit“ sich theologische Spekulationen philosophisch abarbeiten? Die Kirche ist kein „Philosophenclub“? Weitaus weniger noch ist sie eine „perfekte Gesellschaft“, als die sie über Jahrhunderte hinweg das Lehramt inszenierte - und wozu es die Gläubigen instruierte. Nicht erst die Aufdeckung der unendlichen Spirale sexuellen Kindesmissbrauchs durch Geistliche hat die Illusionen zerstäubt. Nun stellen gerade die Gläubigen fest: Die Wahrheit macht uns tatsächlich frei, frei auch vom Wahrheitsdünkel. Manchmal hat Kirche, das „weltlich Ding“, eben noch nicht einmal das Format eines „Philosophenclubs“. Und doch können wir nur in und mit der Kirche des Sündigen und der Sünder den Christusglauben voller Sehnsucht auf das ewige Heil leben.

In dieser Einsicht sind wir befreit, auch religiös um Wahrheit zu streiten, zu argumentieren, zu hoffen, zu glauben, zu lieben und zu beten - unter dem Horizont der Fehlbarkeit, weil Menschsein und Christsein anders gar nicht geht. Das Leben zwingt uns, in all unseren Schwächen der Erkenntnis, des Wissens und Gewissens sowie des Glaubens, mit uns selber zu ringen, zuerst um Wahrhaftigkeit. Die große Unsicherheit bleibt. Jedoch ist niemand größer vor Gott als der Sünder, der um seine Sündigkeit weiß, der sich immer wieder bekehrt, aber an seiner Pflicht festhält, nach Wahrheit zu suchen. Im Lob der Fehlbarkeit und in dessen Anerkennung erst werden die Menschen menschlich, bescheiden, einsichtig, gerecht, ehrfürchtig. Manchmal auch wieder gottesfürchtig - fromm.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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