Christliche Impulse zum Umgang mit Menschen mit demenziellen VeränderungenDie Würde im Blick

Demenzielle Veränderungen betreffen heute immer mehr Menschen. Aktuell leben in Deutschland etwa 1,6 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Etwa zwei Drittel davon werden in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt.

Jährlich erkranken rund weitere 300.000 Menschen neu. Ungefähr 60 Prozent von ihnen entwickeln eine Demenz vom Typ Alzheimer. Je nach Ausprägung oder Schweregrad eines Demenzsyndroms sind das Gedächtnis, andere geistige Leistungen sowie die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Alltagsaktivitäten unterschiedlich stark betroffen. Sich dabei in das Erleben ausgeprägt Demenzerkrankter einzufühlen, ist eine bleibende Herausforderung: Ist der Zugang zur religiös-spirituellen Praxis deshalb für die betroffenen Menschen nicht nur erschwert, sondern vielleicht gar nicht mehr möglich, wenn man Glaube und Gebet im Kern als ein Beziehungsgeschehen und liturgische Feiern als erinnernde und vergegenwärtigende Momente begreift? Welche Impulse kann in dieses Erleben hinein eine christlich geprägte Seelsorge zum Umgang mit Menschen mit demenziellen Veränderungen beisteuern  – insbesondere dann, wenn das Gespräch als zentrales Medium seelsorglicher Begleitung bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz doch an seine Grenzen stößt? – Auf einer Spurensuche nach möglichen Antworten auf diese Fragen sollen im Folgenden drei Dimensionen exemplarisch betrachtet werden, die aus jüdisch-christlicher Perspektive das Mensch-Sein kennzeichnen (Nauer 2014; Knoll 2020): (1) die Perspektive der Würde, (2) die Perspektive der Transzendenz und (3) die Perspektive sozialer Beziehungen.

Perspektive der Würde

Bei demenziellen Phänomenen handelt es sich nach gegenwärtigem Kenntnisstand um nicht heilbare fortschreitende Veränderungen. In einer Gesellschaft, die die Würde und den Wert eines Menschen jedoch primär an der geistigen Leistungsfähigkeit festmacht, erscheinen demenzielle Veränderungen gerade als das Gegenteil gelingenden Lebens. Wenn aus biblischer Perspektive dem Menschen allein deshalb Würde zukäme, wenn er Gott lobt, ihm dankt und die Welt aktiv in göttlichem Sinn mitgestaltet (vgl. Gen 1,26), könnte man in der Tat die Daseinsberechtigung manch menschlicher Existenz in Frage stellen, wenn er zu solchen Leistungen noch nicht, nicht mehr ganz oder gar nicht mehr in der Lage wäre. Gemäß biblischem Zeugnis kommt jedem Menschen jedoch nicht aufgrund solcher funktionaler Leistungen Würde zu, sondern deshalb, weil jeder Mensch ein von Gott gewolltes und geschaffenes Wesen ist und aufgrund dessen mit ihm verbunden bleibt. Eine solche Beziehung mit Gott muss sich der Mensch weder verdienen noch hat sie Grenzen, die sie irgendwann einmal beenden. Oder anders: Gott wendet sich jedem Menschen zu und lässt diese Beziehung nicht abreißen – auch nicht zu Menschen mit demenziellen Veränderungen. Ganz klar verdeutlicht Psalm 8, dass sich Gott gerade nicht aus dem Mund der Mächtigen, Großen und Starken Lob verschafft, sondern aus dem Mund von Kindern und Säuglingen (Ps 8,3). Es sind also ausgerechnet die Anfälligen, Schwachen, Unfähigen und Machtlosen mit deren Hilfe sich Gott Präsenz und Macht gegenüber jenen verschafft, die seine Macht in Frage stellen. Deshalb gelten aus der Sicht biblisch-theologischer Anthropologie alle Menschen in jeder Phase ihres Lebens als von Gott Angesprochene und Geliebte, deren besondere Würde in der von Gott gegebenen Zuwendung und Verbundenheit im Schöpfungsakt gründet. Folglich ist die Existenz des Menschen eine von Grund auf verdankte und hält damit deutlich im Bewusstsein, dass Rechte und Achtung nicht nur denen zukommen, die sie aktiv einfordern können, sondern eben allen – besonders jenen, die sozial schwach, krank oder in sonstiger Weise abhängig oder nicht mehr mitteilungs- und handlungsfähig sind. Damit korrespondiert auf der Seite der Menschen, dass sie auf ihre je eigene Weise dazu in der Lage sind, Gottes Wort zu verstehen, seine Zuwendung und Liebe zu erfahren und darauf zu antworten – auch für Menschen mit demenziellen Veränderungen.

Perspektive der Transzendenz

Die christliche Rede von einer Transzendenzbezogenheit des Menschen meint, dass sich ein Mensch auf Gott bezieht, dessen Existenz zwar außerhalb der Welt verortet wird, dessen Präsenz gleichwohl in der Welt erlebt werden kann. In diesem Sinne verweist die Bibel auf eine Sphäre, die über das Sichtbare, Hörbare und Fühlbare hinausgeht. Im Kontakt mit dieser transzendenten Dimension kann der Mensch Geborgenheit und Kraftzuwachs erfahren – insbesondere im Rahmen gottesdienstlicher Feiern. Wenn man nun Liturgie als ein rein erinnerndes und vergegenwärtigendes Geschehen verstehen würde, erwachsen daraus natürlich Spannungen im Blick auf Menschen mit demenziellen Veränderungen. Denn: Wenn Religion nur eine Lehre und Glaube das Kennen, Für-wahr-Halten und Antworten auf Lehrsätze ist, dann wäre das Ganze in der Tat nichts für Menschen mit demenziellen Veränderungen, für die ja immer weniger ihr Intellekt zur Verfügung steht. Ein solcher Ansatz weitet sich allerdings, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es letztlich Gott ist, der Menschen zu liturgischen Feiern einlädt, um in ihnen gegenwärtig-wirksam zu werden, Beziehung zu stiften und eine Erfahrung von Gehalten-Sein zu ermöglichen. Zudem können Außenstehende nicht unbedingt wissen, was sich tatsächlich für Menschen mit demenziellen Veränderungen im Blick auf deren Glaube, Spiritualität und Gotteserfahrung im Rahmen einer liturgischen Feier ereignet. Dieser Spur folgend können Seelsorger/-innen im Kontakt mit Angehörigen oder Freunden eruieren, was den Betroffenen in ihrem Leben wichtig und heilig war – oder besser: ist! Von hier aus lassen sich dann Wege eruieren, diese Menschen (wieder) zu erreichen, transzendente Kraftquellen zu erschließen und ihnen individuelle, religiös-spirituelle Ausdrucks formen anzubieten. Da die jetzige ältere Generation noch mehrheitlich kirchlich sozialisiert wurde, bieten sich dafür – trotz bestehender Einschränkungen mentaler Leistungen – einige Ansatzpunkte. Christlich geprägte Menschen sind vertraut mit dem Kirchenjahr, mit liturgischen Feiern oder dem Kirchenbesuch. Seelsorger/-innen können auf (frühere) religiös-spirituelle Praktiken zurückzugreifen. Die Erfahrung zeigt: Wer mit Menschen, die an demenziellen Veränderungen leiden, in nahem Kontakt ist, wird im Zuge von religiösen Feiern erleben, dass die Beteiligten darin schöne, besondere Momente erfahren. Es eröffnen sich Räume der Einbeziehung, der Gemeinschaft, der Freude und des Trostes. Dazu zählen insbesondere kurze, gottesdienstliche Feiern mit einfachen Worten und traditionellen Lieder, Gebeten (zum Beispiel Vater unser, Ave Maria) oder Psalmen (zum Beispiel Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“).

Diakon Tobias Tiedeken (Bistum Münster) berichtet aus seiner langjährigen, demenzsensiblen Gottesdienstpraxis, dass eine bekannte biblische Geschichte, die einfach nacherzählt wird, die Menschen gut erreicht; dass Gesten wie das Kreuzzeichen oder ein Einzelsegen mit Handauflegung die Menschen anspricht; dass im Augenkontakt plötzlich etwas „aufblitzt“ und die Menschen für einen Moment ganz da sind; dass da im gemeinsamen Singen Töne sind, die die Menschen (er)kennen und wieder zu Liedern werden, die ihnen seit vielen Jahren bekannt sind (zum Beispiel Großer Gott, wir loben dich; Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren; Danke für diesen guten Morgen). Gerade Musik und das Singen werden so zu einem hilfreichen Zugang zu Menschen mit demenziellen Veränderungen. Da jedoch Singen ohne Instrumentalbegleitung oft schwierig ist (und auch nicht so schön klingt), hat sich in solchen Gottesdiensten der Einsatz von CDs bewährt, wie sie vom Tageszentrum am Geiersberg (Wetzlar) speziell für demenzerkrankte Menschen aufgenommen wurden. Diese CDs berücksichtigen, dass ältere Menschen tiefer und langsamer singen als Jüngere, und dass sie zwischen den Zeilen und Strophen mehr Atempausen benötigen. In solchen Gottesdiensten werden aber nicht nur die Betroffenen, sondern auch die mitfeiernden Betreuungskräfte aus den jeweiligen Wohnbereichen berührt, wenn sie erleben, dass jemand, der sich sonst nicht (viel) äußert, plötzlich mitgeht, mitsingt, mitbetet und auch noch einige Zeit danach innerlich zur Ruhe kommt.

Perspektive sozialer Beziehungen

Die biblischen Schriften zeichnen den Menschen von Anfang an als ein Beziehungswesen. Das menschliche Leben ereignet sich sozial, das heißt, es findet im Kontakt mit anderen oder in Gemeinschaft statt (zum Beispiel Familie, Freundschaft). Auch Menschen mit demenziellen Veränderungen leben in einem Geflecht von Beziehungen aus Angehörigen und Freunden. Diese sozialen Bezüge stärken eine relationale Identität. Zugleich verschweigt die biblische Rede vom Menschen als ein relationales Wesen nicht dessen mögliches Versagen (zum Beispiel eine fehlende Sensibilität für den anderen oder einen Mangel an Verantwortungsübernahme). Demgemäß sollte im Umgang mit Menschen mit demenziellen Veränderungen nicht nur den Betroffenen, sondern auch deren Angehörigen und Freunde Aufmerksamkeit gewidmet werden. Laut Statistischem Bundesamt (2022) werden in Deutschland vier von fünf Pflegebedürftigen von Angehörigen versorgt. Zwar unterstützt sie dabei meist ein ambulanter Pflegedienst, doch jenseits dieser Mithilfe liegt die intensive Sorge in den Händen des sozialen Bezugssystems. Diese Helfer leiden oft unter Schlafmangel, hoher emotionaler Belastung und Stress. Zudem vereinsamen viele pflegende Angehörige aufgrund der 24-Stunden-Betreuung. Sie müssen sich mit verlorenen Erinnerungen zurechtfinden – erleben sich darin oft sehr ohnmächtig. Und schließlich können Persönlichkeitsveränderungen dazu führen, schon jetzt Abschied nehmen zu müssen. In diesen Herausforderungen können die Erfahrung von Trost und Kraft aus dem religiösen Glauben pflegende Angehörige in ihrem Einsatz unterstützen und deren emotionales Wohlbefinden fördern. Hier kann auch der Ort zum Ausdruck von Überforderungen sein. Vielfach erprobte Gruppentreffen leisten dazu einen hilfreichen Beitrag (Kotulek 2017). Die daraus erwachsenden positiven Effekte wirken dann wiederum in den Beziehungen zu den demenziell Erkrankten und deren Lebensqualität zurück.

Ertrag

In der Begleitung von Menschen mit demenziellen Veränderungen leistet Seelsorge einen wichtigen Beitrag. Seelsorger/-innen achten darauf, dass die aus christlicher Sicht unverlierbare Würde der Betroffenen im Bewusstsein bleibt. Ein würdevoller Umgang zeigt sich im Zuschnitt liturgischer Feiern, die transzendente Erfahrungsräume erschließen wollen. Über Gesang und Gebet erleben die Menschen ein Gefühl von Teilhabe. Der wache Augenkontakt im Zuge spezifischer Interventionen wie der Einzelsegnung durch Handauflegung oder die Salbung mit Öl lässt erkennen, dass die Betroffenen für einen Moment ganz da sind. Schließlich hat die seelsorgliche Begleitung von Menschen mit demenziellen Veränderungen auch deren soziales Stützungssystem im Blick.

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