Mouhanad Khorchide und mich verbinden zwanzig Jahre des aufeinander Hörens. Von 2006 bis 2015 waren wir in einem ständigen Austausch als Kolumnisten der österreichischen Wochenzeitung Die Furche. In zehn Jahren haben wir regelmäßig die verschiedensten Themen aus der je eigenen Perspektive als Jude und Muslim betrachtet. Daraus haben wir 2019 auch den Verein „begegnen“ in Nordrhein-Westfalen entwickelt, der sich darum kümmert, dass junge Juden, Muslime und Christen einander kennenlernen und sich durch gemeinsame Erfahrungen näherkommen. Da war uns schon klar, wie eng verwandt und verbunden unsere beiden Traditionen sind und welche gemeinsame Basis wir teilen – wenn nur die Politik der letzten Dekaden uns nicht auseinandertreiben würde. In unserem Buch Umdenken! Wie Islam und Judentum unsere Gesellschaft besser machen können (2021) haben wir dies auch theologisch reflektiert: Judentum und Islam können miteinander, sind einander näher als dem Christentum, und können einer pluralistischen Gesellschaft etwas geben.
Was macht das neue Buch Khorchides so wichtig und spannend? Er schreibt hier direkt an seine muslimischen Brüdern und Schwestern. Ohne Judentum kein Islam ist ein appellativer Titel, der deutlich machen soll: Der Islam ist kein Gegenentwurf zum Judentum, so wie wir es von der jahrhundertealten christlichen Judenfeindschaft kennen. Zu lange haben christliche Denker das Judentum zur schwarzen Hintergrundfolie gemacht, vor der die Verkündigung Jesu umso heller erscheinen sollte. Schlagworte aus seinem neuen Buch – „verleugnete Quelle“, „verdrängte Verwandtschaft“ – machen deutlich, dass der Münsteraner Islamtheologe das Judentum als Ursprung und Grundlage des Islams erkennt. Damit beschreibt er eine notwendige Veränderung, die im Christentum erst das Zweite Vatikanische Konzil 1965 und der Rheinische Synodalbeschluss 1980 herbeigeführt haben.
Auch Juden hat diese geistige Verwandtschaft lange beschäftigt. Die Frage „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“ stellte vor gut 200 Jahren bereits Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874). Er kontextualisierte in seiner Arbeit erstmals Koran und rabbinische Literatur und wurde damit 1833 von der Universität Marburg promoviert. Dass er als studierter Orientalist auch im Syrischen und Arabischen bewandert war, öffnete ihm etliche Quellen. Mohammed wollte nach Geiger kein Religionsstifter sein, sondern vielmehr ein Erneuerer der seinerzeit vor ihm existierenden Offenbarungsreligionen. Sein Ziel, so Geiger, war „eine Vereinigung aller Religions-Ansichten zum Heile der Menschen“.
Abraham Geiger stand damit am Anfang der modernen Islamwissenschaft, doch deren historisch-kritische Methode hat bis heute kaum Eingang in muslimische Lebenswelten gefunden. Auch jüdisch-orthodoxe Milieus und etliche christliche Fundamentalisten haben ihre Schwierigkeiten damit. Wenn Khorchide nun aus einer muslimischen Perspektive fordert, das Judentum als theologische Quelle des Islams anzuerkennen, so betritt er vermintes Gelände angesichts des heute unter Muslimen weltweit verbreiteten Antisemitismus. Was er anbietet, ist mehr als eine empirische Analyse oder theologische Studie: Es ist der Versuch, eine neue narrative Grundlegung für das islamische Selbstverständnis zu entwickeln. Dabei ist wichtig, dass Khorchide uns daran erinnert, dass es Mohammed um Gottesfürchtige ging, nicht um Juden oder Christen. Inmitten einer polytheistisch geprägten Umgebung setzte er auf den Einen und auf die Gottesergebenen, die (so wie einst Abraham) keiner bestimmten Religionsgemeinschaft angehören müssen, um aus innerstem Wesen zu glauben. Die arabische Bezeichnung für jemanden, der sich wie Abraham „mit einem heilen Herzen Gott ergeben hat“, lautet „Muslim“ (Sure 3:67); dieser Begriff wurde somit im 7. Jahrhundert unserer Zeit noch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Glaubensvolk“ verwendet.
Khorchide argumentiert entlang eines zentralen Gedankens: Es sind nicht primär historische Fakten, die das Denken und Handeln von Menschen prägen, sondern die Art, wie über diese Fakten erzählt wird. Diese „Großerzählungen“ – kollektiv geteilte, kulturell eingebettete Deutungsmuster – prägen das Bewusstsein ganzer Gemeinschaften. Die Diagnose ist klar: In vielen muslimischen Kontexten hat sich eine antijüdische Großerzählung etabliert. Diese zu dekonstruieren und durch eine alternative, projüdische Erzählung zu ersetzen, ist das erklärte Ziel dieses Buches. Die methodische Basis ist dabei eine Verbindung aus narrativer Theologie, empirischer Sozialforschung und klassisch-islamischer Hermeneutik. Wenn er mit Blick auf die antisemitischen Haltungen in muslimischen Gemeinschaften umfangreiches aktuelles Datenmaterial präsentiert, so ist seine Darstellung faktenreich, doch nie trocken. Hie und da wünscht man sich doch noch die eine oder andere sinnvolle Erläuterung, etwa bei der Begriffsgeschichte von „Antisemitismus“ den Verweis auf Wilhelm Marr, der diesen Terminus 1879 prägte. Und wenn es zu Recht zu Beginn des Buchs heißt: „Muslime mit Wurzeln in Südosteuropa zeigen zum Teil weniger Zustimmung zu klassischen antisemitischen Aussagen als die Gesamtbevölkerung“, wäre – gerade für das österreichische Publikum – ein konkreter Hinweis auf die Bosniaken denkbar, die sich 1882 von der direkten religiösen Autorität des Sheikh ul-Islam in Istanbul lossprachen, um im Habsburgerreich einen moderaten „Euro-Islam“ zu entwickeln. Die Stärke von Khorchides Buch ist, Zahlen mit Lebenswelten zu verbinden und eine Spannbreite darzustellen, ohne in Pauschalurteile zu verfallen.
Im analytisch starken vierten Kapitel untersucht Khorchide zwei gegenläufige Thesen: Einerseits die Annahme, dass Antisemitismus im Islam lediglich ein importiertes Phänomen sei – etwa aus Europa über Kolonialismus oder Nationalsozialismus. Andererseits die Position, dass es sich um ein genuin religiös verankertes Phänomen handle. Er selbst positioniert sich dazwischen: Muslimischer Antisemitismus sei in Teilen strukturell in bestimmten theologischen Deutungsmustern angelegt – etwa in koranischen Passagen über die Juden von Medina –, aber nicht notwendig, nicht dogmatisch. Er erinnert an die positiven Aussagen über Juden im Koran, die der Rede von einer vermeintlich kohärenten antijüdischen Theologie widersprechen, und an die inner-koranische Vielfalt an sich, die Juden nicht als homogene Gruppe darstellt, sondern differenziert: „[Z]wischen jenen, die Unrecht tun, und jenen, die glauben und Gutes tun, wird im Koran wiederholt unterschieden“. Der Islam enthalte in seiner Tradition Ressourcen sowohl für Exklusion als auch für Verständigung. Diese diagnostische Doppelperspektive ist eine Stärke des Buchs: Der Autor stellt sich der Ambivalenz seiner eigenen Tradition und argumentiert nicht gegen den Islam, sondern aus einem reformorientierten innerislamischen Standpunkt heraus.
Im theologischen Zentrum des Buches steht Khorchides These, dass der Islam in seinen Anfängen wesentlich von jüdischen Überlieferungen geprägt war – insbesondere von rabbinischer Auslegung, talmudischen Erzähltraditionen und ethischen Vorstellungen. Der Prophet Mohammed habe sich als Fortführer der abrahamitischen Linie verstanden, in der das Judentum eine zentrale Rolle spielte. Darin folgt Khorchide Abraham Geiger, der in seiner philologischen Arbeit betonte, dass Mohammed keine hebräischen und aramäischen Texte zu lesen vermochte, sondern die jüdischen Überlieferungen lediglich als Erzählungen kannte. Was genau den Ausschlag für seine antijüdische Polemik gab, sei dahingestellt; für Geiger, der sich auch mit Mohammeds „Bestreitung des Judenthums im Koran“ auseinandersetzte, war eines klar: Da Mohammed die „Vereinigung aller Religions-Ansichten“ bewirken wollte, lag ihm nicht an den jüdischen Religionsgesetzen, die der Absonderung von Andersgläubigen dienen; er verurteilte somit das, was Mouhanad Khorchide „religiösen Exklusivismus“ nennt.
Khorchide stützt sich auf klassische koranische Narrative ebenso wie auf aktuelle wissenschaftliche Arbeiten. Der wissenschaftliche Hintergrund seiner Gedanken ist das umfangreiche Forschungsprojekt Corpus Coranicum – Textdokumentation und historisch-kritischer Kommentar zum Koran der großen Berliner Arabistik-Professorin Angelika Neuwirth. Von 2007 bis 2024 untersuchte diese gemeinsam mit Michael Marx und Dirk Hartwig den Koran als Text der Spätantike mit einem kulturellen Resonanzraum, der stark von jüdischer und christlicher Gelehrsamkeit und offener Kommunikation geprägt war. Khorchide hat diesem Forschungsvorhaben 2024 ein neues Dach am Zentrum Islamischer Theologie in Münster gegeben. Nun macht er die Erträge dieser Forschung mit seinem aktuellen Buch zugänglich, indem er die Rede von der „verleugneten Quelle“ etabliert. Die Formulierung ist bewusst provokant. Der Islam, so Khorchide, habe seine jüdische Herkunft in der klassischen Theologie verdrängt – aus politischem, identitätsstiftendem, nicht unbedingt theologischem Kalkül. Genau diese Verdrängung zu thematisieren, sei heute ein Akt theologischer Ehrlichkeit und interreligiöser Verantwortung. Und dafür macht sich Khorchide stark.
Das sechste Kapitel ist ein Plädoyer für einen islamischen Perspektivwechsel, der das heutige Judentum nicht als Verirrung, sondern als göttlich gewollten Teil des Heilsgeschehens anerkennt. Khorchide ruft dazu auf, jüdisches Leben nicht nur zu tolerieren, sondern theologisch positiv zu würdigen – als „Partner im Glauben an den einen Gott“. Dabei geht es ihm nicht um Synkretismus, sondern um eine neue Selbstverortung des Islams. Der Blick in die eigene Tradition soll nicht zur Abgrenzung, sondern zur Beziehung führen. In dieser Hinsicht knüpft Khorchide an die dialogische Theologie der Gegenwart an, etwa an jüdisch-christliche Verständigungsbemühungen nach der Schoa.
Wie kann diese theologische Neuorientierung in der muslimischen Welt in ein politisch-pädagogisches Programm überführt werden, das Interesse, ja Zustimmung findet? Als Religionspädagoge hat der Autor die pädagogische und politische Ebene im Blick, um die eingeforderte neue Erzählung zu vermitteln. Deshalb setzt er auf schulische Bildungsarbeit, interreligiöse Dialogforen und die politische Förderung von Friedensnarrativen. Aber auch „die Literatur und die Künste können als prophetische Vorboten dieser Erneuerung wirken … Romane, Gedichte, Filme und Lieder, die Hoffnung erzählen statt Hass, Liebe statt Feindschaft.“
Der Ruf nach einem solchen neuen Kanon mutet momentan geradezu utopisch an. Khorchide folgert jedoch mit Blick auf einen neuen Geist der gemeinsamen Menschlichkeit zu Recht: „Der Islam selbst bietet hierfür Ressourcen: Er ruft zur Anerkennung der Ahl al-kitāb, der ,Leute der Schrift‘, auf und sieht im Dialog mit ihnen keinen Verrat an der eigenen Identität, sondern eine Bestätigung des gemeinsamen monotheistischen Erbes“.
Das Buch ist dank dieser Binnenperspektive eine mutige Intervention. Ohne Judentum kein Islam liest sich als Plädoyer für theologische Selbstverantwortung und erinnert – im Stil wie in der Intention – an die dialogischen Schriften jüdischer Theologen wie Leo Baeck oder Franz Rosenzweig. Khorchides wichtiges Buch lädt ein zur Diskussion, zur Selbstprüfung, zur Neuverortung.