ZukunftsangstFürchtet euch nicht

Die Deutschen sagen, sie fürchten sich vor Terror und vor Flüchtlingen. Dahinter steht oft die Sorge eines sozialen Abstiegs. Angst lähmt, dagegen kann rationale Besorgnis handlungsfähig machen.

Glaubt man den Meinungsforschern, haben die Menschen hierzulande zurzeit viel Angst. Und zwar so viel wie nie zuvor. Zu Beginn der Sommerpause förderte die jährliche Erhebung einer deutschen Versicherung einen „sprunghaften Anstieg bei fast allen Sorgen“ zutage. „2016 ist das Jahr der Ängste“, sagte der Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt, der bei der Umfrage mitgearbeitet hat.

Dieser Grundton hat sich auch im Herbst nicht geändert. Das Allensbacher Institut für Demoskopie veröffentlichte die Ergebnisse einer Befragung, die „Spiegel online“ unter der bezeichnenden Überschrift „Deutschland, Angstland“ zusammenfasste. Nur ein Drittel der Teilnehmer blickt demnach dem nächsten Jahr mit Hoffnungen entgegen.

German Angst

Dass die Deutschen in ihrer Mehrheit dazu neigen, die Welt pessimistischer zu betrachten als andere, ist nichts Neues. Als „German Angst“ hat dieses Phänomen sogar Einzug in die englische Sprache gefunden. Ähnlich wie Autobahn, Kindergarten und Weltschmerz - was ebenso ins Englische übernommen wurde - gilt es als typisch deutsch, Angst zu haben, zögerlich zu sein. Wenn es einmal positive Abweichungen von dieser Grundhaltung gibt, etwa nach einer stimmungsvoll verlaufenden Fußballweltmeisterschaft - Stichwort: „Sommermärchen“ -, wird das entsprechend breit diskutiert.

Doch derzeit stellen die Meinungsforscher eine neue Dimension der Angst bei den Deutschen fest. Dazu geführt haben - wenig überraschend - die einschneidenden Ereignisse der vergangenen Monate: die Anschläge extremistischer Muslime verstärkt auch in Europa sowie die zeitweise unkontrollierte Einwanderung hunderttausender Flüchtlinge. Genau aus diesen Entwicklungen stammen in diesem Jahr die vier größten Ängste der Deutschen: Mehr als siebzig Prozent der Befragten gaben an, sie fürchteten sich vor einem Terroranschlag. Fast ebenso viele haben Angst vor politischem Extremismus. Und jeweils zwei Drittel der Befragten sagten, sie fürchteten „Spannungen durch Zuzug von Ausländern“ und eine „Überforderung durch die Flüchtlinge“. Wie sehr sich die Stimmung verändert hat, zeigt ein Vergleich: Noch vor nur zwei Jahren fürchtete sich die Mehrheit der Deutschen vor allem davor, die Schulden anderer EU-Staaten bezahlen zu müssen; auf Platz zwei landete die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten. Ansonsten wurden persönliche Ängste genannt: etwa, im Alter zum Pflegefall zu werden oder schwer zu erkranken. Terrorismus, obwohl auch 2014 längst eine fast alltägliche Erfahrung - nur eben nicht in der eigenen Nachbarschaft -, tauchte unter den größten Ängsten gar nicht auf.

Tatsächlich hat sich hierzulande in den vergangenen zwei Jahren Dramatisches getan. Die (West-)Europäer, jedenfalls die Deutschen, haben solche Verwerfungen in der jüngeren Vergangenheit nicht erlebt. Dennoch müsste das alles - nüchtern betrachtet - nicht zu einem derartigen Anstieg von Ängsten führen. Selbst in der konservativen Tageszeitung „Die Welt“ legte ein Risikoforscher dar, dass man eigentlich vor ganz anderen Dingen Angst haben müsste als zum Beispiel vor Terrorakten. Es sei sehr viel wahrscheinlicher, als deutscher Tourist auf dem Weg nach Südfrankreich mit dem Auto zu verunglücken, als dort Opfer eines Terroranschlags zu werden, so Ortwin Renn.

Und die Flüchtlinge? Müsste die wirtschaftliche Stärke Deutschlands nicht Anlass für größere Zuversicht sein, „es“ - also die erfolgreiche Integration - zu schaffen? Soeben legten die führenden deutschen Ökonomen ihr Herbstgutachten vor. Darin korrigieren die Wirtschaftswissenschaftler ihre Vorhersage für das laufende Jahr - und zwar nach oben! Selbst die Ausgaben für die Integration der Flüchtlinge schlagen demnach positiv zu Buche, weil die Mehrausgaben des Staates die Binnenkonjunktur stärken. Zu fragen wäre freilich, wer dieses „Verschuldungsprogramm“ bezahlt und erwirtschaftet. Wo geht das in die Bilanz ein?

„Bestes Land“

Dennoch bleibt die „objektive“ gegenwärtige Realität festzuhalten, die Bundestagspräsident Norbert Lammert bei der Einheitsfeier in Dresden so beschrieb: „Nach einer Anfang dieses Jahres beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellten Umfrage unter 16?000 Menschen aus aller Welt, Meinungsführern in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, gilt Deutschland mit Blick auf politische Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur als ‚bestes Land‘ auf dieser Erde. Das ist vielleicht doch übertrieben. Aber offensichtlich ist: Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen.“

Doch all diese positiven Eckdaten scheinen die Menschen wenig zu berühren. Ihr aktuelles Empfinden ist ein anderes. Statt Hoffnung und Optimismus formulieren sie Sorgen und Ängste. Und es bleibt nicht nur bei Stimmungen: Immer mehr Bürger kaufen Pfefferspray und belegen Kurse zur Selbstverteidigung. Im ersten Halbjahr stieg die Zahl der kleinen Waffenscheine um fast fünfzig Prozent. Sie berechtigen zum Mitführen von Schreckschusswaffen. Und politisch eilt die Alternative für Deutschland von Erfolg zu Erfolg - obwohl inzwischen bedeutend weniger Flüchtlinge ins Land kommen. „Seltsame Zeiten sind dies, in denen Wahrheiten weniger Einfluss auf die politische Wirklichkeit haben als Stimmungen und Gefühle“, schrieb der Chefredakteur des „Spiegel“, Klaus Brinkbäumer. Beobachter haben dieses Phänomen auf die Formel „postfaktischer“ Verhältnisse gebracht. Das heißt: Man betrachtet die Welt jenseits der Fakten oder gar gegen die Tatsachen.

Wie aber lässt sich erklären, dass sich die Gefühlslage der Menschen dermaßen von den Gegebenheiten abkoppelt? Zum einen liegt das im Wesen von Ängsten begründet. Sie sind oft irrational und lassen sich nur bedingt durch Fakten besänftigen. Deshalb sind Ängste ja so mächtig.

Zum anderen spielen in der Flüchtlingsdebatte auch viele Medien eine unrühmliche Rolle: Manche erhoffen sich eine stärkere Auflage, indem sie bedrohliche Szenarien besonders reißerisch darstellen. Wenn „Focus“ etwa auf seinem Titelbild eine nackte Frau mit schwarzen Handabdrücken auf ihrer Haut zeigt, trägt dies kaum zur Versachlichung der Diskussion bei. Genauso schlimm ist es freilich, wenn andere Stimmen berechtigte kritische Anfragen an die Massenzuwanderung aus fremden Kulturen kleinreden oder totschweigen. Zum Beispiel auch welche kulturellen und sozialen Langzeitprobleme das mit sich bringen könnte. Rund zwei Drittel der wichtigsten Medien hätten anfangs die möglichen Probleme durch die große Zahl an Flüchtlingen „übersehen“, hat jetzt eine Untersuchung der Hamburg Media School ergeben. Auch so verspielt eine im Weltmaßstab sehr seriöse Presse- und Medienkultur ihre Glaubwürdigkeit.

Fehlende Opposition

Es liegt aber auch an der Politik selbst, wenn die Ängste der Menschen zunehmen. Gerade in diesen bewegten Zeiten müsste sie ihr Handeln nicht nur besser vermitteln, wie es immer heißt, sondern auch von begründeter Kritik korrigieren lassen. Wenn Regierungsparteien und Opposition so oft einmütig wirken, wird es schwierig. Wer nimmt dann die zweifelnden Argumente parlamentarisch auf? Wenn das nicht geschieht, haben Extremisten leichtes Spiel, mit Parolen Leute an sich zu ziehen. Statt die realen Konfliktzonen zu benennen und eigene Unsicherheit einzuräumen, führt die Politik zurzeit „wieder das Theaterstück vom starken Staat“ auf, bemängelte die „Welt“: „Eine Forderung nach mehr Sicherheitskräften jagt die andere.“ Dass auf diese Weise eine allgemeine Verunsicherung geradezu gefördert wird, nehmen Politiker offenbar in Kauf.

Ein noch abgründigerer Deutungsversuch des Angstphänomens war im Badischen Staatstheater in Karlsruhe zu vernehmen. Die Bühnen beschäftigen sich ja längst nicht mehr nur mit „dem Wahren, Schönen, Guten“. Vielmehr sind die Theater heute oft ausdrücklich politisch, stellen sich den zentralen gesellschaftlichen Fragen. Landauf, landab wird beispielsweise „Die Unterwerfung“ von Michel Houellebecq inszeniert, ein Stück, das die Islamisierung Frankreichs zum Thema hat, mehr aber noch den massiven Bedeutungsverlust des Christentums durch pure Nachlässigkeit, reines Vergessen. Das Theater will heute ein offenes Forum in der Mitte der Gesellschaft sein. Hier schlage das „Heart of the city“, das „Herz der Stadt“, behauptet zum Beispiel eine Leuchtschrift am Stadttheater Freiburg.

In Karlsruhe nun fand die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ängsten bei einer großen Diskussionsveranstaltung statt - ein Format, das man traditionell nicht unbedingt im Theater erwartet. Die Referenten bezogen dabei klar Position und waren sich schnell einig. Ihr überraschendes Fazit: Auch wenn die Umfragen genau das ergeben, die Angst vor den Fremden sei gar nicht das eigentliche Thema unserer Zeit. Sie lenke nur ab von echten, gravierenden sozialen Verwerfungen.

Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge vermutet außerdem, Fremdenangst sei nicht angeboren, „sondern anerzogen.“ Tatsächlich gehen zum Beispiel Kindergartenkinder meistens völlig unbefangen mit Gleichaltrigen um, die anders aussehen oder sich verhalten. „Fremdenangst ist gesellschaftlich konstruiert.“ Das bedeutet: Erst wenn die Gesellschaft etwas als fremd definiert, wird es so wahrgenommen. Ob Butterwegge damit richtig liegt, kann man mit der Verhaltensforschung jedoch bezweifeln, zum Beispiel damit, dass schon Säuglinge „fremdeln“ oder dass sich Kleinkinder angesichts von Fremden in die Arme der Eltern flüchten. Auch Hans Magnus Enzensberger vertrat 1992 in seinem Essay „Die große Wanderung“ die These, dass die Angst vor Fremden eine menschliche Grundkonstante sei.

Allerdings hat Butterwegge insofern recht, als Fremdenangst eine - gewollte? - „Funktion“ hat. Sie bringt die Menschen, vor allem „unten“ oder „am Rand“ der Gesellschaft, gegeneinander in Stellung. Diejenigen, die heute schon von Hartz IV leben, fürchten, dass ihnen die Flüchtlinge etwas wegnehmen könnten. Fachleute mahnen etwa, dass auch Obdachlose, Arbeitslose oder Hartz-IV-Empfänger ähnliche Solidarität erfahren müssen wie die Flüchtlinge. Oder was ist mit Studenten, die verzweifelt ein Zimmer suchen? Gerade in diesem Segment sind die Mietpreise überproportional gestiegen, wie soeben gemeldet wurde. Viele von ihnen wären für einen Wohncontainer als Notlösung genauso dankbar?… So aber wenden sich womöglich die alten gegen die neuen „Armen“ - statt gegen ungerechte Politik. Das zementiert und verschärft die bereits bestehende Spaltung der Gesellschaft.

Die Angst war schon vorher da

Christoph Butterwegge wiederholte seine Kritik an den Arbeitsmarktreformen, vor allem an den Hartz-Gesetzen. Sie hätten dazu geführt, dass wir eine „Gesellschaft der Angst“ geworden seien - und das schon lange vor den Flüchtlingen. Hartz IV habe breite Teile der Bevölkerung „entrechtet, erniedrigt und entmündigt“. Butterwegge forderte einen „wirtschafts-, steuer- und finanzpolitischen Kurswechsel“.

Auch der Wiener Theologe Paul M. Zulehner diskutierte in Karlsruhe mit. Ebenso wie Butterwegge vertrat er die These, dass hinter der Angst vor den Flüchtlingen, den Fremden, zu einem großen Teil die Angst vor dem sozialen Abstieg steht. Er hat dazu 3000 Menschen online befragt und bei drei Vierteln der Teilnehmer festgestellt: „Diese Angst ist nicht erst seit der großen Wanderbewegung von Flüchtlingen in unseren Bevölkerungen vorhanden. Vor allem weniger ausgebildete Kreise der Bevölkerung bis hinein in die untere Mittelschicht fühlen seit der Finanzkrise des Jahres 2008 immer mehr Abstiegsängste.“

„Entängstigt euch“, ruft Paul Zulehner den Menschen in seinem gleichnamigen Buch zu. Ein erster Schritt wäre, sich klarzumachen, dass die Flüchtlinge nicht in erster Linie eine Bedrohung sind - sondern Menschen, die Hilfe brauchen. Dazu sollte auch in der öffentlichen Diskussion anders gesprochen werden. Selbstverständlich müssen die Herausforderungen der Integration offen und klar benannt, sie dürfen nicht geschönt werden. Doch Symboldebatten und Aufheizungen bringen nicht weiter, wie der Hamburger Erzbischof Stefan Heße beim zweiten katholischen Flüchtlingsgipfel in Frankfurt am Main sagte: „Als Christen dürfen wir uns niemals von Furcht und Pessimismus überwältigen lassen.“

Kaum eine andere Botschaft ist in den biblischen Texten so vorherrschend wie der Aufruf „Fürchtet euch nicht“. „Hinter den vielgesichtigen Ängsten steht letztlich die Angst vor der Endlichkeit, der Vergeblichkeit, dem bleibenden Tod“, erläutert Paul Zulehner in seinem Buch. Alle diese Ängste können „entsolidarisieren“. „Wer aber aus dem Evangelium die Hoffnung schöpfen kann, dass nicht der Tod, sondern die Liebe (also Gott) das letzte Wort hat, dessen Ängste können im Umkreis dieser Hoffnung nach und nach geheilt werden. Je stärker diese Hoffnung ist …, umso eher kann ich werden, was ich bin - ein solidarisch Liebender.“

Doch damit wird man nur wieder auf die Schwäche des Christlichen in unserer Weltgegend gestoßen. „Das Problem Europas sind nicht die kraftvoll gläubigen Muslime und Muslimas, die zu uns kommen“, so Paul Zulehner: „Das Problem sind die vielen schwach gläubigen Christinnen und Christen. Wer schwach ist, bekommt eher Angst.“ Nicht das christliche Abendland sei zu retten, sondern „das Christliche im Abendland“. Zwar „nicht als Lösung“, aber als „Ermutigung“ möchte Zulehner das biblische „Fürchtet euch nicht“ verstanden wissen: „Das wäre schon gut, könnte die gesichtslose Angst, die in uns Gefühle der Abwehr gegenüber Flüchtlingen auslöst, in rationale Besorgnis gewandelt werden, die uns handlungsfähig macht.“

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