Fein säuerlich, würzig und aromatisch im Geschmack. So beschreiben Kenner jenen Apfel, der seinen Ursprung im wohl dunkelsten Kapitel des vergangenen Jahrhunderts hatte. Gezüchtet wurde er von Korbinian Aigner während seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau. Das Leben des katholischen Pfarrers wurde in diesem Jahr verfilmt. Weil er nicht wegschaute, nicht stumm blieb. Ein stummer Hund will ich nicht sein heißt der Film. Der Titel geht auf ein Zitat Aigners zurück. Sein Schicksal wurde in einer Mischung aus Animations-, Dokumentar- und Spielfilm erzählt und soll zukünftig auch in Schulen gezeigt werden. Im Interview mit dem Radiosender Bayern 2 bezeichnete Regisseur Walter Steffen den Priester als „stillen Helden“, der sich für die Schöpfung und die Menschlichkeit starkgemacht habe. „Was automatisch bedeutete, sich gegen das Terrorregime der Nazis zu wenden.“ Initiator und Co-Autor des Films ist der Schriftsteller Gerd Holzheimer. Mit viel Empathie führt er die Zuschauer durch die Handlung. Parallel zum Film hat er auch das gleichnamige Porträt geschrieben Ein stummer Hund will ich nicht sein. Der Apfelpfarrer Korbinian Aigner. Basierend auf aufwendigen Recherchen vertieft es bildreich die Inhalte des Films. Doch dabei gilt: Der Film ist nicht der Film zum Buch, und das Buch ist nicht das Buch zum Film. Als Hommage an Korbinian Aigner ist beides sehens- und lesenswert.
Geboren wurde Korbinian Aigner vor 140 Jahren im Mai 1885 in einem kleinen Dorf zwischen Landshut und Freising als erstes von elf Kindern einer Landwirtsfamilie. Schon als Schulkind kletterte er mit Begeisterung auf Obstbäume und interessierte sich für deren Pflege. Von seiner Mutter Walburga lernte er, wie Apfelbäume veredelt und geschnitten werden. Als ältester Sohn hätte aus ihm durchaus ein versierter Obstbauer auf dem großen elterlichen Bauernhof werden können. Doch er entschied sich dafür, in Freising Theologie zu studieren. 1906 trat er in das dortige Priesterseminar ein. Schon als Kind fühlte er sich im Glauben aufgehoben. „Er folgt seiner Berufung“, schreibt Holzheimer, „gibt aber seine Liebe zum Obstbau niemals auf.“ Neben dem Glauben war es wohl auch diese Liebe zur Natur, die ihn in den dunkelsten Stunden, Tagen und Jahren seines Lebens irgendwie durchhalten ließ.
Bereits früh war Aigner ein Gegner der Nationalsozialisten. „1923 ist er extra nach München gefahren, um sich Hitler anzuhören. Er hat es nicht glauben können, dass dieser Mann offen ausspricht, wen er alles vernichten möchte: Juden, Kommunisten, Zigeuner und Pfarrer. Weil er sich gedacht hatte, dass er betrunken gewesen sein muss, ist Aigner noch einmal nach München gefahren. Um ihn ein zweites Mal anzuhören. Aber da hat er wieder das Gleiche gesagt“, schreibt Gerd Holzheimer. Aigner machte keinen Hehl daraus, was er über den Nationalsozialismus dachte. Im Religionsunterricht vertrat er vehement seine Meinung, ebenso wie in der Predigt der Sonntagsmesse. Er weigerte sich sogar, Kinder auf den Namen Adolf zu taufen. Überraschten Eltern erklärte er sehr hellsichtig, dass ein Junge mit diesem Namen später gebrandmarkt sei. Die Hakenkreuzfahne hängte er an Feiertagen ebenfalls nicht auf, was er auch in einer seiner Predigten kundtat: „Damit ihr nicht auf schiefe Gedanken kommt, möchte ich euch mitteilen, dass die Fahne da draußen nicht geweiht ist und nicht in die Kirche hereingehört.“ Mit seinem couragierten Einsatz, seinem Denken und Handeln geriet Aigner schon bald ins Visier der Nationalsozialisten. Er stellte sich anderem öffentlich die Frage, ob das fünfte Gebot auch im Hinblick auf Hitler gelte. In einer Unterrichtsstunde soll er das fehlgeschlagene Hitler-Attentat Georg Elsers am 8. November 1939 mit den Worten kommentiert haben: „Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter im Sinn hatte. Dann wäre halt vielleicht eine Million Menschen gerettet worden.“ Eine junge Aushilfslehrkraft hinterfragte wohl die Aussagen Aigners bei der Schulklasse. Dadurch kam es zur Verhaftung des Pfarrers.
Nach Gefängnisaufenthalten in München-Stadelheim wurde Aigner der Gestapo überstellt und im September 1940 ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Beinahe wäre er dort an einer Lungenentzündung gestorben. Wenig später erfolgte seine Verlegung nach Dachau, jenes Konzentrationslager, das die Nationalsozialisten schon 1933 in Betrieb genommen hatten: als „Blaupause“ für all die Konzentrationslager, die entstehen sollten. Ein Ort der Entmenschlichung, der Vernichtung und des Todes. Neben politischen Gefangenen, Juden, Andersdenkenden wurden hier auch Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Sinti und Roma inhaftiert. Alle, die nicht in das Weltbild der Nazis passten. Die SS pferchte ab 1940 im „Priesterblock“ Geistliche aus ganz Europa zusammen. Rund 2800 Männer aus 20 Ländern – unter ihnen Korbinian Aigner. Wie viele Priester musste er im sogenannten „Kräutergarten“ schuften. Was die SS beschönigend als solchen bezeichnete, war alles andere als idyllisch. Vielmehr handelte es sich dabei um eine große Gärtnerei, deren Anbauflächen die Gefangenen ab 1938 anlegen und bewirtschaften mussten, während in Sichtweite getötet wurde. Aigner musste Zwangsarbeit in der Landwirtschaft und beim Bau eines Trocknungsgebäudes leisten. Bei der sehr kräftezehrenden Tätigkeit waren die Häftlinge schutzlos der Witterung ausgesetzt. Zu einer lebensgefährlichen Tortur wurde die schwere Feldarbeit zudem durch Unterernährung, unzureichende Kleidung sowie Schikanen und Misshandlungen durch die SS. Korbinian Aigner erlebt, wie der Tod im Lager wütet. Ob er in dieser Hölle die Nähe Gottes spüren konnte? Vielleicht als es ihm gelang, heimlich Äpfel zu züchten. Unter Lebensgefahr pflanzte er in den Nachtstunden zwischen den Baracken Samen, die ihm ins KZ geschmuggelt wurden. In jedem Jahr seiner Gefangenschaft entwickelte er so eine neue Sorte, die er KZ1, KZ2, KZ3, KZ4 taufte. „Bis zum Ende des Krieges muss Aigner die Qualen eines Konzentrationslagers ertragen. Was ihn überleben lässt, ist sein Glaube – und der wahrhaft unglaubliche Vorgang, selbst in einem KZ erfolgreich Äpfel züchten zu können“, so Gerd Holzheimer.
Wie Aigner war auch der gescheiterte Hitler- Attentäter Georg Elser Häftling in Dachau. Beide kannten sich nicht, wussten nichts voneinander. Im April 1945 ordnete Adolf Hitler die Hinrichtung prominenter Häftlinge an. Unter ihnen Elser. Er wurde auf dem Hinrichtungsplatz vor dem Krematorium erschossen. „Der Weg zum Krematorium führt in unmittelbarer Nähe an den Baracken, in denen die Geistlichen inhaftiert sind, vorbei“, schreibt Holzheimer. „Pfarrer Aigner muss den Schuss gehört haben, der Georg Elser tötet, den Mann, der für ihn Anlass gewesen ist, ins KZ Dachau gesperrt zu werden.“ Kurz vor der Befreiung des KZ Dachau am 29. April 1945 wurde Aigner – damals schon fast 60 Jahre alt – mit tausenden Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen auf den Todesmarsch nach Südtirol geschickt. Bei Starnberg gelang ihm die Flucht, in einem Kloster konnte er sich verstecken.
Nach seiner Rückkehr in die Pfarrei im 20 Kilometer von Dachau entfernten Hohenbercha kümmerte er sich wieder um die Gemeinde. Über seine Erfahrungen im Konzentrationslager erzählte er kaum etwas. Wenn seine Tätigkeit als Seelsorger es zuließ, dann hegte und pflegte er mit Gartenschere und Leiter den Obstgarten des Pfarrhofs. „War das Wetter schlecht, so zog er dabei den Häftlingsmantel an“, heißt es im Gedächtnisbuch für die ehemaligen Häftlinge des KZ Dachau. Zu dem Mantel hatte er für den Rest seines Lebens einen besonderen Bezug. Als er im Oktober 1966 in Freising im Alter von 81 Jahren starb, wurde der Mantel auf seinen Sarg gelegt. „Aigner hatte diesen Mantel geliebt, ihn nicht nur bei der Gartenarbeit getragen, sondern auch wenn er krank war auf die Bettdecke gelegt.“
Aigner liebte es nicht nur, Obstbäume zu pflegen, sondern malte sie auch. Seine rund 3000 naturgetreuen Aquarelle von Äpfeln und Birnen werden heute noch dazu verwendet, um Obstsorten zu bestimmen. Hin und wieder tauchen sie auch in Kunstmuseen weltweit auf. Während einige der Sorten mit KZ-Vergangenheit mit den Jahren verloren gegangen sind, hat die Obstsorte KZ3 bis heute überlebt. Sie wurde anlässlich Aigners 100. Geburtstags von der Agrarwissenschaftlichen Fakultät der TU München in „Korbiniansapfel“ umbenannt. Heute wird sie in speziellen Baumschulen angeboten und weltweit als Baum der Erinnerung gepflanzt – als Symbol des Lebens und zur Mahnung für Demokratie und Meinungsfreiheit. Seit diesem Frühjahr wächst ein Apfelbäumchen neben dem Todesmarsch-Mahnmal in Fürstenfeldbruck. Auch vor einer Schule in Neustadt in Holstein nördlich von Lübeck wurde ein Korbiniansapfelbaum gepflanzt, ebenso im Garten des oberbayerischen Klosters Benediktbeuern.
War Korbinian Aigner also ein „Apfelpfarrer“? Sicher, er war ein leidenschaftlicher Pomologe – also Apfelwissenschaftler. „Er hat sich schon als Kind in den Apfelbaum verliebt“, so Filmemacher Walter Steffen. Doch Aigner tat sich schwer mit der ihm von außen zugewiesenen Bezeichnung „Apfelpriester“ oder „Apfelpfarrer“. Im Dachauer Gedächtnisbuch ist nachzulesen, dass es ihm wohl nicht wirklich geschmeichelt haben soll, wenn er mit diesem Beinamen angesprochen wurde: „Gerne wies er dann darauf hin, er sei Seelsorger für die Menschen, nicht für die Äpfel.“ Und doch wurde der Apfel zum Symbol seines Lebens, wie Gerd Holzheimer es zusammenfasst: „In der Liebe zum Apfel spiegelt sich Aigners ungebrochener Überlebenswille, selbst in größter Bedrohung.“