Die Kommunität der Dominikaner im karibischen Santo Domingo gab sich große Mühe, für die Kundgabe einer „Sache, die alle ganz nahe angehe“, am vierten Adventssonntag 1511 die Werbetrommel zu rühren, ohne Genaueres zu verraten. Im Gottesdienst sprach der Prediger Bruder Antón Montesino dann von der Grausamkeit der Kolonialherren gegenüber der angestammten Bevölkerung und fragte: „Sind sie etwa keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben? Versteht ihr das nicht? Fühlt ihr das nicht? Wie könnt ihr in einen so tiefen, so bleiernen Schlaf versunken sein?“ Der spanische Gouverneur der Insel, seine Beamten und die Vornehmen waren empört. Nur „einige zeigten etwas Reue, doch keiner wurde bekehrt“, notierte Bartolomé de Las Casas, der sich ein Jahrzehnt später der Kommunität anschloss.
Die Predigt Montesinos aber war epochal und gehört ins Zentrum der langen und verwickelten Geschichte des „moralischen Universalismus“. Der Annahme eines Ethos also, das alle Menschen verbindet und verpflichtet. Der Kerngedanke: Nicht nur die Mitglieder der eigenen Sippe oder Nation haben das Recht auf ein sicheres, gutes Leben, sondern alle Menschen – und das schlicht deshalb, weil sie Menschen sind.
Wann entstand dieses „universalistische“ Ethos? Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas greift die These Karl Jaspers’ von der „Achsenzeit“ auf. Demnach sei es zwischen 800 und 200 vor unserer Zeitrechnung in etlichen Kulturen zu einem Ausbruch aus dem provinziellen Denken gekommen. Das betraf hebräische Propheten genauso wie griechische Philosophen, Buddha ebenso wie Konfuzius oder Zarathustra. So unterschiedlich ihre Ausgangspunkte auch waren, stets ging es dabei um einen „höheren Maßstab“, an dem sich die Macht des archaischen Staates und seines Herrschers brach und relativierte. Joas skizziert vier Weisen, die einen solchen Maßstab begründen konnten. Für Konfuzius war es beispielsweise der Blick auf eine „frühere“ Staatsform, die nun idealisiert wurde. Den griechischen Philosophen galt der „Liebhaber der Weisheit“ als ein vorbildlicher Staatslenker. Buddha hingegen wertete das Politische insgesamt ab und zog es vor, ein Leben der inneren Einkehr zu führen. Für die biblischen Propheten schließlich war es die göttliche Weisung, die dem menschlichen Zugriff entzogen war und die sogar den Widerstand gegenüber einem Herrscher beflügeln konnte, der sie missachtete. Folgt man diesen Überlegungen, so brach das „Zeitalter der Transzendenz“ bzw. das „Zeitalter der Kritik“ global an. Mehrere Kulturen konnten sich gewissermaßen „gleichzeitig“ vom archaischen Denken über die Sakralität des Herrschers lösen und ein Konzept der Würde eines jeden Menschen entwickeln.
Der Blick auf die Predigt des Dominikanerpaters zeigt jedoch, dass zwischen der „achsenzeitlichen“ Einsicht und der Realpolitik riesige Abgründe klaffen können. Mochten die spanischen Eroberer und diejenigen, die ihre Unternehmung finanzierten, auch Christen gewesen sein, so waren doch ihre Gier und ihre Verblendung um einiges mächtiger als ihr Taufschein, mächtiger auch als das Wort von der universellen Gotteskindschaft. Genau an dieser Stelle setzt Hans Joas mit seiner Schlüsselthese an: Der moralische Universalismus realisiere sich in einer steten Wechselwirkung mit dem „politischen Universalismus“. Je nach Zeit und Umstand könne er so imperiale Bestrebungen radikal in Frage stellen – oder aber von den Herrschern für ihre „partikularen“ Zwecke benutzt werden. So lassen sich epochale Teile der Geschichte unter die Grundspannung von „Universalismus“ und „Partikularismus“ stellen. Diese Spannung bedenkt Joas’ großes Werk, das in einem Dutzend Kapitel sowohl mit historischen wie mit systematischen Aspekten aufwartet.
Ist es überraschend, dass sich die Stärken und Schwächen der jeweiligen Universalität bereits in ihren Ursprüngen abzeichnen? So konnte das biblische Israel beispielsweise den umstürzenden Gedanken des Monotheismus in die Waagschale werfen. Lässt sich darin nicht die universalistische Idee schlechthin erkennen? Doch Israel war lediglich ein Winzling im Spiel der benachbarten Großmächte. Der Assimilation waren enge Grenzen gesetzt. Die Botschaft für alle Völker und die Verehrung des „Bundesgottes“ konnten nur selten in Einklang gebracht werden. Bei den griechischen Philosophen und Dramatikern hingegen fanden Fortschritte in puncto Reflexion und Empathie statt. Im Blick auf Aischylos’ im Jahr 472 vor Christus uraufgeführtes Stück Die Perser vermutete der Dramatiker Heiner Müller gar, es sei „das einzige Beispiel in der Weltliteratur…, dass ein Angehöriger eines Siegervolkes ein Stück über die Besiegten schreibt, durchaus aus der Sicht der Besiegten“. Und doch fanden die griechischen Denker in der Regel nicht zu einem Universalismus, der alle umfasste, also auch „Frauen, Barbaren und Sklaven“. Ihre Ansätze blieben elitär. Das gilt auch für die kosmopolitischen Stoiker Roms, die die Sklaverei lieber spiritualisierten – ein Sklave ist derjenige, der sich von seinen Leidenschaften beherrschen lässt – als sie zu skandalisieren.
Auch das Christentum vermochte hier keine klaren Verhältnisse zu schaffen. Es wurzelte in der prophetischen Tradition des Judentums und suchte gleichzeitig, alle ethnischen Begrenzungen hinter sich zu lassen. Die besten Voraussetzungen also für eine wahrhaft „universalistische“ Bewegung! Doch die große Versuchung der Glaubensgemeinschaft war die „imperialistische“. Ihr Verhältnis zur „Welt“ blieb zwiespältig. So bekämpften auch die Mächtigen das Christentum anfänglich, erkannten aber bald das große Potenzial einer Religion, die im Zweifelsfall eher zum Gehorsam und zum Blick auf das Jenseits erzog als den Widerstandsgeist und die Lust an den weltlichen Gaben zu kultivieren.
In drei kraftvollen Kapiteln erläutert Hans Joas die Früchte des christlichen „Universalismus ohne Egalitarismus“. Auf jeder Seite wird der Leser mit Einsichten beschenkt, die bereichern und gar verblüffen. Das gilt für Joas’ Blick auf den spätantiken Kirchenvater Augustinus, dessen riesiges Werk er unter die Perspektive der (Nicht-)Zeitgenossenschaft stellt: „Nicht nur dem römischen Imperium, sondern jedem bisherigen und künftigen Imperium wird der Ewigkeitsanspruch verweigert. Alles ist vergänglich; die Geschichte nicht eine des Fortschritts hin zum Heil, sondern eine ‚series calamitatis‘.“
Noch größer ist die Verblüffung bei der Betrachtung von Dante Alighieri (1265–1321), dem Verfasser der Göttlichen Komödie. Hans Joas schaut auf dessen Werk Monarchia und spricht ihm eine zentrale Stellung in der Geschichte des moralischen Universalismus zu. Dantes „Vision“ habe den üblichen Zwiespalt „Papsttum“ – „Kaisertum“ überschritten. Sie verweise „auf eine einzige weltliche und weltumspannende politische Ordnung“, die auf dem Zusammenwirken aller Menschen und auf ihrer Vernunftbegabung beruhe. Joas weiter: „Kein einziger Mensch und keine einzige besondere Gemeinschaft können dieses Vermögen für sich und vollständig verwirklichen.“ Es komme deshalb auf die Vielheit und unbegrenzte Gemeinschaft aller Menschen an, wenn ein Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit erreicht werden soll. Wie naiv oder wie zukunftsweisend Dantes Vision war, diskutiert Joas eindringlich mit Blick auf die Interpretationen der Philosophen Étienne Gilson und Claude Lefort. Seine Sympathie für den Florentiner überträgt sich auch auf den Leser. Das Gleiche gilt für den bereits erwähnten Bartolomé de Las Casas, dessen Wirken Joas die keineswegs banale Überschrift gibt: „Alle Völker der Welt bestehen aus Menschen“: Las Casas und die Menschenrechte.
In den darauffolgenden Kapiteln betritt der Soziologe die weite Bühne der Moderne, deren Fortschrittserzählung immer wieder von dramatischen, ja horrenden Stücken unterbrochen wird. Zweideutig, so sein Fazit, seien die Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts gewesen (Joas widmet einen Abschnitt der „vergessenen“ Revolution in Haiti). Bedrückend sind die Entwicklungen des Totalitarismus, dessen „Gewaltgeschichte“ in gewissem Sinne die „negative“ Grundlage für die Proklamierung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 bilde. Dass es damit zu keinem Ende der Geschichte kam, ist bekannt. Der Soziologe veranschaulicht die ewigen Dilemmata des emanzipatorischen Kampfes in den Fallstudien zu Martin Luther King, Mahatma Gandhi und auch – unter der Überschrift Säkulare Utopie und Vernichtung aller Religion – zu Mao Zedong. „Überzeitliche Qualitäten kommen religiösen Traditionen eben selten zu“, stellt Joas lakonisch fest. Und: „Es gibt immer die Neigung, auf der eigenen Seite das Ideal, auf der anderen die Wirklichkeit zu betonen.“ Das mag resigniert klingen, ist es aber nicht. Es reflektiert vielmehr unser prekäres Menschsein mit seinen großen Idealen und grellen Versuchungen. Hans Joas hat ein komplexes und höchst anregendes Werk verfasst. Man könnte auch vom Buch der Stunde sprechen.