Religion in LateinamerikaDer bewegte Glaube

Religion in Lateinamerika ist ein großer Markt. Aber es gibt auch Glaubensverluste. Denn vieles ist im Wandel. Eine Reise durch Argentinien und Brasilien.

Südamerika gilt etlichen Bischöfe aus dem glaubensschwachen Europa als gelobtes Land des Christentums. Zwischen 90 Prozent in Venezuela sowie Paraguay und 74 Prozent in Brasilien bewegen sich dem „Fischer Weltalmanach 2012" zufolge die Anteile der Katholiken in den Ländern des Subkontinents. Eine Ausnahme sind lediglich Guyana und Suriname. „In Lateinamerika erfahre ich immer wieder, dass die Freude im Glauben ansteckend ist", sagte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, der zum Auftakt der diesjährigen „Adveniat"-Aktion Brasilien besucht hat. Anlässlich des fünfzigsten Geburtstags des Lateinamerika-Hilfswerks feierte er gemeinsam mit den Bischöfen Odilo Scherer von São Paulo und Franz-Josef Overbeck aus Essen, dem Sitz von „Adveniat", den Gottesdienst zum ersten Advent auf dem Sportplatz der Favela Cachoeirinha der brasilianischen Zwanzig-Millionen-Metropole.

Die Menschen Südamerikas sprechen ganz selbstverständlich über ihren Glauben, beobachtet der Freiburger Erzbischof. „Wir in Deutschland können vom tiefen Glauben Lateinamerikas lernen, vom Reichtum der Volksfrömmigkeit." Zollitsch stellt die seines Erachtens wenig strukturierte lateinamerikanische Kirche der „Gefahr von uns Deutschen, zuerst in Strukturen zu denken", gegenüber. Als Vorbild gelten mittlerweile die in den siebziger und achtziger Jahren im Geist der Befreiungstheologie entstandenen Basisgemeinden. Dabei waren sie dem Vatikan und weiten Teilen des europäischen Klerus einst zu politisch, zu selbstbewusst gegenüber den Mächtigen in Staat und Kirche und vor allem zu marxistisch im Denken.

Hinter dem Sinneswandel steht wohl der viel beklagte Priestermangel. Denn entgegen der Behauptung, außerhalb Europas gebe es ausreichend junge Männer, die das Priesteramt anstreben, ist das Verhältnis von Katholiken zu Priestern in Südamerika deutlich schlechter als in Europa. Die Folge war und ist bis heute, dass Pfarreien, gegliedert in mehrere Gemeinden, mit 60 000 und mehr Gläubigen in Städten keine Seltenheit sind und dass die Priester auf dem Land wegen der immensen Ausdehnungen die einzelnen Dorfgemeinden nur wenige Male im Jahr besuchen. Laien, die unter solchen Bedingungen selbstbewusst und eigenständig ihren Glauben leben, galten bislang auch hierzulande manchem als progressistisch, als „links". Unter dem Eindruck des sich verschärfenden Priester- und Gläubigenmangels, will nun aber die Kirchenführung auch bei uns mit dem Bild der glaubensfrohen kleinen Haus-, Dorf- oder Stadtteilgemeinschaften an der Basis, die sich über die seltenen Besuche des Pfarrers freuen, die Zusammenlegung von Pfarreien zu größeren Verbünden in einem freundlicheren Licht erscheinen lassen.

Von den Mächtigen zu den Armen

Dabei hatten manche schon behauptet, „die Befreiungstheologie sei zusammen mit der Berliner Mauer begraben worden", wie Sergio Silva im Band „Lateinamerika und Karibik" der Reihe „Kirche und Katholizismus seit 1945" (Paderborn 2009) anmerkt. Unbestreitbar ist zwar, dass es der neuen Theologengeneration Lateinamerikas nicht gelingt, sich weltweit so Gehör zu verschaffen, wie es beispielsweise dem peruanischen Priester Gustavo Gutiérrez, den mit einem römischen Lehrverbot belegten Theologen Leonardo Boff und Jon Sobrino oder den Bischöfen Helder Câmara und Pedro Casaldáliga gelungen war. Doch die Entstehungsbedingungen der Befreiungstheologie wie die gewaltige Unterdrückung und Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung, die zur vorrangigen Option für die Armen und die Jugend geführt haben, sind keineswegs verschwunden.

Sergio Silva zufolge liegt der zentrale theologische Beitrag über Lateinamerika hinaus darin, dass man sich im Anschluss an die bewusste Öffnung zur Welt durch das Zweite Vatikanische Konzil dem irdischen Kontext, der existenziellen Lebenswirklichkeit geöffnet hat. Damit habe die Befreiungstheologie die europäische „Kontextuelle Theologie" entscheidend beeinflusst.

„Der Fokus ändert sich mit den neuen Problemen. Heute sind das eher die Umwelt, die Lage der indigenen Völker, die Menschenrechte", meint der argentinische Friedensnobelpreisträger und Künstler Adolfo Pérez Esquivel. In Argentinien stehe beispielsweise eine Reihe von Bischöfen, Priestern und Laien derzeit auf der Seite der Ausgeschlossenen und Armen. Dabei hatten es solche Aufbrüche in Argentinien sehr schwer. Denn die überwiegende Mehrheit der Bischöfe pflegte lange gute Beziehungen zu den Mächtigen. So wurde das Engagement von Priestern der 1968 gegründeten „Bewegung für die Dritte Welt" in den Armenvierteln vielfach unterbunden aufgrund der Vorurteile, sie stehe unter marxistischem Einfluss. Die „Bischöfe lehnten sich - wie schon so oft in der Geschichte Argentiniens - erneut an die Streitkräfte an, um ‚die Nation und das Vaterland aus dem Chaos zu retten'", so Sergio Silva. Als sich 1976 General Jorge Rafael Videla an die Macht putschte, wurde dies „von führenden Mitgliedern des Episkopats ausdrücklich begrüßt und unterstützt". Nur wenige Bischöfe klagten die Verbrechen wie das Verschwindenlassen von 30 000 Regimekritikern an. Bischof Enrique Ángel Angelelli wurde für seinen Einsatz für Inhaftierte sogar umgebracht. Doch die damalige Regierung und Kirchenleitung stellten seinen bis heute nicht vollends aufgeklärten Tod als Autounfall dar.

Inzwischen ist in Argentinien die bis 1983 andauernde Militärdiktatur so weit aufgearbeitet wie in keinem anderen südamerikanischen Land. Viele Prozesse werden neu aufgerollt. Führende Militärs sind bereits zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Das ist das Verdienst von Menschenrechtsgruppen, die auch von überzeugten Christen gegründet wurden. Sie fragen nach der Wahrheit, treten für Gerechtigkeit ein und wollen die Opfer dem Vergessen entreißen.

Das Zelt der Laien

Doch auch die religiösen Kontexte ändern sich. „Nur noch fünf Prozent der städtischen Bevölkerung nehmen regelmäßig am sakramentalen, gottesdienstlichen Leben teil", erläutert Padre Javier Klajner die Situation seiner Pfarrei Madre de Dios. In dem stark verarmten Viertel mitten in Buenos Aires mit etwa 60 000 Einwohnern ist weiterhin die Volksreligiosität gegenwärtig. An Heiligen- und Marienfesten kommen viele Menschen in die Kirchen und zu Prozessionen. Doch immer mehr Menschen in den Großstädten lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. In der Oberschicht hört man auch dort oft: „Die Kinder sollen es später selbst entscheiden." Viele Mittelschichtsfamilien lassen ihre Kinder anlässlich des in Argentinien groß gefeierten ersten Geburtstags taufen. Und in den Armenvierteln gibt es immer mehr Gründe, überhaupt nicht zu taufen: Kein Geld, die Eltern sind nicht verheiratet etc. „Jedes Kind hat ein Recht auf die Taufe, unabhängig von moralischen Fragen", betont dagegen Klajner. Die Moral komme nach der Begegnung mit Jesus. Und wer nach einem Sakrament verlangt, bei dem wirke bereits die Gnade.

Deshalb tauft der engagierte Priester jeden Tag, eben wenn die Menschen Zeit finden. „Wir müssen zu den Leuten gehen, uns nach ihnen richten." Das bedeutet auch, dass die Erstkommunionvorbereitung sich über zwei Jahre erstreckt. Am Samstagnachmittag sammeln die Jugendkatecheten die Kinder auf dem gemeindeeigenen Sportplatz, um mit ihnen erst einmal zu spielen. Die Eltern essen und trinken derweil im Schatten einiger Bäume gemeinsam mit einigen engagierten Helfern. Vor allen religiösen Inhalten sollten erst einmal Beziehungen aufgebaut, zwischenmenschliche Begegnung ermöglicht werden.

Dazu gehören auch Programme für gefährdete Jugendliche, die neben seelsorglicher Hilfe psychologische Unterstützung erhalten und sich in Seminaren weiterbilden können. Drogenabhängige begleitet Ernesto Ismael Cuevas, der selber achtzehn Jahre abhängig war. Die Zusammenarbeit der Pfarrgemeinde mit staatlichen Stellen, Psychologen und Entzugskliniken ist dabei selbstverständlich.

Ganz ohne Priester muss die Pfarrei San Martín de Porres in der Diözese Merlo-Moreno im Großraum von Buenos Aires auskommen. „Nachdem unser Pfarrer geheiratet hatte, haben wir unserem Bischof ganz vorsichtig ein Konzept für die künftige pastorale Arbeit in den insgesamt vierzehn Basisgemeinden vorgestellt", erzählt Christl Huber. Überrascht war die aus Augsburg stammende Religionspädagogin, als Bischof Fernando María Bargalló ihr und drei weiteren Laien die Leitung der Pfarrei übertrug. Eine Gruppe von Priestern aus anderen Pfarreien wechselt sich ab, in San Martín Eucharistie zu feiern und Sakramente zu spenden. Da nur ein Teil der vierzehn Basisgemeinden auch über einen Gottesdienstraum verfügt und die zentrale Pfarrkirche bislang fehlt, ist ein Zelt, das immer wieder an verschiedenen Orten aufgebaut wird, der Versammlungs- und Feierort.

Priester sind keine Schachfiguren

„Das ist nicht die einzige Pfarrei meiner Diözese, die von Laien geleitet wird", erläutert Bischof Bargalló. Angesichts der abnehmenden Zahl von Priestern und vor allem Seminaristen in Argentinien wie in ganz Lateinamerika sieht er darin ein Zukunftskonzept, für das er auch unter seinen Kollegen wirbt. „Drei Bischöfe meinten nach einem Besuch: ‚Wäre es nicht besser, wenn wir alle Pfarreien den Laien überließen?'" Bargalló lacht und betont zugleich, dass er sich keineswegs gegen das Priesteramt stellen will. Ganz im Gegenteil: Entgegen manchen Klerikalisierungstendenzen und dem Eindruck eines Machtkampfes zwischen Priestern und Laien schlägt er ein Miteinander gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor. Alle haben durch die Taufe Anteil am Priestertum, Königtum und Prophetentum Jesu Christi. Dementsprechend sollen Priester und Laien in den Pfarreien Schulter an Schulter mit ihren Gaben eine Kirche bauen, die dem Evangelium entspricht - eine Kirche der offenen Türen, wo Menschen gemeinsam feiern und das Mitfühlen mit dem anderen leben.

Weil aber Priester und Gemeinden in einem gemeinsamen Prozess voneinander lernen, wehrt er sich dagegen, „seine" Priester wie „Schachfiguren zu versetzen". Es gibt beispielsweise neben einer Pfarrei mit drei Priestern derzeit eine ohne einen ordinierten Seelsorger. Auch wenn es auf den ersten Blick logisch erscheinen mag, ist der Bischof nicht bereit, einen der Priester aus der Gemeinschaft herauszureißen. Von Modellen, die immer mehr Gemeinden zusammenschließen und einem einzelnen Priester die alleinige Verantwortung aufbürden, hält Bargalló nichts. Für den Vorschlag, die Zugangsvoraussetzungen zum Priesteramt zu ändern, ist er dagegen sehr aufgeschlossen. Schließlich handle es sich beim verpflichtenden Zölibat für Weltpriester nur im römisch-lateinischen Teil der katholischen Kirche bloß um ein Gesetz. Ein erster Schritt wäre die Weihe von sogenannten Viri probati, verheirateten Männern, die sich in ihrem Familienleben und in der Gemeinde bewährt haben. „Da fallen mir in meinem Bistum eine Menge ein", sagt Bargalló, der auch einräumt, dass sich seine heutige Offenheit erst mit Hilfe seiner Priester entwickeln konnte. Die Behauptung, die Zölibatsfrage sei nur ein westeuropäisches Sonderproblem, ist also schlicht unwahr.

Mit den Menschen ihr Schicksal zu teilen, das ist das Ziel der jungen Erwachsenen der Alliança de Misericórdia (Gemeinschaft des Erbarmens). Am Wochenende übernachten sie bei den Obdachlosen in São Paulo auf der Straße und organisieren in den Favelas am Stadtrand Gebetstreffen oder Musikveranstaltungen. Die vor sechzehn Jahren entstandene geistliche Bewegung will das Erbarmen Gottes unter den Ärmsten verkünden. In verschiedenen Häusern werden beispielsweise Drogenabhängige und Obdachlose von zölibatär lebenden Schwestern und Brüdern, aber auch Familien auf dem Weg aus der Sucht und von der Straße weg begleitet.

Heilungsgottesdienste oder die sogenannte cristoteca, eine Discoveranstaltung ohne Alkohol bis morgens um halb sechs, sind stark charismatisch ausgerichtet. Padre Rogério Valadares, einer der ersten vier Priester, die aus der „Alliança de Misericórdia" kommen, verhehlt nicht, dass die charismatische Bewegung auch eine Reaktion auf die in ganz Lateinamerika, besonders in Brasilien, stark wachsenden evangelikalen und pfingstlerischen Gruppen ist. Den wichtigsten Unterschied sieht er darin, dass es bei Pfingstlern und Evangelikalen stärker um die Bekehrung des Einzelnen und dessen persönliche Gottesbeziehung geht, während bei ihnen die Gemeinschaft, der Einsatz für die gesamte Gesellschaft, für das Soziale mehr betont werde. „Religion ist in Brasilien ein großer Markt, der sehr lebendig ist, mit dem aber auch viel Geld gemacht wird", fasst Clemens Pfaffhausen von „Adveniat" die Situation zusammen.

Kirche spricht die Menschen an, wenn sie in Bewegung ist, wenn sie auf neue Herausforderungen mit neuen Visionen antwortet. Das Hilfswerk „Adveniat" feiert sein fünfzigjähriges Bestehen, also ein halbes Jahrhundert unverbrüchliche Solidarität von Katholiken aus Deutschland mit den Ärmsten, mit den Glaubensgeschwistern Lateinamerikas. Von diesen religiös bewegten und bewegenden Menschen zu lernen, heißt, vor allem auch die eigene Situation zu bedenken, das Evangelium stets neu zu befragen und selbstbewusst für das Hier und Jetzt passende Antworten zu finden.

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