Protestantismus heuteProtestantische Selbstsäkularisierung?

Protestanten gelten als reformfreudig. Der lutherische Pfarrer Jochen Teuffel beobachtet jedoch einen dramatischen Glaubensverlust in seiner Kirche. Margot Käßmann, Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland, wehrt sich gegen Teuffels Kirchenkritik.

Als evangelischer Pfarrer hört man es immer wieder aus katholischem Mund: Die Trauung beziehungsweise der Taufgottesdienst sei ansprechend gewesen - lockerer, einfach persönlicher als in der eigenen Kirche. Es ist als Kompliment gemeint, wenn es allgemein heißt: Die evangelische Kirche sei freier, moderner, nicht so dogmatisch und glaubensstarr wie die römisch-katholische Kirche. Bei so viel Zuspruch sollte man meinen, dass die evangelischen Landeskirchen eine höhere Mitgliederzufriedenheit und damit auch eine stärkere Kirchenbindung hätten. Jahr für Jahr wird man jedoch eines Besseren belehrt, wenn die Austrittszahlen veröffentlicht werden: Es treten mehr evangelische als katholische Christen aus ihrer Kirche aus. Trotz öffentlicher Wertschätzung und politischen Wohlwollens sind es vor allem die verfassten Landeskirchen, die ihre Mitglieder nicht zu halten wissen.

Reformation = Reform?

Im Hinblick auf das sogenannte Reformationsjubiläum 2017 lässt sich ernsthaft fragen, ob der Protestantismus dauerhaft als verfasste Kirche Bestand haben wird. Ausgerechnet das Stammland der Reformation, das heutige Sachsen-Anhalt, weist gegenwärtig die niedrigste Quote kirchlich gebundener Einwohner innerhalb Deutschlands auf. Nur 13,6 Prozent der Bevölkerung waren zum Jahresende 2013 noch Mitglied in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands. Und auch bei den meisten der verbliebenen evangelischen Christen ist von einer weitgehend passiven Mitgliedschaft auszugehen. Schließlich nehmen deutschlandweit im Durchschnitt weniger als vier Prozent der Mitglieder evangelischer Landeskirchen am sonntäglichen Gottesdienst teil. Selbst den Karfreitagsgottesdienst, über Jahrhunderte hinweg mit Beichte und Abendmahl das protestantische „Hochamt“, besuchen nur noch etwas mehr als vier Prozent. In den katholischen Bistümern nehmen noch fast elf Prozent der Gläubigen im Durchschnitt an der sonntäglichen Eucharistie teil.

Die kirchliche Labilität des Protestantismus wird nicht zuletzt im Reformationsgedächtnis sichtbar. Unabhängig davon, ob Martin Luther seine 95 Ablassthesen tatsächlich am 31. Oktober 1517 an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen hat, stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine jubiläumsfähige Reformation gegeben hat. Der Begriff „Reformation“ steht ja für die Wiedergewinnung einer ursprünglichen Gestalt und damit für die ursprungsgemäße Erneuerung der Kirche. Und die hat im 16. Jahrhundert in der abendländischen Kirche nicht stattgefunden. Statt einer umfassenden Reform an Haupt und Gliedern kam es zur Kirchenspaltung und damit zur institutionellen Trennung der Christen. Die Landeskirchen in Deutschland, die sich als Erben der „Reformation“ verstehen, sind in Wirklichkeit das Ergebnis einer gescheiterten Kirchenreform.

Das Scheitern der Kirchenreform und der Verlust der Kircheneinheit waren der Grund dafür, dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Reformationsgedenktage aufkamen, bevor dann am 31. Oktober 1617 auf kurfürstliche Veranlassung hin das erste Reformationsjubiläum in den protestantischen Gebieten gefeiert wurde. Da sich das landesherrliche Kirchenregiment nicht länger als Teil der bisherigen, nunmehr „altgläubigen“ Kirche verstehen konnte, musste man für sich eine kirchliche Sonderidentität beanspruchen. Und dazu bedurfte es eines identitätsstiftenden Ursprungsereignisses, eben Luthers Thesenanschlags.

Thron, Altar und Privatreligion

Reformationsgedenken und Reformations­jubiläum sind von ihrem Ursprung her keine Kirchenfeste, sondern politische Feierlichkeiten - obrigkeitlich veranlasst, auch wenn sie kirchlich inszeniert werden. Daran hat sich auch im Hinblick auf das anstehende Reformationsjubiläum 2017 wenig geändert. Im Vordergrund steht nicht etwa die verbindliche evangelische Lehre, sondern eine „geschichtsmächtige“ Ursprungshandlung: Hammerschlägig gilt Martin Luther als der Mann, welcher der Christenheit die Unabhängigkeit von der römisch-katholischen Kirche gebracht hat.

Da dem gegenwärtigen Protestantismus der evangelische Lehrkonsens im eigenen Pluralismus weitgehend abhandengekommen ist, kann man gemeinsam kaum noch etwas Positives bezeugen (protestare). Der Protestantismus braucht daher die „liberale“ Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche, um eine eigene, wenn auch negative Identität auszuweisen. Das Verständnis des Evangelisch-Seins ergibt sich nicht länger über gemeinsame Glaubensartikel. Stattdessen spricht sich die eigene Unbestimmtheit als ein „Wir sind so frei“ aus: Wer „evangelisch“ ist, muss nicht das glauben oder das tun, was in der römisch-katholischen Kirche gilt. Er ist vielmehr in seinem Gewissen innerlich und äußerlich frei. So hat es ja schon der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in seiner Rechtsphilosophie gelehrt: „Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein.“

Was den neuzeitlichen Protestantismus bis heute auszeichnet, ist die Verbindung von religiöser Selbstbestimmung und obrigkeitlichem Kirchenregiment. Thron und Altar gehen mit Privatreligion einher. Zwar ist nach evangelischer Lehre Kirche gemeindlich verfasst, mit den Worten des maßgeblichen Augsburger Bekenntnisses als „Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (Artikel 7). Da jedoch die kirchlichen Reformen nach 1525 von den Fürsten und städtischen Räten durchgeführt worden sind, wurde Kirche von oben her organisiert. Die weltliche Obrigkeit beanspruchte für sich die Cura religionis, das heißt die Sorge für den christlichen Glauben und das Kirchenwesen im eigenen Gebiet. Für die Bevölkerung blieb der Pfarrzwang, das heißt die örtliche Bindung an die Taufkirche, weiterhin bestehen. Eine freie gottesdienstliche Versammlung war nicht erlaubt. Die jeweiligen Herrscher übernahmen die Verantwortung für den Unterhalt der örtlichen Kirchengebäude und der kirchlichen Amtsträger und beanspruchten dazu von den eigenen Untertanen den Zehnt als Realabgabe.

Auch nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1919 hat sich der obrigkeitliche Charakter der Landeskirchen weitgehend gehalten: Kirche wurde nicht vom gottesdienstlichen Versammlungsgeschehen her, sondern weiterhin von „oben“ her gebietskörperschaftlich organisiert. In den meisten Landeskirchen verblieben Organisations- und Jurisdiktionsgewalt weitgehend in den ehemals staatlichen Konsistorien, den Oberkirchenräten beziehungsweise Landeskirchenämtern.

Kirchenverfassungen, die nach Ende der Staatskirche ausgearbeitet werden mussten, sind dem jeweiligen „Kirchenvolk“ nie zur Abstimmung gestellt worden. Weiterhin sehen bis heute die Wahlordnungen zu den gesetzgebenden Landessynoden keine Direktwahlen durch die Kirchenmitglieder vor, mit Ausnahme von Württemberg. Stattdessen werden die Synodalen im sogenannten Siebwahlsystem durch Presbyterien, Kirchengemeinderäte oder Kirchenvorstände gewählt. Außerdem sind in der Regel ein Drittel der Sitze innerhalb der Landessynoden Pfarrerinnen und Pfarrern vorbehalten, die fast ausschließlich landeskirchlich besoldet sind.

Dem Pfarrer ausgeliefert

Da heißt Martin Luthers Schrift von 1523 selbstredend „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen: Grund und Ursache aus der Schrift“, und dennoch dürfen in den allermeisten Landeskirchen die Gemeinden weder ihre Pfarrerin frei wählen noch haben sie in Sachen Ordination ein Mitspracherecht.

Die gegenwärtige Organisation der Landeskirchen ist weitgehend auf die berufsökonomischen Interessen der jeweiligen Pfarrerschaft ausgerichtet. Dazu wird die Professionalität seelsorglichen Handelns herausgestellt, wie zum Beispiel durch Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Im „Deutschen Pfarrerblatt“ schrieb sie: „Die evangelische Kirche braucht professionelle Pfarrerinnen und Pfarrer, damit sie auch in Zukunft als Volkskirche existieren kann. Volkskirche ist Kasualienkirche, und die Kasualienkirche ist engstens an die Pfarrerinnen und Pfarrer als Schlüsselfiguren gekoppelt. Die Pfarrerinnen und Pfarrer wiederum brauchen die Unterstützung der Synoden und Kirchenvorstände bei ihrem herausfordernden und verantwortungsvollen Dienst, Synoden und Kirchenleitungen, die begriffen haben, dass die Zukunft der evangelischen Kirche wesentlich von der Präsenz und dem Engagement von Pastorinnen und Pastoren abhängt…, die die vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation des Evangeliums zu nutzen und zu fördern wissen.“

Man beruft sich auf die Kommunikation des Evangeliums und meint damit nicht die gemeinschaftsstiftende Selbsthingabe des Gottessohnes am Kreuz. Ist religiöse Freisinnigkeit protestantisches Credo, kommt Kirche als „Gemeinde von Schwestern und Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“, nicht zur Geltung, wie es in der dritten These der Barmer theologischen Erklärung (1934) heißt. Stattdessen arbeiten sich Pfarrer als kirchliche „Schlüsselfiguren“ an individualistisch verstandenen Amtshandlungen wie Taufe, Trauung und Bestattung professionell ab. Wo es an kirchlicher Gemeinschaft oder an verbindender Lehre fehlt, hält man als evangelischer Pfarrer Sonntag für Sonntag seinen eigenen sinnstiftenden Gottesdienst.

Religiöse Freisinnigkeit geht mit Klerikalismus einher. Darauf weist Fulbert Steffensky, ehemaliger Benediktinermönch und evangelischer Theologieprofessor, hin: „Die Pfarrer und Pfarrerinnen, also die personalen Instanzen, werden umso wichtiger, als Traditionen, Herkömmlichkeiten und selbstverständliche Lehren verblassen. Personale Instanzen werden da wichtig, wo es kaum noch einen Kanon der Lehre und des Verhaltens gibt. Man kann das an dem einfachen Beispiel der Gottesdienste sehen. Sie waren noch nie so klerikal wie heute, und evangelische Gottesdienste sind weit klerikaler als die katholischen. Man kann es schon daran sehen, wieviel ein Pfarrer im Gottesdienst redet. Früher waren er und die Gemeinde einer Tradition und rituellen Vorlagen unterworfen. Seit wir davon freier geworden sind, ist die Gemeinde ganz anders dem Pfarrer und seinen Phantasien ausgeliefert.“

Ausgedünnte Christusverkündigung

Das Scheitern der protestantischen Landeskirchen ist vorprogrammiert. Wo man sich in unverbindlicher Weise auf Kasualien, also auf Amtshandlungen an Kirchenmitgliedern, seelsorglich ausrichtet, kann Kirchenzugehörigkeit nicht dauerhaft gehalten werden. Auf was hin sollen Menschen, die der evangelischen Tradition und damit auch der christlichen Hoffnung entfremdet sind, bei einem Trauergottesdienst angesprochen werden? Fehlt es an einer Resonanz- beziehungsweise Anschlussfähigkeit für das Evangelium Jesu Christi, muss die christliche Verkündigung nicht nur am Grab immer weiter „hermeneutisch“ ausgedünnt werden. Nur so scheint sie von Bedeutung zu sein.

Je allgemeinverständlicher die „Kommunikation des Evangeliums“ zu sein hat, umso weniger vermag sie Menschen für das Passah-Mysterium Jesu Christi einzunehmen. Und je weniger man als Christ kirchlich beansprucht wird, umso bedeutungsloser erscheint einem die christliche Botschaft. Der kleinste gemeinsame Nenner des allgemein zumutbar Bedeutsamen ist auf Dauer nichtssagend.

Der gegenwärtige bürgerliche Protestantismus steht für eine religiöse Weltanschauung, die ihre Wurzel nicht im Evangelium Jesu Christi, sondern im Neuplatonismus hat. Ahnherr ist nicht etwa Martin Luther, sondern der Florentiner Renaissancephilosoph Marsilio Ficino (1433-1499) mit seinen Schriften „Theologia Platonica“ („Platonische Theologie“) beziehungsweise „De Christiana religione“ („Über die christliche Religion“). Das Heil wird in der Erkenntnis einer abstrakten Gottesidee als der letztgültigen Einheit hinter aller Wirklichkeit gesucht.

Ergänzt wird diese Weltanschauung durch einen religiösen Dienstleistungsservice, der für lebenszyklische Übergänge wie Geburt, Erwachsenwerden, Hochzeit oder Tod „sinnstiftende“ Riten (rites de passages) anbietet. Über diese Amtshandlungen hinaus sucht man durch Ausdifferenzierung kirchlicher Handlungsfelder Menschen in ihren verschiedenen Lebensbezügen zu erreichen. Das Paket aus intellektueller Weltanschauung, pastoraler Dienstleistung und kirchlichen Einrichtungen nennt sich „Volkskirche“ und hat seinen finanziellen Preis in der Kirchensteuer.

Kirche ohne Volk?

Man will als „Volkskirche“ einen gesamtgesellschaftlichen Geltungsanspruch aufrechterhalten und findet dabei immer weniger Bezug zu den eigenen Mitgliedern. Wo diese kirchlich nichts zu empfangen haben, ist es eine Frage der Zeit, wann der steuersparende Kirchenaustritt vor dem Standesamt vollzogen wird.

Wenn die evangelische Lehre Kirche als Versammlung der Gläubigen bestimmt, kann von einer protestantischen „Volkskirche“ keine Rede sein. Christsein lässt sich nur in der Gemeinschaft der Gläubigen erlernen und leben. Schließlich ist der christliche Glaube keine Weltanschauung, sondern ein Beziehungsgeschehen, das einer besonderen Sprach- und Handlungsgemeinschaft bedarf. Ohne gemeinschaftsfähige Lebensform, ohne eingeübte Gebets- und Lektürepraxis wird einem die christliche Botschaft auf Dauer bedeutungslos - man hat nichts Wirkliches zu empfangen.

Das Evangelium Jesu Christi birgt einen eigensinnigen Wortschatz, der in der gottesdienstlichen Praxis und insbesondere in der Feier der Eucharistie beziehungsweise des heiligen Abendmahls immer wieder neu zur Geltung kommt. Sind Menschen als erlöste Sünder in die Christusgegenwart hineingenommen, erschließt sich ihnen das Reich Gottes als verheißungsvolle Wirklichkeit. Den „Tätern des Worts“ (Jak 1,22) ist die Hoffnung nicht zu verdenken.

Der Protestantismus hingegen betreibt religiöse „Empfängnisverhütung“. Er geht fehl in der Annahme, man könne die christliche Botschaft ins Unverbindliche übersetzen, so dass es weder der Hingabe des Gottessohnes am Kreuz noch der eigenen Hingabe im Glauben bedarf. Die Folge ist eine kirchliche Selbstsäkularisierung.

Finanziell hält die evangeliumswidrige Kirchensteuer den verfassten Protestantismus immer noch am Leben. Deren Erhebung gibt Auftrieb, hält eine pfarrerzentrierte Kirchenorganisation gleichsam wie ein großräumiges Schiff über Wasser. Wenn auch nicht auf den ersten Blick sichtbar, fehlt diesem Kirchenschiff jedoch die Steuerung, und auch der eigene Antrieb ist erlahmt. Man treibt flussabwärts, unmerklich langsam. Flussabwärts vorausgeschaut, ist kein Ende in Sicht: Es geht doch, es geht doch mit uns trotz allem weiter. Wer antriebs- und steuerlos im unbekannten Zeitfluss abwärts gleitet, kommt unbemerkt in eine reißende Stromschnelle, kentert und erleidet Schiffbruch.

Jochen Teuffel, Dr. theol., evangelischer Gemeindepfarrer in Vöhringen/Iller bei Ulm.

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Protestantische Glaubensfreude

Von Margot Käßmann

Als evangelischer Pfarrer beklagte Jochen Teuffel im katholischen Medium (CIG Nr. 43) süffisant, geradezu mit Lust am Niedergang: Die „kirchliche Labilität des Protestantismus wird nicht zuletzt im Reformationsgedächtnis sichtbar“. Da reibt sich die lutherische Leserin erstaunt die Augen. Wenn ein evangelischer Pfarrer tatsächlich fragt, ob es eine Reformation gegeben hat, oder sich in die These hineinsteigert, die Kirchenreform sei gescheitert, hat er im Studium entweder die Dogmatik oder die Kirchengeschichte ausgelassen. Wofür steht er theologisch ein?

Wer die Vorbereitungen für 2017 begleitet, erlebt einen Protestantismus, der kein deutschtümelndes Lutherheldengedenken plant, sondern ein selbstbewusstes internationales Reformationsjubiläum mit ökumenischem Horizont und in guter Kooperation mit staatlichen Stellen. Vor allem unsere europäischen Partnerkirchen beteiligen sich mit viel Engagement an der Vorbereitung, aber auch die Kirchen der Reformation beispielsweise in Amerika, Korea, Tansania und an anderen Orten. Und mitten in einer sehr säkularisierten Gegend Deutschlands freuen sich Menschen, die nicht kirchlich gebunden sind, auf das Jubiläumsjahr und bereiten sich intensiv vor, auf die Inhalte wie auf die Gäste. Dabei stehen selbstverständlich Glaubensfragen im Mittelpunkt, sogar so sehr, dass der Schrift „Rechtfertigung und Freiheit“, die die theologischen Grundlagen der Reformation zusammenfasst, schon vorgeworfen wurde, die Reformation allzu kirchlich zu vereinnahmen.

Ohne Selbstzerfleischung

Außerdem gibt es eine geradezu überraschende Freude am ökumenischen Miteinander, das in den letzten Jahrzehnten neu errungen wurde. Die Frage, wie nicht abgrenzend gefeiert werden kann, sondern die Realität der Ökumene sichtbar wird, steht auf der Tagesordnung. Und es wird der Lernprozess des Protestantismus gefeiert, etwa im Verhältnis zum Judentum oder auch in der heute klaren Abkehr von protestantischem Obrigkeitsdenken hin zu einer Trennung von Kirche und Staat, die ein konstruktives, aber auch kritisches Miteinander möglich macht.

Mich erstaunt immer wieder, wie sehr manche Protestanten sich nicht einmal schlicht mitfreuen können an den Chancen eines Jubiläums, durchaus auch den missionarischen, sondern immer gleich das Messer aufklappen zur Selbstzerfleischung. Als ich vor vielen Jahren in China war, dachte ich, ich könnte dieses ewige und zeitschindende, diktatorisch verordnete Wechselspiel von Kritik und Selbstkritik in einem solchen kommunistischen Land wahrscheinlich nicht ertragen. Ab und an neigt jedoch leider auch so mancher Protestant dazu. Weil ich unserer Kirche, unseren Kirchen und unserem Land insgesamt aber die Freude am Jubiläum gönne und diese Chance gern wahrnehmen möchte, antworte ich in zehn kurzen Punkten auf die Darstellung des Kollegen Jochen Teuffel.

1. Der Begriff der „Selbstsäkularisierung“ wurde von Altbischof Wolfgang Huber in seiner Zeit als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland geprägt. Er hat mit diesem Begriff darauf hinweisen wollen, wie wichtig es ist, dass in der Diakonie, in Akademien, Kindertagesstätten und Schulen auch klar und deutlich ist, auf welcher Grundlage wir diese Einrichtungen betreiben: nämlich auf der Basis unseres christlichen Glaubens in seiner protestantischen Ausprägung. Um der eigenen Identität willen sei das gerade im säkularen Umfeld dringend notwendig, so Huber. Sein Impuls damals hat viel dazu beigetragen, dass heute die evangelische Verortung dieser Einrichtungen sehr viel klarer ins Bewusstsein gebracht wird als etwa in den siebziger oder achtziger Jahren, nach innen wie nach außen.

Das Reformationsjubiläum

2. Die Kirchenaustritte allein auf die Protestanten zu beziehen, zeigt einen gewollt eingeschränkten Blickwinkel. Sicher, die vielen Kirchenaustritte schmerzen uns. Aber es sind gemeinsame Erfahrungen, leider. Im Jahr 2014 sind auch mehr Katholiken denn je aus ihrer Kirche ausgetreten, mehr als 218000. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen sich ungern an Institutionen binden, das erfahren auch Parteien und Gewerkschaften. Wenn Protestanten mehr und offenbar „leichter“ aus ihrer Kirche austreten, hat das gerade auch theologische Gründe. Für uns gilt nicht „extra ecclesiam nulla salus“, also dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt. Manch ausgetretener Katholik erzählt mir, dass ihn diese Frage bis heute umtreibe, sie ist also - oft unbewusst - weiterhin ein Merkmal römisch-katholischen Kirchenverständnisses. Dass die Kirche weder Sünden vergeben noch allein das Heil vermitteln kann, das ist aber nun Urgestein reformatorischer Theologie, mit dem wir in der evangelischen Kirche leben müssen und wollen!

3. Zu behaupten, die evangelische Kirche laufe mit dem Bild eines den Hammer schwingenden Luthers durch die Gegend, ist schlicht Unfug. Wer sich nur ein klein wenig mit den Vorbereitungen des Reformationsjubiläums befasst, kann auf den ersten Blick erkennen, dass zwischen Legenden und Theologie klar unterschieden wird. Wobei: Auch Legenden haben stets einen Kern von Wahrheit und sind gerade in der Überlieferung von Bedeutung. Der wissenschaftliche Beirat für das Reformationsjubiläum unter der Leitung des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio (übrigens römisch-katholisch), der namhafte Expertinnen und Experten zur Reformation vereint, hat für eine differenzierte Perspektive gesorgt.

Auch der Vorwurf, 2017 stehe nicht die Lehre im Vordergrund, sondern die politische Feierlichkeit, geht ins Leere. Es gibt getrennt eine kirchliche und eine staatliche Geschäftsstelle zur Vorbereitung, die in guter Zusammenarbeit, aber mit je eigenen Schwerpunkten planen und handeln. Sichtbar wird das jedes Jahr, wenn in der Lutherdekade zunächst mit einem Gottesdienst der neue Schwerpunkt eingeführt wird und dann an einem anderen Ort ein staatlicher Festakt in eigener Regie folgt. Dieses Jahr findet das in Straßburg zum Themenjahr „Reformation und die Eine Welt“ statt. Die französische Partnerkirche widerlegt auch damit die These von der provinziellen Engführung.

4. Wer erklärt, dem Protestantismus sei der „Lehrkonsens im eigenen Pluralismus weitgehend abhandengekommen“, versteht den Ausgangspunkt der Reformatoren nicht - oder will ihn nicht wahrhaben. In Glaubens- und Gewissensfragen ist jeder Mensch frei. Das ist eine, vielleicht die entscheidende Erkenntnis der Reformation. Niemand, kein Dogma, keine kirchliche Instanz, keine Inquisition und auch keine Glaubenskongregation kann das Einzelgewissen zwingen. Das ist die Haltung von Luther in Worms 1521, die Menschen in aller Welt überzeugt hat. Das hat nun gerade nicht Libertinismus zur Folge, der meint, jeder könne glauben, was er wolle. Voraussetzung für eine Position ist das eigene Ringen, und zwar mit Bibel und Vernunft.

5. Diese Freiheit bedeutet nun gerade nicht, dass es kein Ringen um Konsens und Gemeinsamkeit gibt. Beim Kollegen Teuffel ist die Freiheit offenbar angstbesetzt. Pluralität und Heterogenität scheinen ihm ebenso verdächtig wie Liberalität und Individualität. Es ist die Stärke des Protestantismus in einem Zeitalter der Individualität, dass diese für die evangelische Kirche keinen Schrecken hat, sondern geradezu konstitutiv ist. Natürlich ist es wesentlich schwieriger, in einer Kirche um Konsens zu ringen, in der er nicht von oben verordnet werden kann. Aber dieses Ringen, dieser „Streit um die Wahrheit“, ist zutiefst christlich. Von Anfang an fand dieses Ringen statt, schon beim ersten Apostelkonzil.

Der Pfarrer und die Gemeinde

6. In der evangelischen Kirche sind nicht nur die Ordinierten, auch nicht nur Männer am Ringen um die Fortschreibung des christlichen Glaubens beteiligt, sondern alle, auch Laien, auch Frauen. So spiegelt sich das Volk Gottes auf dem Weg in der je eigenen Zeit. Synoden sind Orte, an denen anspruchsvolle sozialethische Diskussionen über Lebensbeginn und Lebensende, über Frieden und Gerechtigkeit, die Herausforderungen des Christseins im Alltag der Welt stattfinden. Dabei habe ich die Sternstunden gerade dann erlebt, wenn unterschiedliche Auffassungen nicht „von oben“ oder per Mehrheitsbeschluss entschieden wurden, sondern im Dokument selbst auch die Minderheitenposition zu Wort kam. Ich denke an die Friedensdenkschrift von 2007, die das auf beeindruckende Weise geleistet hat. Jesuanische Ethik ist für mich verbunden mit dem wachen Blick auf den anderen Menschen, der mit Respekt auch in seiner anderen Überzeugung wahrgenommen wird.

Die Spannung zwischen der persönlichen Gottesbeziehung, auf die wir reformatorisch Wert legen, und der Bindung an die Gemeinschaft ist immer Teil des christlichen Glaubens gewesen. Dass aber unsere Kirche der Gemeinde wenig Rechte zugestehe gerade mit Blick auf die Wahl von Pfarrerin und Pfarrer, ist schlichtweg falsch. In den fast elf Jahren als Landesbischöfin der großen lutherischen Landeskirche Hannovers habe ich nie erlebt, dass eine Pfarrerin gegen den Willen einer Gemeinde installiert wurde, eher, dass ein Pfarrer gehen musste, weil die Gemeinde ihm das Vertrauen entzog. In der Pfarrerschaft ist nicht selten die Sorge groß, dass die eigenen Rechte gegenüber der Gemeinde nicht geschützt sind. Wer einmal die sogenannte Zehn-Jahres-Regel in den lutherischen Landeskirchen studiert, sieht, dass Luthers Schrift von 1523 sehr wohl umgesetzt ist. Die Praktische Theologin Isolde Karle, die Jochen Teuffel zitiert, hat mit ihrer Rede von der Professionalität gerade nicht die Gemeinden abgewertet. Wer in Gemeinden nachfragt, weiß, wie wichtig die Person im Pfarramt ist; von ihrer Professionalität hängt es manches Mal ab, ob Mitglieder sich binden, im Glauben wachsen oder abgestoßen werden. Mit Klerikalismus hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die Freiheit, um die jede Gemeinde weiß, ist die, dass sie letzten Endes eben auch ohne Pfarramt existieren könnte. Das ist typisch evangelisch. Die Rede vom allgemeinen Priestertum steht dem Klerikalismus gerade entgegen, und dessen sind sich evangelische Gemeinden sehr bewusst.

Das gemeinsame Christusfest

7. Beim Reformationsjubiläum 2017 ist von Anfang an klargestellt worden, dass die Protestanten sich im 21. Jahrhundert nicht ex negativo, also in Abgrenzung gegenüber dem römischen Katholizismus, definieren müssen! Nie zuvor wurde ein Reforma­tions­jubiläum durch so viele gemeinsame Gespräche vorbereitet wie 2017. Im Zeitalter der Ökumene kann es gar keine abgrenzende Feier mehr geben. So haben der päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen und der Lutherische Weltbund einen Text „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ herausgegeben. Hier wird deutlich, wo wir verschieden sind, aber dass es, wie der Kirchenhistoriker Christoph Strohm betont, auch eine „kreative Kraft der konfessionellen Differenz“ gibt.

8. Überdies gibt es eine Vielzahl von Projekten, die in einem Briefwechsel zwischen dem Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm und dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Reinhard Marx, festgehalten wurden. Das beginnt mit der Einladung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), gemeinsam ein Christusfest zu feiern. Bei einer Bibeltagung wollen Protestanten und Katholiken ad fontes, „zu den Quellen“, gehen - allein die Schrift, ein reformatorischer Grundsatz, der heute ökumenisch verbindet. Gemeinsam werden Bischofskonferenz und Rat der EKD nach Israel pilgern - also ebenfalls das Gemeinsame und nicht das Trennende in den Vordergrund stellen. Und am Vorabend des zweiten Fastensonntags 2017 (Reminiszere) wird es einen Versöhnungsgottesdienst geben, in dem gegenseitig um Buße und Vergebung gebeten wird. Mehr Ökumene geht kaum im Jahr des 500-jährigen Jubiläums der Reformation.

9. Dass evangelische Gottesdienste klerikaler sein sollen als katholische, finde ich geradezu absurd. Gewiss, manche Gemeinden haben sich rückbesonnen auf Liturgie und Wertschätzung des Abendmahls, das halte ich für gut und wichtig. Die Gottesdienste aber, die ich erlebe, sind lebensnah, glaubensfroh und vielfältig. Und so sollen sie auch sein!

Besonders unverständlich ist mir das Argument, dass die Kirchensteuer evangeliumswidrig wäre. Jesus selbst hatte ja offensichtlich einen sehr entspannten Zugang zu Geld, es ist schlicht Teil des Lebens. So kommt es vor, auch in den Gleichnissen. Heute wird auch die katholische Kirche in Deutschland primär über Kirchensteuer-Einzugsverfahren finanziert. Zudem kann von der entsprechenden gesetzlichen Regelung - wenn sie will - jede Religionsgemeinschaft profitieren. Zum anderen wüsste ich nicht, was daran evangeliumswidrig sein soll, wenn die Starken sich bereit erklären, für die Schwachen einzutreten. Da wird leider gleich wieder extrem moralisch argumentiert nach dem Motto „Was würde Jesus dazu sagen?“. Mehr als achtzig Prozent unserer Einnahmen als evangelische Kirche kommen von weniger als zwanzig Prozent unserer Mitglieder. Das zeigt, dass hier sehr wohl umgesetzt wird, was schon in den ersten Gemeinden praktiziert wurde.

Missionarisch mit Gottvertrauen

10. Schließlich: Die Polemik von Jochen Teuffel wird offensichtlich, wenn er schreibt, der Protestantismus betreibe „religiöse Empfängnisverhütung“. Auch da wird wieder eine Art „Kampfbegriff“ benutzt, um vermeintliche Rechtgläubigkeit anzuzeigen. Dagegen halte ich: Die Evangelischen sehen Empfängnisverhütung in der Tat positiv, weil sie nämlich verantwortliche Elternschaft bedeutet und Sexualität als „gute Gabe Gottes“ betrachtet. Diese Formulierung findet sich schon in einer Denkschrift von 1971! Wahrscheinlich will Pfarrer Teuffel sagen, die evangelische Kirche sei nicht missionarisch. Da traut er ihr zu wenig zu, sie geht schlicht verantwortlich mit Glauben um in einer Gesellschaft der Religionsfreiheit, die anderen Glauben kennt und auch Menschen ohne Glauben respektiert, ohne dabei die eigene Glaubenshaltung zu verstecken. Ich jedenfalls hoffe, dass das Reformationsjubiläum Menschen neugierig macht, weil es offen sein wird für Fragen. Das ist sehr evangelisch. Luther hat die Bibel in einer volksnahen Sprache ins Deutsche übersetzt, damit alle selbst lesen können, selbst denken dürfen und auch unterschiedliche Schlüsse ziehen können. Evangelische Freiheit verhütet nicht Zugang zum Glauben, sondern ermöglicht ihn.

Die Frage, ob der Protestantismus dauerhaft Bestand haben wird, treibt mich überhaupt nicht um. Natürlich ist die Kirche fehlbar, das können wir als Evangelische so sagen in aller Freiheit. Sie wird durch Menschen gestaltet, und diese ringen um den Glauben, um die Wahrhaftigkeit, um den rechten Weg in schwieriger Zeit. Sich davon derart zu distanzieren mit einer Art Vorwurf: „Ihr säkularisiert euch selbst, ich aber glaube rechtschaffen“, zeigt wenig Liebe zur eigenen Kirche, zu den Glaubensgeschwistern und auch wenig Gottvertrauen. Vielleicht sollte Jochen Teuffel doch statt all der Philosophen mal wieder Martin Luther lesen. Der schreibt: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten ko¨nnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden’s auch nicht sein; sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: ,Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.‘“ Diesem Gottvertrauen kann ich mich getrost anschließen.

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